Melitta Stein erzählt Schülern der Stadtteilschule Fischbek-Falkenberg, wie sie KZs in Auschwitz und Neugraben überlebte
Neugraben-Fischbek/Silver Spring. "Haben Sie ihre Erlebnisse schon verarbeitet?", will ein Schüler der Stadtteilschule Fischbek-Falkenberg an diesem Mittwochvormittag von der kleinen Dame wissen. Melitta Stein, 83, geborene Müller, lebt in Silver Spring im US-Bundesstaat Maryland. Sie ist mit ihrer Tochter Daniela Exis, 59, über den großen Teich geflogen und berichtet 100 Neunt- und Zwölftklässlern in der Schulaula über ihr bewegtes Leben. "Es muss heraus", sagt die 83-Jährige, "man kann das nicht für sich behalten. Deshalb gehe ich in Schulen und spreche darüber. Ich lebe damit, aber ich leide nicht darunter."
Melittas Geschichte beginnt vor 83 Jahren im tschechischen Prag. "Ich wurde in eine sehr nette, gute Familie geboren." Ihr Vater leitete in Prag eine Anwaltskanzlei, im Haushalt waren eine Gouvernante, eine Köchin und ein Stubenmädchen tätig. "Wir sind im Urlaub Ski gefahren, haben Tennis gespielt und sind Schwimmen und zur Gymnastik gegangen."
Das Glück der Familie Müller in Prag endet am 15. März 1939: Die deutsche Wehrmacht marschiert in der tschechoslowakischen Hauptstadt ein. "Dann wurde aus dem Linksverkehr Rechtsverkehr", sagt Melitta, "aber das war nicht schlimm." Schlimm war, dass ihr Vater Karl als Jude aus der Kanzlei rausgeworfen wurde und sie einem "arischen" Prokuristen übergeben musste. Die Familie Müller musste ihre große Wohnung verlassen, sie war zu teuer, ihr Dienstpersonal entlassen und bezog eine wesentlich kleinere Wohnung gemeinsam mit einer anderen Familie.
Melittas Schwester Nina durfte nach dem Abitur nicht Chemie studieren, und Melitta musste ihr deutsches Gymnasium verlassen. "Wir hatten Gold, Schmuck, Pelze, Radio und Grammophon abzugeben und den gelben Judenstern auf der linken Seite zu tragen. Vater hat gesagt, 'wenn du den nicht trägst, werden wir alle erschossen'."
Nach dem am 27. Mai 1942, dem Tag des Attentates auf Reinhard Heydrich, dem stellvertretender Reichsprotektor im "Protektorat Böhmen und Mähren", durchsuchten SS-Leute auch ihre Wohnung in Prag. "Die SS-Männer schrien 'Sau-Juden!' und Schlimmeres. Mein Vater hat nicht gedacht, dass er von Deutschen jemals so behandelt wird."
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Es kam immer schlimmer. Die Familie Müller wurde am 2. Juli 1942 in das Getto Theresienstadt verschleppt. "Morgens gab es so etwas, was Kaffee sein sollte, mittags Rübensuppe und abends ein Stück Brot mit Margarine." Am 18. Dezember 1943 wurde die Familie Müller in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert, dort starb Karl Müller am 17. Februar 1944 an einer Lungenentzündung.
"Wir mussten in Auschwitz das gestreifte Zeugs anziehen, und auf unseren Mänteln war auf dem Rücken ein rotes Kreuz. Nach einer Dusche wurden wir kahl geschoren, das war als Frau schrecklich demütigend. Danach wurden wir tätowiert. Ich trage noch immer die Nummer 73183."
Im Juli 1944 wurden über 7000 tschechische Juden aus Theresienstadt in die Gaskammern getrieben. Die Arbeitsfähigen wurden vorher aussortiert, auch die Geschwister Müller und ihre Mutter Margarethe. Der KZ-"Arzt" Josef Mengele fragte auch Melitta nach Namen, Alter und Beruf. "Ich habe Landwirtschaftsarbeiter gesagt und zwei Jahre hinzu gegeben. Dann hat Mengele mit der Peitsche nach rechts oder links gezeigt, er war betrunken."
Die drei Müllers kamen ins KZ-Außenlager Dessauer Ufer auf dem Kleinen Grasbrook im Hamburger Hafen. Die Frauen mussten Ziegel in den zerbombten Ölfabriken sortieren. Margarethe Müller zog sich eine Blutvergiftung zu und starb am 27. Juli 1944.
Die beiden Schwestern kamen in das KZ-Außenlager Neugraben am Falkenbergsweg. Sie produzierten Fertigbauteile und schaufelten Erde für eine Plattenbausiedlung. Die nächste Station ihres Leidensweges war das Außenlager Tiefstaak, wo Nina Müller bei einem Bombenangriff schwer verwundet wurde. Als alle Außenstellen des KZ Neuengamme geräumt wurden, gelangten die Schwestern im April 1945 nach Bergen-Belsen. "Rund 30 000 Tote lagen auf dem Boden, da war nicht ein Tropfen Wasser oder ein bisschen Essen", sagt Melitta. "Einen Tag nach der Befreiung des Lagers durch die Engländer war meine Schwester tot."
So kehrte Melitta als Waisenkind nach Prag zurück. Weil sie nicht noch einmal unter Besatzern leben wollte, emigrierte sie nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei im August 1968. Über Wien und Rom ging es nach Amerika, "wo ich mein drittes Leben lebe".