Der emeritierte Hauptpastor des Hamburger Michels, Helge Adolphsen, philosophiert heute aus Anlass des Reformationstages über den Reformator Martin Luther, Gewalt und Glauben.
Heute, bald 500 Jahre nach der Reformation, schaue ich auf Denkmale, die an die Gründung evangelischer Kirchen erinnern sollen. Ich fühle mich unbehaglich, wenn ich auf den strammen Luther sehe, mit dem klaren Blick in die Ferne, die Bibel in der linken Hand und die rechte zur Faust geballt. So steht er vor dem Michel und in Wittenberg, dem Ursprungsort der Reformation.
Das ist eine unangemessene Art der Erinnerung an Luther – Heldenverehrung: Luther als Sieger über den Erzfeind in Rom, den urchristlichen Frevler und den ganzen päpstlichen Haufen (O-Ton Luther). In solchem Ungeist wurde vor hundert Jahren „400 Jahre Reformation“ in Deutschland als nationale Jubelfeier zur Verherrlichung der Deutschen Nation gefeiert.
Luther als Nationalheld! Das erinnert an die monumentalen Kriegerdenkmale. Mit Inschriften wie „Gefallen auf dem Schlachtfeld der Ehre“ oder „Gestorben für Kaiser, Volk und Vaterland“. Millionen von Soldaten wurden in Kriegen sinnlos geopfert.
Luther ein deutscher Nationalheld – ein Missbrauch aus heutiger Sicht, genährt von der irrigen Überzeugung, die eigene Religion oder Kirche als die einzig wahre vertreten zu müssen. Solchen Verirrungen von Religion und Glaube liegt ein Streben nach Erfolgen, Siegen und Herrschaft über andere zugrunde, das der Gewaltlosigkeit des Mannes aus Nazareth widerspricht.
Dieser Intoleranz widerspricht auch der Satz „Erfolg ist keiner der Namen Gottes.“ Gewalt an anderen auszuüben, sie besiegen zu wollen besiegen zu wollen und zu Feinden zu machen, das kann nicht mit dem Namen Gottes gerechtfertigt werden.
Im Namen Gottes ist unendlich viel Machtmissbrauch getrieben worden. Vor der Reformation mit den Kreuzzügen und im Kampf zwischen Papst und Kaiser um die weltliche Herrschaft. In der Reformation, in dem Streit um die allein seligmachende Wahrheit und Kirche. Mit Ketzerverbrennungen und Judenverfolgungen.
Mit Luthers verbalen Attacken gegen den Antichrist in Rom und der römischen Replik gegen ihn als den Erzfeind der wahren römischen Kirche. Verbalinjurien, die weit über das Ziel hinausschossen. Auch Worte können zu Waffen werden.
Dennoch ist Luther kein Mann der Gewalt. Das bekannte Reformationslied: „Ein feste Burg ist unser Gott“ redet zwar von „Wehr und Waffen“, aber die werden dann dadurch interpretiert, dass für uns nicht ein Kriegsheld kämpft, sondern Jesus Christus selbst.
Der aber setzt an die Stelle des Schwertes die Worte der Seligpreisung: Selig sind die Sanftmütigen, selig sind die Friedfertigen, selig sind die Barmherzigen. Und das Lied endet mit dem Hauptanliegen Luthers: Das Wort sie sollen lassen stahn. Wort statt Schwert.
Bezeichnend ist, dass dieses Lied heute weithin falsch verstanden wird. Es gilt als Nationalhymne der Protestanten. Ich habe erlebt, dass Gottesdienstteilnehmer sich beim ersten Ton erheben und strammstehen. Wie bei der Nationalhymne. Luther aber hat dieses Lied als Trost und Stärkung für Menschen in Not und Bedrängnis gedichtet. Es ist ein Lied der Zuversicht!
In den Jahrzehnten und Jahrhunderten nach der Reformation ging der Machtmissbrauch der Religion weiter. Die erbitterten Religionskriege zeugen davon.
Ein wichtiges Ergebnis der Reformation ist für mich, dass in Auseinandersetzungen und Streit allein die Argumente und nicht die Waffen zählen. Und dass es keine Denkverbote und fromme Verbotsschilder gibt. Es ist also geboten und notwendig, Irrtümer und Fehler einzugestehen. Und jede Wahrheit, die absolut und exklusiv vertreten wird, kritisch zu befragen.
Wir sind heute in unseren Breiten in Bezug auf die Religion mündig und frei geworden. Wir leben selbstbestimmt, entscheiden selbst. Wir nehmen selbst Verantwortung. Für uns und andere. Wir denken und leben aufgeklärt. In anderen Religionen der Welt sieht das anders aus. Da gelten nicht Argumente und eigene Einsicht, nicht eigenes Gewissen, sondern blinder Gehorsam und oft extrem fanatische Formen von Religion.
Verblendete Gotteskrieger verfolgen und töten Andersgläubige, nehmen Kinder als Geiseln im Namen Allahs, vernichten blindwütig alles, was anderen Menschen heilig ist. Üben Gewalt mit Macheten und Raketen, um einen Gottesstaat zu errichten. Das schreit zum Himmel. Dieser extremistische Islam widerspricht dem Koran.
Dschihad, oder heiliger Krieg ist zuerst der Kampf gegen das Böse im Menschen selbst. Diese Perversion der Religion durch Gewalt ist immer eine Gefahr, weil Menschen verführbar sind. Beim Anblick dieser Fratze von Religion kann ich nur erschauern. Und daran festhalten, was der Mann aus Nazareth dem Menschen als Maßstab für das Leben ins Herz und in den Kopf geschrieben hat: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“