Berufsberater appellieren an Jugendliche und an Personalverantwortliche: eher um Ausbildungen kümmern! Viele wissen außerdem gar nicht recht, was wirklich hinter einem Beruf steckt.
Lüneburg/Winsen. Früher kümmern, eher entscheiden: Das empfiehlt die Arbeitsagentur Lüneburg-Uelzen Jugendlichen und Firmen in Sachen Ausbildungsplätze – vor allem im Landkreis Harburg. Sowohl Schulabgänger als auch Personalverantwortliche sollten sich früher als bislang üblich mit dem Thema beschäftigen und dann auch festlegen. Grund ist vor allem die hohe Auspendlerquote in der Region.
Die liegt im Landkreis Harburg bei 64 Prozent und ist damit die höchste in ganz Deutschland. Nirgendwo sonst arbeiten und wohnen weniger Menschen in derselben Gegend. Für Firmen heißt das: Wer nicht rechtzeitig nach Auszubildenden sucht und wer Bewerber mit seiner Entscheidung zu lange warten lässt, dem könnten die potenziellen Azubis schnell nach Hamburg abwandern.
Denn dort gibt es, anders als in den Landkreisen Harburg und Lüneburg, mehr Stellen als Bewerber – wobei dies in erster Linie für Berufe im kaufmännischen Bereich gilt. Das Handwerk ist da schon wesentlich regionaler verortet.
Exakt 0,48 Berufsausbildungsstellen hat es im vergangenen Ausbildungsjahr im Landkreis Harburg für jeden Bewerber gegeben. 2002 junge Leute haben sich bei der Arbeitsagentur gemeldet, 56 davon waren im September noch unversorgt – und statistisch 1,07 Stellen für jeden von ihnen waren unbesetzt.
Steil angestiegen ist die Zahl derjenigen in diesem Jahr, die keine Lehrstelle ergattert haben. Gleichzeitig verzeichnet die Industrie- und Handelskammer (IHK) Lüneburg-Wolfsburg „auch nach dem Vermittlungsprozess noch ein erhebliches Übergewicht an freien Stellen“, sagte Volker Linde bei der Vorstellung der Zahlen in Lüneburg. Besonders der Handel und die Gastronomie hätten Schwierigkeiten, qualifizierten Nachwuchs zu gewinnen.
Ein Grund hierfür sehen die Berufsberater der Arbeitsagentur unter anderem in der veränderten Einstellung von Eltern und Jugendlichen selbst. Mütter und Väter machten weniger Druck als früher, hat Teamleiter Andreas Rösler beobachtet. Und: „Viele Jugendliche mit einem guten oder sehr guten Schulabschluss haben ein konkretes Ziel vor Augen – und keine Alternativen. Sie warten lieber ein Jahr mit einer Zwischenbeschäftigung anstatt ihre eigenen Prioritäten aufzugeben.“
Andreas Rösler und Volker Linde sagen aber auch: Für eine derart spezielle Suche sei nicht nur viel Selbstvertrauen nötig, sondern auch ein langer Atem. Denn bei besonders beliebten Berufen wie etwa Kaufleute im Einzelhandel haben sich im Landkreis Harburg in diesem Jahr 167 junge Leute auf nur 67 Stellen beworben. Auch für die 124 Bürokaufleute-Bewerber hat es nur einen Bruchteil Plätze gegeben.
Günter Neumann von der Handwerkskammer Braunschweig-Lüneburg-Stade setzt daher auf verstärkte Berufsorientierung: „Die realen Inhalte von Berufen müssen bekannt sein. Das ist bislang nicht immer der Fall.“ Seit die Kammer regelmäßig Jugendliche durch verschiedenen Werkstätten schleust, in denen sie vier Berufe in fünf Wochen kennen lernen können, beginnen mehr Schüler im Anschluss eine handwerkliche Ausbildung, hat er von Schulleitern erfahren. Aber auch Studienabbrecher seien eine Klientel, um die sich die Handwerkskammer kümmern werde. „Denn die werden immer mehr.“ Wer gut sei, könne seine Lehre zudem verkürzen und früher als nach drei Jahren abschließen.
Während die Handwerksbranche mit einer groß angelegten Imagekampagne in den vergangenen Jahren auf sich aufmerksam gemacht hat, hat die IHK so etwas noch vor sich. „Wir haben in Teilbereichen ein Imageproblem“, sagt Volker Linde. „Der Markt dreht sich. Es wird schwieriger, junge Leute anzusprechen.“ Er rät Firmen, flexibler und offener zu werden. „Laut einer Schülerbefragung ist ihnen Qualität der Ausbildung und Wertschätzung der Arbeit wichtiger als das Gehalt.“
Linde verweist auf das aktuellen Ergebnis der PISA-Studie und sagt: „Die Schüler haben einen sensationellen Schritt nach vorn gemacht. Es ist objektiv nicht so, dass die Schulabgänger schlechter geworden sind. Sondern es bewerben sich andere auf dieselben Stellen als früher. Eine Ausbildung gilt nicht mehr als besonders attraktiv.“
Jens Mathias, operativer Geschäftsführer der Arbeitsagentur, verweist auf einen weiteren Aspekt: „Es wird immer mehr zum Standard, nach der allgemeinbildenden Schule auf eine berufsbildende Schule zu wechseln.“ Das Ziel müsse aber sein, die Schulabgänger dem Berufsausbildungsmarkt möglichst früh zur Verfügung zu stellen. Allein: Wer erstmal die Zusage einer Schule hat, sieht sich nicht mehr nach Alternativen wie etwa einer Ausbildung um – und Anmeldeschluss der Schulen ist Ende Februar. Auch daher plädieren die vier Fachleute eindringlich an Schüler und Chefs: früher kümmern, eher entscheiden.
Als sehr erfolgreich bezeichnete Mathias die erste Ausbildungsbörse an einem Sonnabend in Winsen Anfang November. „Da sind viele Eltern mitgekommen. Das war ein bisschen, wie am Wochenende gemeinsam shoppen zu gehen.“