In unserer neuen Serie beschreiben Menschen ihr Wohnquartier. Heute, in Teil 2, sagt Gerda Hector: „Ich bin Neugrabenerin!“
Neugraben wächst. Nördlich des Bahnhofs schiebt sich das Neubaugebiet Vogelkamp in die Wiesenlandschaft vor, an der Ecke Francoper Straße/Rehrstieg entsteht eine kleinere Reihenhaussiedlung. Gerda Hector findet das gut. „Da werden viele Familien mit Kindern einziehen – das bedeutet für mich potenzielle neue Schüler.“ Die 57-Jährige ist Musiklehrerin, Spezialgebiet Tasteninstrumente und musikalische Früherziehung. In der Musikschule Hector lernen Knirpse ab vier Jahren spielerisch die Notenschrift und viele Instrumente kennen.
„Hier findet der Unterricht statt.“ Gerda Hector führt in den Keller ihres Hauses am Birkenbruch 16. Es gibt gefärbte Plastikrohre zur Tonerzeugung für die jüngsten Schüler, Klavier, Xylophon, Gitarre sowie drei unterschiedlich große Akkordeons. Und es gibt Pokale. Sie stehen in einer Vitrine, auf Borden und Tischen, silbrig glänzende Zeugnisse der glorreichen Musiker-Laufbahn Fred Hectors. Der wertvollste besteht aus geschnitztem Holz: Bei der vierten Akkordeon-Weltmeisterschaft 1975 in Luzern holte Gerdas inzwischen verstorbener Mann mit seinem Orchester den Sieg nach Neugraben.
Vor genau 50 Jahren, am 1. April 1965, hatte Fred Hector hier seine Musikschule gegründet. Karstadt hatte hier eine Filiale eröffnet, Neugraben versprach ein aufstrebender Stadtteil zu werden. „Der Unterricht hat zunächst in den Räumen verschiedener Schulen stattgefunden, später dann bei uns zu Hause“, erzählt Gerda Hector. Das Paar lebte damals in der Falkenbergsiedlung. „In einem jener kleinen Häuser, deren Fundamente 1944 von tschechischen Jüdinnen aus dem Frauenaußenlager des KZ Neuengamme geschüttet worden waren.“
Trotz der traurigen Gründung ihres Domizils: Die Hectors wohnten gern an der Hangheide, das Wandergebiet Fischbeker Heide und das Ortszentrum lagen ja ganz in der Nähe. Als der Bahnhof und das Süderelbe-Einkaufszentrum gebaut wurden, mietete Fred Hector an der Neugrabener Bahnhofstraße Räume für die Musikschule an, der verkehrsgünstigen Lage wegen. In den 80er und 90er Jahren pulsierte das Leben im und um das nagelneue SEZ. Wenn an Tagen der offenen Tür das Akkordeon-Orchester vor den Läden aufspielte, herrschte Volksfestatmosphäre.
Als die beiden Kinder Nina und Marcus geboren waren, wurde das Wohnhaus in der Falkenbergsiedlung zu klein. 1992 erwarben die Hectors die Doppelhaushälfte, in der die Witwe bis heute wohnt. Birkenbruch, Erlenbruch und Weidenbruch bilden eine Siedlung, die in den 1970er Jahren für Umsiedler aus Altenwerder gegründet wurde. „Vorher lagen hier die Grünkohlfelder der Firma Lüders“, erzählt Gerda Hector.
Die junge Familie empfand die Lebensbedingungen als ideal: Ein ruhiges Wohngebiet mit gepflegten, von Gärten umgebenen Ein- und Mehrfamilienhäusern. Die Straßen verlaufen in Halbkreisen, sodass die Autos langsam fahren müssen. Ein großzügiger Spielplatz und das Naturschutzgebiet Moorgürtel liegen ganz in der Nähe. Die Grundschule der Kinder, Quellmoor, ist quasi um die Ecke. Im Sommer geht es ins nahe gelegene Freibad, im Winter in die Schwimmhalle oder zum Schmökern in die Bücherhalle. „Damals gab es hier auch noch kleine Läden, beispielsweise ein Edeka-Geschäft mit Schlachter“, erinnert sich Gerda Hector.
Die sind zwar verschwunden und auch das Neugrabener Einkaufszentrum hat ihrer Ansicht nach sehr an Attraktivität eingebüßt. Sie fährt zum Einkaufen mittlerweile nach Neu Wulmstorf, wo sie selbst aufwuchs, oder nach Buxtehude. Trotzdem lebt sie noch immer gern hier. Sie mag Spaziergänge entlang der Francoper Straße mit den reetgedeckten Fachwerkhäusern. Eines beherbergt das urige Restaurant „Zur Börse“. „Da kann man sehr gut essen.“ Als Naturfreundin schätzt Gerda Hector die Auswahl zwischen Moor und Heide. Sie genießt es, die S-Bahn in der Nähe zu haben oder in Finkenwerder mal eben auf die Fähre Richtung Landungsbrücken zu steigen. Die Wochenenden verbringt sie gern in Sierksdorf an der Ostsee. Auch dorthin komme sie dank der verkehrsgünstigen Anbindung mit dem Auto binnen einer Stunde, denn sie meide die Hauptverkehrszeiten.
Mit der Nachbarschaft ist sie sehr zufrieden, obwohl die sich in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt hat.Vom sozialen Brennpunkt Neuwiedenthal liest sie nur in der Zeitung. Dabei sind die beiden Stadtteile zusammen gewachsen. Der Rehrstieg bilde die Grenze, glaubt Gerda Hector zu wissen. Der liegt kaum 100 Meter entfernt. Trotzdem: „Von Problemen kriegen wir hier nichts mit.“ Ihre erwachsenen Kinder teilen ihre Liebe zur Musik und zu Neugraben. Nina hat die Mutter mit Klavierunterricht für die fortgeschrittenen Musikschüler unterstützt, solange ihr Medizinstudium das zuließ. Marcus ist Profimusiker mit Schwerpunkt Blasinstrumente. Der Musikpädagoge bläst in verschiedenen Bands, unter anderem beim Shantychor „He lücht und die sailors“, in dem auch Klaus Fürstenberger, Gerad Hectors Lebensgefährte, als Sänger aktiv ist. Marcus unterrichtet in der Harburger Musikschule „Klangfabrik“ Trompete. Auch das Angebot der Musikschule Hector möchte er diesbezüglich erweitern und das Familienunternehmen weiter führen. Vermutlich wird der 25-jährige bald von Hamburg-St. Pauli, wohin er zum Studium gezogen war, nach Neugraben zurückkehren. Er wird nämlich Vater. Und seine Tochter soll in genauso schöner Umgebung aufwachsen wie einst er selbst.