Was war gut, was war schön im Jahr 2014? Gerade die Neujahrsnacht bietet Gelegenheit zur Besinnung und Rückschau, doch auch Herzenswünsche werden gern ausgesprochen.
Harburg. Silvester muss man feiern. Ausgelassen, fröhlich. Auch laut. Auf den Straßen, den Plätzen, am Hafen. Mit Raketen und Böllern – was sonst verboten ist. Silvester ist Ausnahmezustand.
Hotels und Restaurants laden ein zu Silvesterpartys, mit Festtagsmenüs. Gefeiert wird dort mit Freunden. Oder in der Familie. Wie Weihnachten. Silvester will keiner allein sein. Diese Nacht kann schrecklich einsam machen.
Die Schwelle vom alten zum neuen Jahr zu überschreiten, weckt zwiespältige Gefühle. „Was brachte mir das abgelaufene Jahr? Was war gut, was schön? Was nicht?“ Der Ausblick auf das neue Jahr noch im Dunkel. „Was wird werden?“ Das verunsichert.
Daher die Rituale zu Silvester. Das Bleigießen. Die Ansprache der Bundeskanzlerin. Im Fernsehen der Silvester-Running-Gag „Dinner for one – same procedure as every year“. Rituale geben Sicherheit und sie stärken das Wir-Gefühl.
Und dazu die Wünsche. Die Vorsätze. Hoffnungen und Pläne. Die für mich selbst, für die, die mir nahe sind: Gesundheit, Glück, Frieden, Segen… Das klingt formelhaft. Ich habe mich auf den Weg gemacht.
Habe Menschen auf der Straße angesprochen. Auf dem Harburger Rathausmarkt, bin in die Sparkasse in Neuwiedenthal gegangen und in die Apotheke in Neugraben. Allen habe ich zwei Fragen gestellt: „Was ist ihr größter Wunsch für das neue Jahr?“
Die meisten der Angesprochenen wünschten sich Zeit. Mehr Zeit und Gelassenheit in ihrer beruflichen Arbeit und für sich selbst.
Ich traf den Arzt, Allgemeinmediziner: „Ich möchte meine Patienten so behandeln können, wie sie es brauchen. Nicht so gehetzt und so lieblos, wie es das kassenärztliche Management erzwingt.“
Ich spreche eine Altenpflegerin an. Sie arbeitet in einer Seniorenresidenz. „Die Bürokratie hat enorm zugenommen. Aber die Arbeitszeit ist unverändert geblieben. Die vielen Dokumentationen nehmen mir die Zeit für Gespräche und Zuwendung mit den Bewohnern. Das Ziel der Pflege ist doch der Mensch, nicht die aufwendigen Nachweise für die Heimaufsicht.“
Die Sozialpädagogin will ihren besonderen Wunsch verwirklichen: „Ich hoffe, dass ich die Menschen meiden kann, die nur mit heruntergezogenen Mundwinkeln durchs Leben laufen. Und nur schwarz sehen, als gäbe es nichts Schönes und Gutes mehr, wofür sich zu kämpfen lohnt.“
Eine Studentin der Betriebswirtschaft hört das mit: „Ich möchte in Ruhe studieren können. Mich bei den Kunstgeschichtlern umsehen. Ohne ständig Prüfungen zu machen, Punkte hamstern zu müssen.“
Am Ende meines Rundgangs treffe ich einen Lehrer, der Philosophie unterrichtet: „In der letzten Stunde dieses Jahres fragte ein Schüler, was für ein gutes Leben das Wichtigste ist. Meine Antwort: Jeder sollte sich die Frage stellen, wofür es sich zu leben lohnt. Zum Beispiel Freundschaften pflegen. Ein gutes Buch zu Ende lesen. Gegenanleben gegen die oberflächliche Spaßgesellschaft. Öfter mal Pause machen. Sich einen Genuss gönnen, der vielleicht ungesund ist. Der aber Herz und Sinne erfreut.
Ich besuche eine Kollegin in ihrer Kirche. „Ich hoffe, dass das Vertrauen zurückkehrt. Ich erlebe so viel Misstrauen, Angst, Gehässigkeit. Und so viel Böses. Das ist Gift für das Zusammenleben. Ich kann es auch fromm sagen, worauf ich vertraue. Mit dem Glaubensbekenntnis von Dietrich Bonhoeffer: Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.“
Nur auf der Grundlage von solchem Vertrauen ins Leben kann auch Freude am Leben entstehen. Deshalb haben die zitierten Wünsche und Hoffnungen ihren tiefen Sinn, weil sie auf die innere Einstellung zielen.
Und auf die Veränderung des Bewusstseins und des Lebensstils. Ich dachte immer, dass Vorsätze nicht weit tragen. Aber jetzt bin ich vom Gegenteil überzeugt. Nach einer Umfrage schaffte es jeder zweite Deutsche 2014 das Vorgenommene vier Monate und länger durchzuhalten. Das kann 2015 gesteigert werden!
Übrigens: Die geschilderten Wünsche sind nicht ganz frei erfunden. Ich habe mich orientiert an einem Interview mit dem österreichischen Philosophen Robert Pfaller.
Seine Äußerungen habe ich ergänzt. Und sie den von mir Interviewten in den Mund gelegt. Pfaller beklagt die mangelnde Genussfähigkeit der Gesellschaft. Er plädiert für mehr Glücksfähigkeit und dafür, sich Gutes, Schönes und Erfreuliches zu gönnen. Und weniger verbiestert zu sein.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen: Feiern Sie fröhlich und beschwingt Silvester! Und genießen Sie jeden neuen Tag des Jahres 2015 dankbar!
Helge Adolphsen ist emeritierter Hauptpastor der St.-Michaelis-Kirche in Hamburg – dem Michel.