Überlegungen und Gedanken zum Erntedankfest an diesem Sonntag. Der ehemalige Michel-Pastor Helge Adolphsen erzählt von anderen Kulturkreisen, die ähnliche Feste feiern, und einem ungewöhnlichen Geschenk.
Vor einigen Tagen war in dieser Zeitung ein Bild mit dem neuen Vorstand der Hittfelder Landfrauen zu sehen. Die acht Damen lächelten mich fröhlich an. Landfrauen, nicht wie Bäuerinnen mit Kopftuch und Schürze. Sondern attraktiv, alle in weißen Blusen. Kein Wunder. Nur noch 2,4 % aller Erwerbstätigen arbeiten heute in der Landwirtschaft. Vor 100 Jahren waren es noch 75 %. Die Damen so attraktiv wie ihr erstes Jahresprogramm. Sie planen u.a. einen Vortrag zu „Judentum – Glauben, Symbolik, Bräuche, religiöse Pflichten und Feste“.
Ich möchte diesen wissbegierigen Damen gern einen Vorgeschmack auf den Vortrag geben. Mit der Schilderung von jüdischen Erntefesten. Die Juden feiern zwei dieser schönen und fröhlichen Feste. Im Mai bis Juni das Wochenfest. Im alten Israel wurde es mit den Erstlingen der Weizenernte begangen. Die Binderinnen auf den Feldern banden die Garben zu Kränzen. Die Häuser wurden mit vielen Blumen geschmückt. Die Freude über den Erntesegen prägt dieses Fest. Alle Juden ohne Unterschiede des rechtlichen oder sozialen Status wurden einbezogen. Ein großes und alle verbindendes Freudenfest. In dieser Woche wurden alle gesellschaftlichen Barrieren aufgebrochen.
Das zweite Erntedankfest ist das Herbstfest. Es fällt als Lesefest der Körner und der Baumfrüchte auf den jüdischen Jahreswechsel im Herbst. 7 Tage lang wird es als Laubhüttenfest gefeiert. Bei meinen Israelreisen habe ich erlebt, wie provisorische Hütten gebaut wurden, sogar auf vielen Balkonen von Hotels und Wohnhäusern. Das Dach der Laube wird mit grünen Zweigen, Stroh oder Schilfrohr gedeckt. Die Sterne am Himmel scheinen nachts hindurch auf die Familien und geladenen Freunde, die festlich speisen. 7 Tage leben sie in den Hütten. Dieses Fest dankt nicht nur für die Ernte, sondern erinnert auch daran, dass Gott die Väter und Mütter im Glauben in Hütten wohnen ließ, als er sie aus der Sklaverei in Ägypten herausführte in die Freiheit.
Erntedankfeiern gibt es in allen Kulturen und Religionen. Und das seit fünftausend Jahren. Sie machen bewusst, wie abhängig wir von der Natur sind, aber auch wie verbunden wir mit ihr sind. Wir sind nicht die Macher des Lebens. Immer gab es Dankfeste. Dank an die Götter.
Deshalb gibt es die alten Bräuche und Rituale. Sie strukturieren das Jahr mit den Festzeiten, die sich vom alltäglichen Leben abheben. Sie geben dem Jahr einen geordneten Rhythmus. Und sie sorgen für Glücksgefühle. Denn sie stiften und pflegen Gemeinschaft und erneuern das Zusammengehörigkeitsgefühl. Sie sind Oasen mitten im Alltag.
Die Symbole unseres Erntedankfestes sind die Erntekrone und die Umzüge mit Erntewagen, die durchs Dorf bis zur Kirche fahren. Wir danken für die Früchte des Feldes und der Gärten und aller menschlichen Arbeit. Die traditionellen Erntedankgottesdienste unter der Erntekrone und im Blumenschmuck. Mit Kürbissen, Äpfeln, Gemüse und Broten am Altar. Alles Gottesgaben, die die Natur hervorbringt.
In den siebziger Jahren habe ich die Kohlköpfe vom Altar verbannt. Stattdessen lag dort das Modell eines Schiffsrumpfes von der nahe gelegenen Werft. Viele Gottesdienstteilnehmer waren schockiert. Rituale und Bräuche dürfen doch nicht verändert werden! Gerade weil sich so vieles verändert. Das verunsichert. In meiner Predigt habe ich den Dank für die Erntegaben um den Dank für die Produkte von Technik und Industrie erweitert. Die meisten Besucher kamen ins Nachdenken. Und sangen doch wie gewohnt kräftig den Refrain des bekanntesten Erntedankliedes von Matthias Claudius mit: „Alle gute Gabe kommt her von Gott dem Herrn, drum dankt ihm, dankt und hofft auf ihn!“
Ich komme zurück zu den Landfrauen aus Hittfeld. Das hat einen besonderen Grund. Vor einigen Jahren stand am Sonnabend vor dem großen Erntedankgottesdienst plötzlich ein 2,5 m hohes Modell des Michels in der Kirche. Originalgetreu und kunstvoll beklebt mit zigtausenden Körnern. Landfrauen von irgendeinem Ort im Süderelberaum hätten ihn gebracht, hieß es. Aber woher und welche Landfrauen? Das konnte mir niemand sagen.
Nach zehn Tagen mussten wir das schöne Modell entfernen. Die Turmspitze wanderte in die Ausstellung unten in der Krypta des Michels. Nach und nach fielen die ausgetrockneten Körner auf den Boden. Im Advent hatten wir dann – o Schreck! – eine Mäuseplage. Durch die Löcher im Fußboden der Kirche kamen sie sogar ins Kirchenschiff. So haben die Landfrauen aus armen reiche Kirchenmäuse gemacht!
Liebe Landfrauen aus Hittfeld! Heute frage ich Sie: Waren Sie die Schöpferinnen des körnerreichen Michels? Die Mäuseplage haben nicht Sie, sondern wir verursacht. Ich möchte mich doch endlich bei den Landfrauen bedanken können!