Wohngebiete im Süden Hamburgs werden allzu schnell als soziale Brennpunkte abgetan. Die Menschen, die dort wohnen, sehen das anders.

Kirchdorf. "Ein Gebirge aus bemaltem Beton", schrieb kürzlich eine Wochenzeitschrift, "zwölf, dreizehn Geschosse, Einheitsbalkone, ein Planungsideal der Siebzigerjahre, eine sozialdemokratische Vision vom ,Schöner Wohnen'". Ein "Planungsverbrechen" befand ein Nachrichtenmagazin, Kaninchenzüchter würden nicht einmal ihre Tiere in den Häusern unterbringen wollen.

Die Rede ist von Kirchdorf-Süd, Heimat für 6000 Menschen zwischen Norder- und Süderelbe, zwischen Otto-Brenner-Straße und der A 1. Bettina Gotfredsen (44) lebt seit 1982 im Viertel. Im elften Stock in einem SAGA-Hochhaus am Dahlgrünring. Die Frau lebt Kirchdorf-Süd. Sie ist Vorsitzende im Bewohnerverein, vertritt SAGA-Mieter, bastelt mit Kindern in der Kinderstube, arbeitet als "Mädchen für alles" im Freizeithaus und putzt sechsmal pro Woche ihr Hochhaus, je vier Stunden lang.

"Meine Familie und ich finden es toll hier", sagt Bettina Gotfredsen, "Kirchdorf-Süd ist schön grün, vieles hat sich zum Positiven entwickelt." Früher fuhren Autos an ihrem Haus vorbei und parkten die Straße voll; heute flanieren Menschen durch einen Grünstreifen, Bäume wachsen, Kinder toben auf Spielplätzen.

Bevor sie nach Kirchdorf-Süd zog, kannte Bettina Gotfredsen die Hochhäuser nur von der Autobahn: "Guck mal, was für ein Getto", sagte sie zu ihrem Mann im Auto. "Aber dann fuhren wir mal her, und es gefiel uns sofort." So tauschte sie eine Einzimmer-wohnung mit Kohleofen in Harburg mit einer hellen Dreizimmerwohnung am Dahlgrünring. Von ihrem Ost-Balkon, dem "Getränke-Balkon" guckt sie über die A 1 - "die höre ich nicht mehr" - bis nach Allermöhe. Vom Westbalkon geht der Blick über Felder nach Harburg, zum Channel Tower, zur Shell-Raffinerie und zur Köhlbrandbrücke. "Silvester ist das einmalig, da bubbert das wie Weltmeister."

Dahlgrünring 2, 13. Stock. Hausbetreuer Wolfgang Krautwurst (59) betritt den Fahrstuhl, es stinkt nach Urin. "Den Geruch kennen wir", bemerken zwei Jungen. "Der Urin kommt in die Ritzen rein, da können die Putzfrauen nichts machen", sagt der Hausbetreuer. Wolfgang Krautwurst macht seine Runde, guckt, ob Müll in den Gängen und Bodenräumen liegt, ob die Lampen funktionieren, ob Einkaufswagen herumstehen. Alles sauber heute.

"Manche Bewohner haben kein Gefühl für das Eigentum", sagt Wolfgang Krautwurst. "Wenn wir nicht saubermachen würden, würde das hier schnell vermüllen." Eine "Sisyphusarbeit", bestätigt seine Chefin, Kathrin Essmann (38), Betriebsleiterin der Quartierspflege. Ein Problem sei aber kaum in den Griff zu bekommen: Ratten. Müll landet neben den Tonnen, und Bewohner füttern Enten - ein gefundenes Fressen für Ratten, die in Gängen unter den Böschungen der Wettern leben, die Kirchdorf-Süd durchziehen. "Wenn es abends dämmert, tummeln sich manchmal bis zu zehn Ratten auf dem Spielplatz."

Auf dem Spielplatz sitzen an diesem Nachmittag sechs Frauen um einen Tisch herum, trinken Tee und essen Kurabiye, selbstgebackene Kekse. Umgangssprache ist Türkisch, mit ein bißchen Deutsch gemischt, wenn die Frauen mit ihren Kindern sprechen. Fünf der Frauen haben drei Kinder, eine zwei. Schon zehn bis 24 Jahre leben sie im Stadtteil.

"Ich liebe Kirchdorf-Süd", sagt Hamdiye (28), "das ist meine Stadt. Meine Verwandten leben hier, und ich kenne die türkischen Frauen. Mein Mann ist hier vor 29 Jahren zur Welt gekommen." Einziger Nachteil: Ihre Tochter spreche "nicht so perfekt Deutsch", in der vierten Klasse der Grundschule An der Burgweide sitzen "nur zwei oder drei Deutsche - für die Bildung ist das nicht gut".

Damit ihre Tochter "bessere Chancen hat", hat Ayse (30) ihre Tochter in der Gesamtschule Harburg angemeldet. Eda (12) sagt, die Hauptschule am Stübenhofer Weg sei "nicht so streng wie die Schulen in der Türkei". "In der Türkei muß man mehr Disziplin haben. Manche Kinder hier haben überhaupt keinen Respekt vor den Lehrern."

Sie habe "in den ersten Monaten Angst gehabt, hierher zu kommen", gesteht Kathrin Essmann von der Quartierspflege. "Der Ruf von Kirchdorf-Süd ist ja nicht so toll, aber die Kriminalität ist hier auch nicht höher als in anderen Stadtteilen." Mit den Hochhäusern habe sie sich immer noch nicht anfreunden können, "das ist mir zu eng, aber mittlerweile sind mir die Leute im Viertel vertraut."

"Für die Kids, die hier groß geworden sind, ist das ganz normal, hier zu wohnen", sagt Thomas Kiendl (50) von der Straßensozialarbeit Kirchdorf-Süd. Ein Großteil der Jugendlichen, die von zu Hause ausziehen, suchen eine Wohnung im Viertel. "Wenn wir Vollbeschäftigung hätten, wäre das ein ganz normaler Arbeiter-Stadtteil. Solange es aber so viele Arbeitslose gibt, bleibt das Viertel ein sozialer Brennpunkt."

Schulschwänzerei sei ein Problem, so Kiendl - "nicht weil die Jugendlichen keinen Bock auf die Schule haben, sondern weil sie den Anschluß verloren haben. Dahinter stehen oft Sprachprobleme und mangelnde Unterstützung im Elternhaus."

Optimistisch in die Zukunft blickt die Leiterin der Kita Otto-Brenner-Straße, Ursula Viereck (50). Kinder aus 26 Nationen besuchen ihren Kindergarten, "85 Prozent haben Migranten-Hintergrund". Die Kita erzieht die Kinder zweisprachig. Weil fast jedes zweite Kind Türkisch spricht, arbeiten in der Kita sieben deutsch und türkisch sprechende Erzieherinnen.

So lerne auch das Kind aus Ghana auf türkisch und deutsch zu sagen: "Laß das sein!" "Wir bekommen hier gesunde und intelligente Kinder, die wir sehr gut fördern können", sagt Ursula Viereck, "wenn sie in die Schule kommen, sind sie altersgemäß entwickelt, auch im sprachlichen Bereich."