Hamburg. Die Richter geben der Stadt recht. Bürgermeister Olaf Scholz sieht „Nervenstärke“ bestätigt. Anwohner wollen weiter kämpfen.
Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, kurz OVG, den Baustopp für die Flüchtlingsunterkunft im Stadtteil Klein Borstel aufzuheben, ist von den Beteiligten unterschiedlich bewertet worden. Während Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz die Entscheidung begrüßte, äußerte die Bürgerinitiative „Lebenswertes Klein Borstel“ ihr Bedauern.
Das OVG hatte zuvor den vom Verwaltungsgericht verfügten Baustopp aufgehoben und damit einer Beschwerde der Stadt Hamburg stattgegeben. Die Behörden planen auf der Fläche des früheren Anzuchtgartens des Friedhofs Ohlsdorf die Errichtung einer Unterkunft für 700 Flüchtlinge und beruft sich auf Ausnahmeregelungen im Baugesetzbuch.
Anwohner hatten gegen die Baugenehmigung für die Flüchtlingsunterkunft geklagt. Sie seien nicht grundsätzlich gegen ein Flüchtlingsdorf, hielten aber die Unterbringung von 700 Flüchtlingen auf so engem Raum für falsch, hieß es zur Begründung. Hamburgs Flüchtlingskoordinator Anselm Sprandel kündigte an, dass das städtische Unternehmen „Fördern & Wohnen“ die Einrichtung nun zügig weiterbauen werde.
Richter: Anwohnerrechte werden nicht verletzt
Die Oberverwaltungsrichter gaben der Stadt recht, weil aus ihrer Sicht die Rechte der Anwohner durch die Baugenehmigung nicht verletzt würden. So hätten die Nachbarn keinen Anspruch darauf, dass das Gelände auch künftig der Anzuchtgarten für den Friedhof Ohlsdorf bleibe.
Ferner befanden die OVG-Richter, dass mit der Einrichtung einer Folgeunterbringung für Flüchtlinge keine Störungen verbunden seien, „die die Antragsteller in der Nutzung ihrer Grundstücke rücksichtslos beeinträchtigen“. So seien beispielsweise unzumutbare Lärmemissionen nicht zu erwarten.
„Es ist gut, dass wir unseren Mut und unsere Nervenstärke bestätigt finden“, sagt Bürgermeister Olaf Scholz. Man sei immer der Hoffnung gewesen, am Ende auch Erfolg zu haben. „Und zwar mit unserem Vorgehen, das darauf beruht, dass wir gesetzgeberische Innovationen, die wir im Deutschen Bundestag zur Bewältigung der Flüchtlingskrise geschlossen haben, auch tatsächlich anwenden dürfen.“ Der Senatschef hofft, die OVG-Entscheidung werde helfen, „die unverändert notwendige Konsensbildung in der Stadt voranzutreiben“.
Olaf Peter, Vorsitzender des Vereins Lebenswertes Klein Borstel, kündigte an, man werde den politischen Widerstand gegen große Einrichtung fortsetzen. Er kritisierte die hohen Kosten für die geplante Flüchtlingsunterkunft. „Anstelle Menschen für 18 Millionen Euro in Containern unterzubringen, lässt sich für weniger Steuergelder städtebaulich und handwerklich qualitativ hochwertiger Wohnraum schaffen, von dem alle profitieren.“
Die Initiative hat im Februar eine eigene städtebauliche Konzeptstudie vorgelegt, die eine rasche Unterbringung von 125 Flüchtlingen auf einer Teilfläche sowie zusätzlich sozialen und freifinanzierten Wohnungsbau vorsieht. „Wir wehren uns gegen die Schaffung einer viel zu großen und zeitlich unbefristeten Folgeeinrichtung am Anzuchtgarten“, erklärte Peter. „700 Flüchtlinge und 800 unmittelbare Anwohner, darunter 400 Kinder – da wird erfolgreiche Integration sehr schwierig.“
Konsequenzen für Expresswohnungen unklar
Unklar ist, ob die am Mittwoch veröffentlichte Entscheidung des OVG auch für den Bau von Expresswohnungen für Flüchtlinge wegweisend ist. Nach den Worten der Gerichtssprecherin mussten die Ausnahmetatbestände im Baugesetzbuch im vorliegenden Fall vom Gericht nicht umfänglich nicht geprüft werden.
Hamburg plant den Bau von 4800 sogenannten Expresswohnungen für Flüchtlinge. Um deren Errichtung auf Flächen, die bislang nicht für den Wohnungsbau vorgesehen waren, zu ermöglichen, wendet die Stadt weitreichende Ausnahmegenehmigungen im Baurecht an. Diese war im Herbst vergangenen Jahres vom Bundestag und Bundesrat beschlossen worden. Strittig ist vor allem die Auslegung dieser Ausnahmeregelungen durch die Stadt.
Die Volksinitiative „Hamburg für gute Integration!“ hatte im Februar innerhalb von fünf Tagen mehr als 26.000 Unterschriften gegen die Unterbringung von Flüchtlingen in Großunterkünften sammeln können. Im Kern geht es den Initiatoren darum, Flüchtlinge nur dezentral und in kleineren Unterkünften anstatt in Großsiedlungen unterzubringen. Eine erfolgreiche Volksinitiative ist Voraussetzung für ein Volksbegehren und einen Volksentscheid. Inzwischen SPD und Grüne sowie Vertreter der Volksinitiative miteinander.
Stadt wieder vor Gericht erfolgreich
Die OVG-Entscheidung vom Mittwoch ist die zweite Entscheidung innerhalb weniger Wochen, mit die Rechtsauffassung der Stadt bestätigt wird. Mitte April hatte das OVG bereits einen Baustopp für die Flüchtlingssiedlung Fiersbarg in Lemsahl-Mellingstedt aufgehoben. In der Unterkunft sollen für 252 Flüchtlinge untergebracht werden. Auch in diesem Fall hielten die Richter die Auswirkungen der Unterkunft – zum Beispiel durch Lärm oder Verkehr – auf die Nachbarschaft für zumutbar. Allerdings machte das OVG zugleich deutlich, dass in Fiersbarg lediglich mobile Unterkünfte für 252 Flüchtlinge für einen Zeitraum von maximal drei Jahren errichtet werden dürften.
Unterdessen geht die Zahl der Flüchtlinge, die nach Hamburg kommen, seit Jahresbeginn kontinuierlich zurück. Im April wurden in der Hansestadt Hamburg 567 Asylsuchende zugewiesen – so wenige wie nie seit Beginn der Krise Mitte 2015. Die meisten Flüchtlinge – 166 Menschen – stammten aus Afghanistan. 111 Flüchtlinge kamen aus Syrien, 49 aus dem Irak. Insgesamt mussten in der Hansestadt in den ersten vier Monaten 5066 Flüchtlinge versorgt werden. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle im November 2015 lag deren Zahl bei 3987.