Zum 100. Geburtstag des Reit- und Fahrvereins Wilhelmsburg-Kirchdorf ist unter den 250 Mitgliedern nur eine Handvoll Männer

Kirchdorf. Der Regen hatte fast nachgelassen, als auf dem Turnierplatz in Kirchdorf die besten Reiter mit ihren besten Pferden über und auch häufiger in die Hindernisse flogen. Mit dem Zwei-Sterne-M-Springen klangen die zwei Reitsporttage aus, die Turnierchef Yves Harms als "Kirchdorf-Classics - der große Reitsport-Klassiker im Herzen Hamburgs" angekündigt hatte. Und während die letzten 22 Paare in den Parcours gerufen wurden, machte sich Susanne Kaiser, seit drei Jahren Vorsitzende des Reit- und Fahrvereins Wilhelmsburg-Kirchdorf, ihre Gedanken. Ausgerechnet im Jahr des 100-jährigen Bestehens ihres Vereins hatten Regen und Sturm das zum 31. Mal organisierte Turnier ordentlich zerzaust. Fast ein Drittel der angemeldeten Dressur- und Springreiter hatte kurzfristig abgesattelt und war zu Hause geblieben.

"Wir haben das allein schon am Bierausschank zu spüren bekommen", sagt Susanne Kaiser. "Dabei sind wir auf die Einnahmen angewiesen, deshalb machen wir das ja auch schon selbst." Es waren 1911 Wilhelmsburger Bauern, die den Reit- und Fahrverein aus der Taufe hoben. 100 Jahre später ist daraus eine familiäre, verschworene Gemeinschaft von Pferdeliebhaberinnen geworden. Das unter den 250 Mitgliedern nicht einmal mehr eine Hand voll Männer aufsatteln, ist nicht gewollt. "Ich verstehe das selbst nicht", bekräftigt die attraktive Vereinschefin. "Da haben wir so viele junge, hübsche Mädchen im Verein und die Männer bleiben weg."

In der wachsenden Voltigiergruppe gibt es noch den ein oder anderen Jungen. Unter den Privatreitern, die auf der Anlage am Niedergeorgswerder Deich ihre Pferde stehen haben, ist Detlef Martin der einzige männliche Vertreter. Auch für Aus- und Fortbildung der Anfänger und Turnierreiterinnen sind mit Pia Rübsamen und Inken Thomsen zwei Lehrerinnen zuständig. "Die Inken allerdings zieht weg und wird uns zum 1. Juli verlassen", hakt Susanne Kaiser kurz ein. "Vielleicht können wir ja einen Mann als neuen Reitlehrer gewinnen".

Für Susanne Kaiser, die waschechte Wilhelmsburgerin, war es schon als kleines Mädchen ein Traum, ein eigenes Pferd zu besitzen. 16 Jahre ist es her, da hat sie ihre Sehnsucht in die Tat umgesetzt. Seit dem gehören Pferde und der Verein zu ihrem Leben. Tochter Janina Teege war zehn, als sie von der Mama in den Sattel gehoben wurde. "Zuerst wollte ich gar nicht", erzählt die inzwischen 21-jährige. "Aber ich konnte unser Pferd ja nicht im Stall stehen lassen, wenn die Mama keine Zeit hatte."

Inzwischen ist für die Studentin und angehende Lehrerin jeder Tag ein verlorener Tag, an dem sie nicht im Stall mit ihrem Pferd arbeiten kann. Sie hat in diesem Jahr das große Reitabzeichen gemacht, ist damit von der untersten, der Leistungsklasse sechs, in die fünf aufgerückt. Seitdem kann Janina Teege mit ihrem Fuchs-Wallach Welano in der Dressur in L-Prüfungen starten. Und da wurden die beiden im heimischen Viereck schon mal Vierte. "Für mich ist das mehr als ein Hobby, für mich ist das schon eine Sucht geworden. Die Stunde, die ich täglich mit Welano Dressuraufgaben einübe, ist für mich der Ritt in eine andere Welt. Ich vergesse alles andere, konzentriere mich nur auf das Zusammenspiel mit dem Pferd."

Auch wenn der zehnjährige Wallach freundlich und ausgesprochen brav ist, er kann seine Chefin im Sattel auch richtig ärgern. Denn der Fuchs ist nicht nur brav, sondern auch gemütlich und ein bisschen faul. "Als neulich eine Pferdewaage hier war", erzählt die Tochter der Vereinsvorsitzenden, "bin ich ein bisschen erschrocken. Mein Pferd wiegt 740 Kilo. Der Bursche ist zu dick." Und muss jetzt fasten.

In den insgesamt 21 Prüfungen, bei denen es an den beiden Tagen etwa 900 Starts gab, war ein Sieg für die Wilhelmsburger Reiter herausgesprungen. Sandra Oberkofler gewann bei den über 18-jährigen eine Dressurprüfung der Klasse E. Die Erfolgreichste in der Wilhelmsburger Frauengemeinschaft wiederum war Martje Dreessen, 28-jährige Studentin der Bioverfahrenstechnik an der TU Harburg. Sie wurde mit ihrem Broadway Dancer Zweite in einem A- und in einem L-Springen. Beim Höhepunkt der Kirchdorf-Classics, der Zwei-Sterne-M-Prüfung hatte es kein Stechen gegeben, denn Sieger Claus-Heinrich Bohlmann (Helmstorf) blieb mit Genesis als einziger ohne Abwurf.

Auch wenn sie und ihre vielen Helfer fürs Traditionsturnier viel Anerkennung und Lob mit in das Vereinsjahr 101 mitnahmen, es bleiben viele Sorgen, vor allem die um den defekten Traktor. "Der ist aus den 50er-Jahren, und ich weiß nicht, wie wir das Geld für einen neuen aufbringen sollen." Vielleicht findet sich ja noch ein Liebhaber alter Traktoren, der Abhilfe schaffen kann.