Wenn Ruhestätten zu Pilgerorten werden: Eine Geschichte von der Weimarer Fürstengruft über Graceland bis hin zum Friedhof Ohlsdorf.
Seit der Altkanzler am 23. November 2015 in Ohlsdorf zu Grabe getragen wurde, geschehen dort seltsame Dinge. Dass neben der schlichten weißen Grabtafel, auf der nur die Namen und Lebensdaten von Hannelore (Loki) und Helmut Schmidt eingemeißelt sind, regelmäßig Blumen niedergelegt und Grablichter entzündet werden, ist angesichts der Popularität des Paares nicht verwunderlich. Recht merkwürdig nehmen sich dagegen „Grabbeigaben“ anderer Art aus, die dort ebenfalls zu finden sind. Wie das Abendblatt berichtete, legen Besucher auf der Grabstelle zum Beispiel Dosen mit Labskaus, Mentholzigaretten und Schnupftabak-Packungen ab, Objekte, die normalerweise nichts auf Gräbern verloren haben, sich aber eindeutig auf die Vorlieben des einstigen SPD-Politikers und Bundeskanzlers beziehen. Nachdem schon kurz nach der Beisetzung zahlreiche Besucher über den Friedhof irrten, um das Schmidt-Grab zu finden und die Friedhofsverwaltung mit Anrufen nervten, hat diese inzwischen einen aktuellen Lageplan erstellt, der den Weg zum Grab mit der Nummer: U33 244-249 weist.
Dieser sonderbare Grabkult ist in dem an Prominentengräbern reichen Ohlsdorfer Friedhof bislang nahezu einzigartig, bestätigt Pressesprecher Lutz Rehkopf. „Es gibt zwar ein großes Interesse an manchen Prominentengräbern, zuletzt zum Beispiel an Roger Willemsen, doch dass dort Gegenstände abgelegt werden, ist sehr selten. Eigentlich kennen wir das nur von der Grabstelle der Pornodarstellerin Carolin Wosnitza, die als ‚Sexy Cora‘ bekannt wurde. Dort fanden sich lange Zeit Kuscheltiere, Bilder, Briefchen oder Gedichte“, sagt Rehkopf. Eine gewisse Parallele gebe es zu Kindergräbern, wo schon seit zehn bis 15 Jahren Kuscheltiere und Bildchen abgelegt würden.
Gräber berühmter Persönlichkeiten
Gräber berühmter Persönlichkeiten
Da die Verwaltung davon ausgeht, dass Helmut Schmidts Grab auch dauerhaft Besucher anlocken wird, hat sie inzwischen am Mittelweg ein Hinweisschild aufgestellt. Ähnliche Wegweiser gibt es in Ohlsdorf bisher nur für die Grabstätten von Hans Albers und Heinz Erhardt.
Die Weimarer Fürstengruft hat jährlich 60.000 Besucher
Dass sich Gräber zu Besuchermagneten entwickeln, kommt zwar weltweit vor, aber es sind stets Ausnahmefälle. Wie etwa die Weimarer Fürstengruft mit den Sarkophagen von Goethe und Schiller, die schon seit dem späten 19. Jahrhundert als Sehenswürdigkeit gilt und nach Auskunft der Klassik Stiftung Weimar jährlich etwa 60.000 Besucher hat. Es gibt berühmte Friedhöfe, auf denen zahlreiche bedeutende Persönlichkeiten bestattet sind, wie den Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin (Karl Friedrich Schinkel, Bertolt Brecht, Herbert Marcuse, Heiner Müller), den Wiener Zentralfriedhof (Ludwig van Beethoven, Arnold Schönberg, Johann Strauß, Franz Werfel), den Friedhof des Alexander-Newski-Klosters in St. Petersburg (Dostojewski, Glinka, Mussorgski) oder den Londoner Highgate Cemetery (Karl Marx, Lucian Freud, Douglas Adamas), die zudem aufgrund ihrer Architektur und Grabmalkunst als Sehenswürdigkeiten gelten und meistens nicht aufgesucht werden, um nur ein einzelnes Grab zu besuchen.
Andererseits registrieren Friedhofsverwaltungen weltweit ein seit Jahren wachsendes Interesse, die Grabstätten bedeutender Persönlichkeiten aus Geschichte, Kultur, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft zu besichtigen, doch handelt es sich bei den Besuchern meist um Einzelpersonen, die das jeweilige Prominentengrab in der Regel auch einsam vorfinden. Wer zum Beispiel Thomas Mann im schweizerischen Kilchberg, Konrad Adenauer auf dem Waldfriedhof in Rhöndorf oder Friedrich Nietzsche im sachsen-anhaltinischen Dörfchen Röcken besucht, wird dort zwar gepflegte Gräber vorfinden, die sich aber keineswegs zu täglich frequentierten Touristenzielen mit großem Andrang entwickelt haben.
Auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise, auf dem Berühmtheiten wie
Balzac, Chopin, Molière, Oscar Wilde, aber auch Edith Piaf, Yves Montand und Simone Signoret beigesetzt wurden, ist das anders. Das im Osten der französischen Metropole gelegene Gräberfeld gehört selbstverständlich zu den Pariser Sehenswürdigkeiten, wobei vor allem das Grab des Doors-Sängers Jim Morrison täglich viele Besucher anlockt. Bei der 1971 gestorbenen Pop-Ikone werden nicht nur Blumen, Bilder und Briefchen in allen möglichen Sprachen abgelegt, hier rauchen Fans gern auch einen Joint oder heben das Glas zu Ehren des Verstorbenen, was dann die Ordner der Friedhofsverwaltung zum Eingreifen zwingt. Ähnlich geht es auch am von Cannabis-Duft umhüllten Grab der Reggae-Legende Bob Marley zu, der in einem Mausoleum gleich neben seinem Geburtshaus in dem kleinen Ort Nine Miles im Norden von Jamaika ruht. Hier verhindert freilich schon die schwierige Anreise allzu große Besucherströme.
Manchmal sind es auch Legenden, die Grabmäler zu Besuchermagneten werden lassen, wie etwa auf dem auch in architektonischer, künstlerischer und kulturhistorischer Hinsicht höchst sehenswerten Cementerio Cristóbal Colón in der kubanischen Hauptstadt Havanna. Dabei handelt es sich um die Grabstätte der aus einer Oberschichtfamilie stammenden Kubanerin Amelia Goyri, die am 3. Mai 1901 an den Folgen einer Totgeburt gestorben war. Man hatte sie gemeinsam mit ihrem Kind beigesetzt und dieses zu ihren Füßen gelegt. Bei einer Sargöffnung am 3. Dezember 1914 wurde der Leichnam angeblich ohne Zeichen der Verwesung vorgefunden, außerdem habe das Kind nicht mehr zu Füßen der Verstorbenen, sondern in deren linkem Arm gelegen.
Seither ist La Milagrosa das am meisten besuchte Grab der kubanischen Totenstadt und gilt – ungeachtet aller kommunistischen Indoktrination – als Beschützerin der kranken Kinder sowie der unfruchtbaren und leidenden Mütter. Doch obwohl das Grab inzwischen neben Einheimischen auch von einer stetig wachsenden Zahl von ausländischen Touristen aufgesucht wird, ist das alles nichts gegen die Besucherströme, die Elvis Presley Jahr für Jahr die letzte Ehre erweisen. Dass es im Durchschnitt jährlich etwa 600.000 Menschen nach Graceland in Memphis Tennessee zieht, liegt aber nicht zuletzt daran, dass es hier nicht nur ein Grab, sondern auch das pompöse Haus des Musikers zu besichtigen gibt, das dieser 1957 bezog und in dem er 20 Jahre später auch starb. Sieht man vom politisch inszenierten Totenkult kommunistischer Staaten ab, die ihre Führer einbalsamiert zur Schau stellen, wie in Moskau (Lenin), Peking (Mao), Hanoi (Ho Chí Minh) und Pjöngjang (Kim Il-sung, Kim Jong-il), dürfte das Grab des „King of Rock ’n’ Roll“ weltweit die meisten Besucher anziehen.
Offenbar müssen jeweils bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein, damit ein Prominentengrab auf längere Zeit zum Pilgerziel wird. Und das hat nicht allein mit der über den Tod hinausreichenden Bedeutung zu tun, wie die eher selten aufgesuchten Grabstätten so wichtiger Persönlichkeiten wie James Joyce (Friedhof Fluntern auf dem Zürichberg), Theodor Fontane (Friedhof II der Französisch-Reformierten Gemeinde Berlin) oder Max Planck (Stadtfriedhof Göttingen) nahelegen. Um in Menschen den Wunsch zu wecken, ein Prominentengrab zu besuchen, bedarf es zusätzlich offenbar einer gewissen Tragik im Leben oder Werk der jeweiligen Persönlichkeit oder deren besonders ausgeprägte und allgemein bekannte Originalität. Tragik spielt etwa bei Heinrich von Kleist eine Rolle, dessen viel besuchte Grabstätte sich in einem Areal am Kleinen Wannsee befindet, wo er am 21. November 1811 zunächst seine todkranke Freundin Henriette Vogel und anschließend sich selbst erschoss.
Staatsakt für Helmut Schmidt
Staatsakt für Helmut Schmidt: Die wichtigsten Bilder
Oder bei Franz Kafka, zu dessen letzter Ruhestätte auf dem Neuen Jüdischen Friedhof im Prager Stadtteil Žižkov aufgrund des großen Besucherinteresses eigens Wegweiser aufgestellt werden mussten. Bei Winston Churchill, dessen letzte Ruhestätte auf dem Kirchhof von St Martin’s Church in Bladon (Oxfordshire) aufgrund der enormen Besucherfrequenz erst vor einigen Jahren komplett erneuert werden musste, dürfte eher die kantige Persönlichkeit und deren Originalität zur postum anhaltenden Popularität des bedeutenden britischen Staatsmannes und Literaturnobelpreisträgers beigetragen haben.
Manche Gräber werden Teil der Pop- und Trivialkultur
Aber kehren wir noch einmal zu Elvis Presley zurück, denn gerade das Beispiel Graceland zeigt, dass Prominentengräber besonders dann zu Besuchermagneten werden, wenn sie als Teil der Pop- oder auch der Trivialkultur betrachtet werden. In Deutschland trifft das am ehesten auf das Grab von Rudolph Moshammer zu. Der extravagante Modedesigner, der im Jahr 2005 ermordet wurde, ruht in einem pompösen historischen Mausoleum auf dem Münchner Ostfriedhof, das seit Jahren mit Blumen, Kerzen, Bildchen und Stofftieren versehen wird.
In einem von der Internetplattform Bestattungen.de vor zwei Jahren veröffentlichten Ranking der zehn berühmtesten Ruhestätten der Welt rangiert die „Mosi-Gruft“, wie der Ort in München volkstümlich genannt wird, gleich hinter Elvis Presley und Bob Marley auf Platz drei. Weitere Deutsche finden sich auf den Plätzen acht mit Karl May (Friedhof Radebeul) und zehn mit Romy Schneider (Boissy-sans-Avoir).
Ob Helmut Schmidt es in dieses, durchaus auch etwas subjektiv anmutende Ranking schaffen wird, muss sich erst noch erweisen. Ob der Altkanzler das überhaupt schätzen oder vielmehr eher mit einer sarkastischen Bemerkung quittieren würde, ist eine Frage, die naturgemäß unbeantwortet bleiben muss.