Hamburg. Die Seniorin soll schwer an Demenz erkrankt gewesen sein. Der Angeklagte sagt vor Gericht: „Die Initiative ging von ihr aus.“
Für die Pflegekraft war es „der Schock meines Lebens“. Als sie in das Zimmer einer 88 Jahre alten Bewohnerin eines Altenheims in Hamburg-Alsterdorf kam, war sie in eine extrem unerwartete Szenerie hineingeraten: Da stand ein junger Mann, der sich die Hose richtete – und die betagte Bewohnerin lag nackt auf dem Bett. Die Pflegekraft meldete den Vorfall unverzüglich ihrer Chefin. „Sie war außer sich und hat gezittert“, beschreibt die Pflegedienstleiterin den Gemütszustand ihrer Mitarbeiterin.
Mittlerweile sind die Geschehnisse vom 7. September 2022 ein Fall für das Gericht. Denn die 88-jährige Martha S. (alle Namen geändert) war offenbar schwer an Demenz erkrankt. Hat sie überhaupt richtig erfassen können, was mit ihr geschah, als ein 26-Jähriger mit ihr Sex hatte? Ist sie womöglich nicht in der Lage gewesen, eine eigenständige Entscheidung zu bilden und sich eventuell zur Wehr zu setzen? Davon geht die Staatsanwaltschaft im Prozess gegen Tarek M. aus. Dem jungen Altenpfleger wird Vergewaltigung vorgeworfen.
Prozess Hamburg: Angeklagter räumt Sex mit dementer Seniorin ein
„Es ist richtig, dass wir Geschlechtsverkehr hatten“, räumt der Angeklagte zu Beginn der Verhandlung über seinen Verteidiger ein. Tarek M. ist ein schmaler junger Mann mit Dreitagebart, der so aussieht, als wünsche er sich ganz woanders hin – und nicht in einen Verhandlungssaal, wo er vor mehreren Leuten darstellt, dass er tatsächlich intim mit einer mehr als 60 Jahre älteren Frau war.
Er sei bereits längere Zeit als Altenpfleger für Martha S. zuständig gewesen und habe sich um sie gekümmert, als sie noch zu Hause lebte. Nach ihrem Umzug in ein Pflegeheim in Alsterdorf habe er sie mehrfach besucht, weil sie ihn darum gebeten habe.
Angeklagt wegen Vergewaltigung – „Ich habe sie für jünger gehalten“
Die Initiative, miteinander Sex zu haben, sei von der Seniorin ausgegangen, schildert der 26-Jährige. „Sie war zwar etwas tüdelig, konnte aber durchaus eigene Entscheidungen treffen.“ Das Verhältnis zwischen der alten Dame und sich beschreibt der Angeklagte als freundschaftlich und vertrauensvoll. Er habe sie für jünger gehalten, als sie war, „eher Anfang 80“.
Die Seniorin habe sich gern mit ihm unterhalten und ihm viel aus ihrem Leben erzählt, auch von ihren Sorgen und ihrer Einsamkeit, die für die 88-Jährige immer belastender geworden sei, seit ihr Ehemann verstarb. Wenn er zu ihr ins Altenheim kam, habe er seine „professionelle Distanz immer mehr aufgegeben“, erzählt der Angeklagte. „Ich war jetzt der Besucher, nicht mehr ihr Pfleger.“
Altenpfleger hat Sex mit Seniorin: „Sie wollte mit mir Geschlechtsverkehr“
Ein Spaziergang im Garten, dann ein Plausch auf dem Balkon: Zunächst sei an jenem 7. September 2022 alles ganz unverfänglich gewesen, heißt es in der Darstellung des 26-Jährigen. Dann habe sich Martha S. an ihn geschmiegt, ihn umarmt und ihm ins Ohr geflüstert: „Ich will dich.“ „Und ich war nicht abgeneigt.“ Er habe sich noch vergewissert, ob sie wirklich mehr wolle. „Sie wollte mit mir Geschlechtsverkehr.“ Die Bewohnerin habe sich ausgezogen und nackt auf das Bett gelegt. Dann hätten sie Sex gehabt.
Doch plötzlich habe es an der Tür geklopft. Nach seiner Schilderung versuchte Tarek M., blitzschnell seine Blöße zu bedecken und auch der Seniorin dabei zu helfen, dass sie rasch in ihre Kleidung kam. Doch es war zu spät. Eine Pflegekraft hatte mit einem Blick die Situation erfasst und zog sich sofort wieder zurück, um sich mit ihrer Chefin zu beraten. Die Pflegedienstleitung alarmierte die Polizei. „Später bekam ich einen Anruf, ich solle auf die Wache kommen“, erzählt der Angeklagte.
Zustand einer Demenzkranken nicht vergleichbar mit K.o.-Tropfen-Opfer
Verteidiger Ulf Dreckmann argumentiert, dass der Vorwurf der Vergewaltigung gegen seinen Mandanten so nicht stehen bleiben dürfe. Es sei rechtlich unangemessen, den Zustand einer Demenzkranken etwa mit dem eines Menschen zu vergleichen, dem K.o.-Tropfen verabreicht wurden und der nicht mehr in der Lage sei, einen Willen zu äußern und sich zu wehren.
Martha S. sei durchaus in der Lage gewesen, „eigenständige Entscheidungen zu treffen. Sie brauchte nur manchmal Hilfe“, meint der Anwalt. Es gelte konkret herauszufinden, inwieweit die 88-Jährige „in der Lage war, einen Willen zu bilden. Und wenn ja, wovon ich ausgehe“, inwieweit sich der Angeklagte bemüht habe, ihren Willen herauszufinden.
Mediziner: 88-Jährige kannte nicht einmal mehr ihr eigenes Alter
Laut Medizinern, die die Seniorin seinerzeit untersucht haben, ist die Demenz bei Martha S. auch im vergangenen September schon weit fortgeschritten gewesen. Der Richter zitiert aus der Akte, wonach die zuständigen Ärzte angegeben haben, dass die 88-Jährige beispielsweise ihr eigenes Alter nicht kenne, zeitlich und örtlich „nicht orientiert“ sei. Sie könne zudem keine Angaben zu ihren eigenen Kindern machen.
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Ähnlich schildern das auch Mitarbeiterinnen des Seniorenheims, die täglich mit der Hamburgerin zu tun haben. Demnach erkenne die Bewohnerin niemanden vom Personal und erinnere sich auch an Besuche nicht. „Sie weiß zehn Minuten später nicht, dass es überhaupt zu einem Treffen gekommen ist. Ihr Kurzzeitgedächtnis ist völlig weg.“ Martha S. könne aber, wenn man ihr „klare Ansagen“ mache, „das auch umsetzen“.
Prozess Hamburg: Sex mit 88-Jähriger – Zeuginnen beschreiben alte Dame
Die Zeuginnen beschreiben die 88-Jährige als Frau, die „immer freundlich ist und lächelt“. Sie habe den Eindruck gehabt, dass Martha S. schon kurze Zeit, nachdem sie nackt mit dem jungen Mann gesehen wurde, „sich an den Vorfall nicht mehr erinnert“, sagt eine Zeugin.
Ganz anders Tarek M., der von der Pflegedienstleitung angesprochen wurde, was er mit der alten Dame angestellt habe. „Er wirkte auf mich sehr nervös, dann aber auch sehr bestimmend. Er sagte, sie sei eine Frau. Sie könne selbst entscheiden, was sie macht.“
Der Prozess wird fortgesetzt.