Kinder, deren Mütter überfordert sind und sie nicht versorgen können, bekommen in Harburg vorübergehend ein Zuhause.

Harburg. Liebevoll hält Marlis Kisker den kleinen Simon im Arm. Der Kleine ist ein halbes Jahr alt und gerade vom Mittagsschlaf aufgewacht. Marlis Kisker hat ihn aus dem gelben Himmelbettchen geholt und trägt ihn durch das Zimmer, Simon guckt dabei mit großen Augen auf den Besucher - ganz normaler Familienalltag zwischen Säugling und Mama, so könnte man meinen. Aber Marlis Kisker (54) ist nicht Simons Mutter, sondern seine Erzieherin. Und Simon hat in Wirklichkeit einen ganz anderen Vornamen, den wir aber nicht nennen, weil Simon im Kinderschutzhaus am Eißendorfer Pferdeweg lebt.

Simons Mutter lebt im Bezirk Harburg und kommt mit ihrem Leben nicht klar. So kam der Kleine in die Jugendstilvilla mit dem großen Garten und den riesigen Rhododendronbüschen. Ein wunderschönes Haus, diese "Palmsche Villa", in dem einst ein Harburger Industrieller mit seiner Familie lebte. Später diente das Haus als Waisenhaus, nach dem Zweiten Weltkrieg logierte hier die britische Kommandantur. Als die Briten abzogen, wurde aus der Villa wieder ein Kinderheim. Seit September 2005 leben hier im obersten Stockwerk bis zu sieben Kinder im Alter von wenigen Tagen bis zu sechs Jahren im Kinderschutzhaus Harburg des Landesbetriebes Erziehung und Berufsbildung. Betreut werden sie rund um die Uhr von fünf Erzieherinnen, zwei Hauswirtschaftskräften und einer Koordinatorin.

"Wir bekommen zunehmend Kinder von psychisch kranken Müttern, die sich überfordert fühlen", sagt Brigitte Stobbe (55), Abteilungsleiterin der Jugendhilfeabteilung Harburg. "Wir nehmen Kinder auf, deren Versorgung und Betreuung im Elternhaus nicht möglich ist." Ursachen für eine Aufnahme im Kinderschutzhaus sind auch "Vernachlässigung, Vermüllung von Wohnungen sowie Alkohol- und Suchtabhängigkeit der Eltern". Es kommen auch Kinder, die geschlagen oder sexuell mißbraucht wurden.

Rund 25 Kinder kommen jährlich ins Kinderschutzhaus - im Kleinkinderhaus an der Cuxhavener Straße 305 ist Platz für weitere acht Kinder ab drei Jahren. Im Kinderschutzhaus bleiben sie zwischen einem Tag und einem Jahr - im Durchschnitt ein halbes Jahr. "Die Kinder sollen so kurz wie möglich und so lange wie nötig bei uns bleiben", sagt Brigitte Stobbe. Etwa die Hälfte der Kinder werde von den Eltern auf Antrag beim Jugendamt gebracht, bei den anderen erfolgt die "Inobhutnahme" gegen den Willen der Eltern.

"Die Trennung so kleiner Kinder von der Mutter ist immer ein sehr erheblicher Eingriff", sagt Brigitte Stobbe, "deshalb ist der erste Schritt vor einer Inobhutnahme immer eine Erziehungsberatung, die Unterstützung einer Kindertagesstätte oder eine Familienhilfe."

"Oberste Prämisse für uns ist es, die Kinder zurück zu den Eltern zu führen", sagt Brigitte Stobbe. "Die Eltern sind die wichtigsten Personen für die Kinder, auch wenn sie vorher nicht immer gut zu ihnen waren." Deshalb bemühen sich die Erzieher im Kinderschutzhaus, die Eltern von Anfang an mit einzubeziehen. Dabei arbeiten sie zusammen mit dem Kinderschutzzentrum im Nebengebäude und mit der Familienberatung.

So sind die Mütter und Väter im Kinderschutzhaus jederzeit willkommen. "Wir wollen ihnen die Elternverantwortung nicht nehmen", sagt Kinderschutzhaus-Koordinatorin Bettina Schütze (42). Manche Mütter kommen zum Stillen oder Füttern. Andere begleiten ihre Kinder zum Arzt oder bringen sie ins Bett. An diesem Nachmittag sitzt eine Mutter mit ihrer Tochter (4) am großen Tisch und ißt mit ihr Kuchen.

Viele der sehr jungen Mütter haben selbst "als Kinder oft negative Erfahrungen in der eigenen Familie gemacht", sagt Brigitte Stobbe. "Oft müssen sie erst lernen, wie sie ihr Kind richtig versorgen und mit ihm spielen." Der Tagesablauf im Kinderschutzhaus ist stark strukturiert: Frühstück gibt es um 7.30 Uhr, Mittag um 12 Uhr und Abendbrot um 18 Uhr. Von 13 bis 14.30 Uhr schlafen die Kinder. Jedes Kind hat eine Bezugserzieherin; die Kinder schlafen zu zweit in einem Zimmer.

Nicht immer klappt es, daß die Kinder zurück in ihre Familien kommen. Etwa ein Drittel der Jungen und Mädchen kommen nach ihrer Zeit im Kinderschutzhaus in eine Pflegefamilie oder in eine sogenannte Lebensgemeinschaft mit einem professionellen Erzieher.