Medizingeschichte, Teil 9: Entbindungsanstalt an der Finkenau stieß auf Widerstand. Schwangere mussten als Hausangestellte arbeiten.

Heute werden in Hamburg fast alle Kinder in einem Krankenhaus geboren. Im vergangenen Jahr waren es mehr als 25.000. Doch was inzwischen selbstverständlich ist, galt im 19. Jahrhundert in der Hansestadt noch als „unschicklich“: Wer etwas auf sich hielt, bekam sein Kind zu Hause. Nur die ärmeren Frauen und ledige alleinstehende Schwangere gingen zur Geburt in eine Klinik. Allerdings reichte die Zahl der Betten in den Hamburger Krankenhäusern bei Weitem nicht aus. Und Deutschland hielt Anfang des 20. Jahrhunderts einen traurigen Rekord: Zusammen mit Österreich-Ungarn und Russland hatte es mit 25 Prozent die höchste Säuglingssterblichkeit in Europa. In den Sommermonaten stieg sie in Großstädten wie Hamburg bis auf 50 Prozent.

Angesichts dieser alarmierenden Zahlen wurde auch in der Hansestadt festgestellt, dass allein das Engagement privater Wohltäter, die sich bis dahin der Mütter und ihrer Babys angenommen hatten, nicht ausreichend war. Jetzt ergriff auch die Stadt Maßnahmen, um die Sterblichkeit der Säuglinge zu senken. Zunächst wurden Aufklärungskam­pagnen gestartet, um die hohe Säuglingssterblichkeit in den Sommermonaten zu senken, als man wusste, dass sie oft durch die Ernährung mit verdorbener Milch verursacht wurde. „Kinder, die nicht gestillt wurden, weil die Mutter arbeitete, erhielten Kuhmilch, die schnell verdarb. Die Frauen wurden deshalb aufgefordert, die Milch abzukochen und anschließend kühl zu stellen, alle zwei Stunden sollte das kalte Wasser erneuert und die restliche Milch am nächsten Morgen weggegossen werden“, sagt Prof. Philipp Osten, kommissarischer Leiter des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Eppendorf.

Um den Standort der Klinik gab es Diskussionen

Um die Säuglingssterblichkeit zu senken forderten Frauenvereine und Bürgerschaftsabgeordnete 1909 den Bau einer großen Frauenklinik im Zentrum der Stadt. „Es gab zwar eine geburtshilfliche Klinik im damaligen Neuen Allgemeinen Krankenhaus in Eppendorf, aber sie war zu klein, zu abgelegen, für Schwangere schwer zu erreichen“, sagt Osten. Ein Beispiel bietet das Jahr 1907: In diesem Jahr brachten 3011 ledige Frauen in Hamburg ihre Kinder zur Welt, aber nur 1039 von ihnen konnten in Eppendorf entbinden.

1960er-Jahre in der Finkenau: Schwestern schieben Wagen mit Neugeborenen über den Flur
1960er-Jahre in der Finkenau: Schwestern schieben Wagen mit Neugeborenen über den Flur © ullstein bild | ullstein bild

Doch der geplante Standort der neuen Frauenklinik im vornehmen Uhlenhorst stieß auf Widerstand in der Nachbarschaft. Eine Entbindungsanstalt, in der hauptsächlich Prostituierte und arme Frauen ihre Kinder zur Welt brachten, wollte man dort nicht haben. So sagte der damalige Senator Arnold, Präses der Finanzdirektion: „Das geht nicht, das schöne Bild, das durch Erbauung der Töchterschule, der Kunstgewerbeschule und der Realschule geschaffen wurde, wird durch eine Entbindungsanstalt gestört.“

Fritz Schumacher entwarf das Krankenhaus

Aber die Bürgerschaft setzte sich durch. 1911 beschloss sie den Bau des „Instituts für Geburtshilfe“, der nach den Plänen des damaligen Oberbaudirektors Fritz Schumacher an der Finkenau 35 errichtet wurde. Drei Jahre später wurde der imposante Bau eröffnet, am 4. Juli 1914 dort das erste Kind geboren.

Zwar musste die Klinik schon kurz nach der Eröffnung 300 Betten für ein Lazarett zur Verfügung stellen, aber trotzdem blieben noch 250 Betten für die Geburtshilfe. 1915 wurden in dem neuen Krankenhaus bereits mehr als 1600 Kinder geboren. Ausgelegt war sie für insgesamt 2000 Geburten pro Jahr.

Die Geburtsklinik wurde Teil der öffentlichen Fürsorge. Sie verpflichtete Frauen als Ammen und richtete Sammelstellen ein, in denen Frauen Muttermilch für die Säuglinge abgeben konnten. An dem Krankenhaus wurde erstmalig eine geregelte Säuglingsfürsorge betrieben. Ab 1921 übernahm die Klinik auch Beratungen für Mütter bei sozialen Pro­blemen und Unterhaltsfragen. Sie bildete Hebammen aus und wurde Teil der Medizinischen Fakultät.

Viele der Patientinnen zählten zu den sogenannten Hausschwangeren. Dabei handelte es sich um meist ledige Frauen, die bis zur Geburt ihres Kindes in dem Krankenhaus wohnten und dort auf den Stationen zu Haushaltsarbeiten herangezogen wurden. Außerdem waren sie auch gezwungen, sich den Medizinalassistenten für Untersuchungen zur Ausbildungszwecken zur Verfügung zu stellen, berichtete die Ärztin Dr. Doris Fischer-Radizi in einem Artikel über die Finkenau im „Hamburger Ärzteblatt“.

Die Finkenau heute

Die Geburtenzahlen in der Finkenau stiegen nach dem Ersten Weltkrieg aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse so stark, dass die Klinik 1926 erweitert wurde. 1929 wurden dort bereits 4000 Kinder geboren.

Gleichzeitig wurde mit Flugblättern dafür geworben, dass mehr Frauen zur Entbindung in ein Krankenhaus gehen sollten. „Man versuchte, auch die bürgerlichen Frauen dafür zu gewinnen, indem man ihnen versicherte, dass die Geburt von einer Hebamme geleitet wurde. Dass Frauen aus diesen Kreisen zur Geburt in die Klinik gingen, setzte sich aber nur sehr langsam durch und dauerte noch bis in die 1950er-Jahre“, sagt ­Osten.

Die Säuglingssterblichkeit wurde deutlich gesenkt

Doch wenn auch bei diesen Frauen noch viel Überzeugungsarbeit nötig war, so zeigten doch der Bau der Geburtsklinik und die verstärkte Fürsorge für Mutter und Kind Erfolg: Bis Mitte der 1920er-Jahren konnte die Säuglingssterblichkeit in Hamburg nahezu halbiert werden.

Ab Mitte der 1920er-Jahre gab es in der Finkenau neben der Geburtshilfe auch eine kleine gynäkologische Abteilung mit 30 Betten, in der Operationen durchgeführt und Frauenkrankheiten, behandelt wurden. Dieser Anteil stieg im Laufe der Zeit erheblich an. Die Struktur der Klinik veränderte sich. Deshalb wurde 1938 aus dem „Institut für Geburtshilfe“ die „Frauenklinik Finkenau“. Während der Zeit des Nationalsozialismus spielte die Klinik allerdings eine unrühmliche Rolle, denn ein Großteil der Zwangssterilisationen bei Frauen wurde dort durchgeführt.

1943 wurde an das Hauptgebäude ein Luftschutzbunker angebaut, in dem sich Operationssäle, ein Kreißsaal und 40 Betten befanden. Mithilfe dieses Bunkers konnte das Krankenhaus auch während des Krieges seinen Betrieb aufrechterhalten, obwohl einige Gebäude durch Bombardierungen schwer beschädigt waren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden an Hamburgs größter Frauenklinik viele Modernisierungen vorgenommen, besonders in den 1960er- und 70er-Jahren. Eine große Umstellung war auch die Einführung des Rooming-in, das heute selbstverständlich ist, Anfang der 80er-Jahre. Dabei behalten die Frauen ihr Baby während des gesamten Krankenhausaufenthaltes bei sich im Zimmer. Vorher hatten die Babys die meiste Zeit getrennt von ihren Müttern auf der Babystation verbracht. Auch Kurse zur Geburtsvorbereitung für werdende Mütter und Väter bot die Klinik ab 1979 an.

Die Klinik wurde „Hamburger Fruchtschuppen“ genannt

Zu dieser Zeit hatte sich die Frauenklinik Finkenau in der Hansestadt längst eta­bliert und war den Hamburgern ein Begriff. Und weil dort auch viele „Früchtchen“ zur Welt kamen, wie Doris Fischer-Radizi schreibt, sei die Klinik seit den 1960er-Jahren liebevoll „Hamburger Fruchtschuppen“ genannt worden.

Aus Hamburgs moderner Krankenhauslandschaft ist die Frauenklinik heute allerdings verschwunden. Sie wurde im Jahr 2000 aus Kostengründen geschlossen. Geburtshilfe und Gynäkologie wurden an das damalige Allgemeine Krankenhaus Barmbek verlegt.

In der fast 100-jährigen Geschichte des Krankenhauses kamen in der Frauenklinik Finkenau etwa 250.000 Kinder zur Welt. Eines von ihnen war der spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt.

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