Neuwiedenthal feierte am Sonnabend sein Dorffest - ein friedlicher Mix aus zahlreichen Kulturen
Neuwiedenthal. Kinder laufen lachend durcheinander, lassen sich zum Tiger oder Schmetterling schminken, unter Zeltdächern haben Vereine und Verbände Spiele aufgebaut. Eltern stehen zusammen, unterhalten sich. Manche haben es sich auf den aufgestellten Bänken gemütlich gemacht. Es gibt Kaffee und Kuchen. Eine Band spielt. Viele der Besucher haben eine dunkle Augenfarbe, ihre Haare sind braun oder schwarz, die Frauen tragen Kopftuch. Hinter der Festwiese erheben sich die grauen Hochhausriesen. Am Sonnabend wurde am Rehrstieg Ecke Striepenweg das traditionelle "Dorffest" gefeiert, mit fast 2 000 Besuchern - nur wenige Schritte von der Stelle entfernt, wo am 26. Juni 30 Jugendliche fünf Polizisten angegriffen hatten. Danach wurde der Harburger Ortsteil von vielen als "Problemviertel" ja sogar "Getto" betitelt. Steht einem nach so einem Ereignis überhaupt der Sinn danach zu feiern?
"Schauen Sie sich doch um", sagt Antje Jaeger, "der Platz ist voll. Die Leute haben Spaß, und alle sind friedlich." Vor 40 Jahren hat die Zahnärztin ihre Praxis in Neuwiedenthal eröffnet. Ihre Kinder sind hier zur Schule gegangen. "Der Ortsteil ist viel unproblematischer, als er immer dargestellt wird", so Antje Jaeger. Sie fühle sich hier wohl.
Rund 13 500 Menschen leben in Neuwiedenthal. Es gibt 3113 Sozialwohnungen, die Arbeitslosenquote liegt bei 13, der Migrantenanteil bei 16,3 Prozent. Menschen aus 80 Nationen wohnen hier, viele Türken, Russen und Ukrainer.
Reyhan Sahin, 40, lebt schon lange mit ihrem Mann und ihren Kindern im Rehrstieg. Natürlich habe sie im Juni von dem Überfall gehört. Aber mit ihrer Familie habe das nichts zu tun, genauso wenig wie mit den meisten anderen Familien im Viertel. "Wir wollen einfach nur in Frieden leben", so die Mutter. Und das könne man auch in Neuwiedenthal. Andrea Sulewski nickt. Die 42-Jährige leitet die Kita am Quellmoor, Rehrstieg 63. "Als ich hier angefangen habe, war ich sehr positiv überrascht über das friedliche Zusammenleben der vielen unterschiedlichen Kulturen", so Andrea Sulewski, die jeden Tag zwischen Neuwiedenthal und ihrem Wohnort Meckelfeld hin und her pendelt. Die Kitaleiterin legt besonders großen Wert auf eine frühe Sprachförderung ihrer Schützlinge, so dass die ausländischen Kinder schnell Deutsch lernen. "So ein Überfall kann auch in Meckelfeld passieren. Nur dort würde er als Einzelfall abgetan, hier wird ein ganzes Viertel stigmatisiert."
Auch Andrej Reut hat keine Angst, wenn er morgens in Neuwiedenthal in die S-Bahn steigt. Der 17-Jährige wohnt in Hausbruch. Am Sonnabend ist er zum Rehrstieg gekommen, um sich das Fest anzusehen. "Ein Monat war der Überfall Thema, danach sprach keiner mehr darüber", sagt er.
Gerhard Stolberg fällt in seiner blauen Uniform sofort auf - Kinder zupfen ihn am Ärmel, eine alte Dame fragt ihn, ob er ihren Enkel gesehen hat. Man kennt sich. "Wenn man so lange in einem Viertel Dienst gemacht hat, fühlt man sich verbunden", sagt der Polizeibeamte. Seine Dienststelle: Das Polizeikommissariat 47, Neugraben. Auch er hat für das Fest einen Kuchen gebacken. Gerhard Stolberg: "Es tut mir leid für Neuwiedenthal, das jetzt wieder so negativ berichtet wird. Nach dieser Sache damals ist so viel Positives erreicht worden." Wenn Gerhard Stolberg von "der Sache" spricht, meint er den Selbstmord von Mirco Sch. Im Januar 1997 hatte sich der Jugendliche vor die S-Bahn geworfen. Er war über längere Zeit erpresst und bedroht worden. Eine Verzweiflungstat. Die Neuwiedenthaler waren geschockt. Damals ging ein Ruck durch das Viertel - es sollte sich etwas verändern. Die Pastorin Susanne Lindenlaub-Borck rief mit anderen Menschen den Förderverein Neuwiedenthal ins Leben, sie eröffnete ein Jugendcafé. Und auch die Stadt steckte Millionen in sogenannte Revitalisierungsmaßnahmen - von 1995 bis heute rund 4,7 Millionen Euro. Im Rahmen der Stadtentwicklung wurden Spielplätze gebaut, eine Inliner- und Skateboard-Anlage geschaffen. Es gibt ein Haus der Jugend, einen Mädchentreff, das Stadtteilhaus und das Jugendcafé. Auch die Neuwiedenthaler selbst engagieren sich sozial und zwar in einem solchen Maße, dass dafür ein Preis ins Leben gerufen wurde: Jedes Jahr wird der "Neuwieden-Taler" verliehen. Eine, die ihn schon bekommen hat, ist Ursel Hörnig. Jede Woche gibt die 81-Jährige Schulaufgabenhilfe im Stadtteilhaus und erzählt Märchen in der Kita Hotzenplotz. Auch sie wollte sich das bunte Treiben auf dem Dorffest nicht entgehen lassen. Ursel Hörnig: "Nein, von dem schrecklichen Überfall merkt man hier nichts mehr, und das ist auch gut so."