Das Zentrum des Stadtteils Harburg ist nicht barrierefrei, kritisieren der Seniorenbeirat und die Arbeitsgemeinschaft der Behinderten.
Harburg. "Wanderer, kommst du nach Harburg, darfst du nicht blind sein", sagt Andreas Schmeldt, der sich mit seinem Blindenführhund Hektor an der Moorstraße zu einem ungewöhnlichen Stadtrundgang eingefunden hat. Gemeinsam mit Friedrich-Wilhelm Jacobs vom Seniorenbeirat und Birgit Przybylski von der Behindertenarbeitsgemeinschaft sowie Kai Wolkau, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Grünen, will er erkunden, ob die Innenstadt barrierefrei ist. Mit von der Partie ist außerdem Birgit Przybylskis Tochter Elvira, die mit einer Spezialbrille, die ihre Sehfähigkeit einschränkt, einen Selbstversuch startet.
+++Behinderte haben keine Lobby+++
Eigentlich wurden von der Politik im aktuellen Haushalt 22.000 Euro zur Verfügung gestellt, um behinderten Bürgern den Alltag in Harburgs Straßen leichter zu machen. Überraschenderweise wurde dieses Geld von der SPD-Mehrheitsfraktion erst mal zurückgestellt.
Dabei lauern in der Innenstadt viele Stolperfallen. Auch entlang der Moorstraße. So wollen Schmeldt und Hektor an den abgesenkten Bordsteinen die Straße überqueren. Schmeldt hat einen Stock mit einer Rollkugel dabei, mit der man die Tiefe von Absätzen, Bordsteinen und Treppenstufen erkunden kann. "Hier ertaste ich gar nichts. Die Bordsteine an den Überquerungsmulden bilden eine Flucht mit dem Fahrbahnbelag, ich weiß nicht, wo der Fußgängerweg aufhört und die Straße beginnt." Den Radweg bemerkt er. "Aber ich kann wegen des Straßenlärms nicht hören, ob ein Radler angefahren kommt. Da muss ich mich auf Hektor verlassen."
Auch das Hinweisschild, das auf die Überquerungsmulde hinweist und Rücksicht für Fußgänger fordert, kann er verständlicherweise nicht sehen. Außerdem steht es mitten im Muldenbereich, sodass Schmeldt Gefahr läuft, dagegen zu prallen. "Hier könnten geriffelte Steine und eine niedrige Bordsteinkante hilfreich sein", sagt Jacobs. Schmeldt indes verlässt sich auf sein Gehör. Als es ihm ringsherum still genug erscheint, überquert er mit Hektor zügig die Moorstraße. Elvira hat Angst bekommen. "Ich höre immer noch ein Rauschen, sehe nur verschwommen, was auf der Straße passiert." Als sie fast mit dem Hinweisschild kollidiert und dann auch noch ein Bus herangefahren kommt, hakt sie sich lieber bei ihrer Mutter ein. Auch Wolkau, der sich ebenfalls eine Spezialbrille aufgesetzt hat, zögert beim Überqueren der Straße. Immerhin macht er eine positive Erfahrung. Ein Harburger eilt zu ihm und bietet seine Hilfe an.
Nachdem diese Hürde geschafft ist, sind alle erleichtert. Elvira atmet erst einmal durch. Dann geht es zum Harburger Ring. Schlecht verlegtes Pflaster, Verkaufsständer und Stühle auf dem Fußweg bereiten ihr Schwierigkeiten. Schmeldt unterdessen ist den Stolperparcours schon gewohnt. Zügig eilt er mit Hektor zur Ampel. Dort wird es eng. Bis an den Fahrradweg stehen beim Café Central Tische und Stühle. Hektor lässt sich davon nicht beeindrucken. Brav führt er sein Herrchen vor die Ampel. "Es ist leider keine Signalampel. Also muss ich mich auch hier auf mein Gefühl verlassen, wenn ich über die Straße will." Er merkt zwar, dass Passanten die stark befahrene Kreuzung überqueren. "Doch einige gehen ja auch bei Rot rüber. Das ist zu gefährlich für mich." Also wartet Schmeldt. Und wartet. Denn der Feierabendverkehr lässt keine Lücke.
Schmeldt will in den Gloria-Tunnel und traut sich die Treppenstufen am Harburger Ring herunter. Schon wer ihm beim Tasten mit dem Stock zusieht, bekommt Zweifel. "Die Treppen sind steil, die dicke weiße Farbschicht, die den Beginn des Abgangs anzeigen soll, ist verschwunden, und außerdem senken sich die Stufen nach unten ab", sagt er. Er meistert sie nur recht flott und unfallfrei, weil er sie schon seit Jahren kennt. Elvira hingegen sieht nur einen schwarzen Schlund. Die Stufen nimmt sie verschwommen war, etwa wie ein Wasserfall in die Tiefe, ohne Konturen. "Da traue ich mich nicht allein runter", sagt sie. Als sie unten ist, läuft sie einmal fast gegen einen Poller - keine Markierung weist sie auf die in der Mitte des Tunnels befindlichen Betonsäulen hin.
Endlich auf der Lüneburger Straße, lauern schon die nächsten Gefahren. Denn mittig wechselt das Pflaster. "Das ist für sehbehinderte Personen missverständlich. Sie halten dies für einen Hinweis, hier barrierefrei entlanggehen zu können", sagt Birgit Przybylski. Doch stehen dort Bänke, Mülleimer, Schilder und Bäume. Auch hier ist Hektor seinem Herrchen Schmeldt eine große Hilfe, da der Hund ihn um all die Hürden herumlotst.
Zügig läuft Elvira auf den Schacht zur S-Bahn Harburg-Rathaus zu. "Ich kann nicht ertasten, wann die Treppen kommen", sagt sie. Die gelb gestrichene Linie auf der Eingangsstufe ist ausgeblichen, es gibt keine Riffelsteine. "Hier sind tatsächlich schon einige Sehbehinderte gestürzt", sagt Schmeldt. Er steuert auf den Max-Schmeling-Park zu. "Eigentlich ist man ja froh, dass hier keine Gefahren durch den Straßenverkehr lauern", sagt er. Allerdings bemerkt er nur dank Hektor die hohe Stufe, die zum archäologischen Museum führt. Elvira kann sie nicht sehen.
Sogar der Brunnen mit der Robben-Skulptur bereitet Sehbehinderten Schwierigkeiten. "Es gibt keine wahrnehmbare Kante, man läuft ins Wasser", sagt Schmeldt. Für Wolkau der Gipfel der Diskriminierung von Behinderten in Harburg: "Es ist wirklich schon menschenverachtend." Hier also könnte eine Barriere nicht schaden. Die Liste der Mängel ließe sich nach Schmeldts Auffassung fortsetzen. So gibt es in Harburgs Ämtern an den Wänden keine Markierungen, anhand derer die verschiedenen Bereiche für Blinde kenntlich gemacht seien. "Und nicht einmal an der Knoopstraße vor den neuen Bürgerservice-Zentrum gibt es eine Signalampel", sagt er.
Wolkau schüttelt den Kopf. Bereits 2010 seien von der Bezirksversammlung 174.000 Euro für mehr Barrierefreiheit im öffentlichen Raum bereitgestellt worden. Innerhalb von mehr als zwei Jahren habe es die Verwaltung nicht geschafft, diese Finanzen dafür auszugeben, die Hürden des Alltags für die Schwächsten zu mindern. Seniorenbeirat und Behindertengemeinschaft sollten in die Planungen einbezogen werden. Das sei offenbar nicht geschehen. "Immerhin hätte man von diesem Geld wenigstens Signalampeln anschaffen können", sagt Jacobs. Elvira ist geschafft. Erleichtert setzt sie die Brille ab. "Ich kann verstehen, wenn sich einige sehbehinderte Harburger auf dieses Abenteuer nicht einlassen und selten aus dem Haus gehen. Das ist schon sehr traurig."