Ohlsdorf. Die Nachbarn reagieren je nach Betroffenheit gelassen oder besorgt auf die geplante Unterbringung von 700 Menschen.
Bislang haben die Anwohner des ehemaligen Anzuchtgartens auf Rasen, Gewächshäuser und die hohen Bäume des Ohlsdorfer Friedhofs geblickt. Jetzt kurven auf dem Grundstück Bagger herum, die laut knirschend Glas und Metallgestänge zerknacken. Keine 30 Meter von den ersten Häusern der beschaulichen Klein Borsteler Neubausiedlung entfernt laufen die Vorbereitungen für den Bau der bislang größten Folgeunterkunft in einem Wohngebiet auf Hochtouren. 700 Flüchtlingesollen hier leben, die ersten 250 bereits Ende des Jahres einziehen.
Die Nachricht hatte vor einigen Wochen eingeschlagen wie eine Bombe – und bei denKlein Borstelernunterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Mittlerweile haben sich drei Bürgerinitiativen mit verschiedenen Ausrichtungen gebildet. Die Kritiker der Einrichtung, zumeist besorgte, unmittelbar betroffene Nachbarn, haben sich zu „Lebenswertes Klein Borstel“ zusammengeschlossen. Die Gruppe „Gemeinsam für Klein Borstel“ ist nicht gegen die Unterkunft an sich, hält die Zahl von 700 Flüchtlinge aber für viel zu groß. Und in „Klein Borstel hilft“ schließlich sind diejenigen vertreten, die die Größe der Einrichtung akzeptieren und sich ehrenamtlich für die Bewohner engagieren möchten.
Die Mitglieder von „Lebenswertes Klein Borstel“ haben in einem dreiseitigen Brief an Vertreter der Bezirkspolitik deutlich gemacht, dass sie die „Errichtung der Unterkunft für rechtswidrig und in jedem Fall in ihrer Größe für unverträglich“ hält. Sie befürchten soziale Spannungen innerhalb der Großeinrichtung, die auch in die Nachbarschaft getragen werden könnten.
Es sind aber auch existenzielle Sorgen, die sie umtreiben. „Die Familien hier haben ihr Eigentum in der Regel über Kredite finanziert und sich über Jahrzehnte verschuldet“, so Sprecher Olaf Peter. „Bei Anschlussfinanzierungen, Scheidung oder berufsbedingten Umzügen droht eine finanzielle Schieflage bis hin zur Privatinsolvenz.“ Außerdem sei die Anschaffung von Eigentum eine Form der Altersvorsorge, die den Betroffenen jetzt genommen werde. Die Sorgen scheinen berechtigt zu sein. Für mehrere Häuser, die – zum Teil wegen der geplanten Unterkunft – aktuell zum Verkauf stehen, hat sich nach Abendblatt-Informationen bislang kein Interessent gefunden. In einem Fall soll bereits ein Notartermin verabredet gewesen sein – den der potenzielle Käufer jedoch platzen ließ, als die Pläne für die Flüchtlingsunterkunft bekannt wurden.
Besorgte Grundstücksbesitzer rechnen mit Wertverlusten bis zu 50 Prozent
Durch Erfahrungswerte aus vergleichbaren Situationen rechnet die Initiative mit einem Wertverlust der Grundstücke zwischen zehn und 50 Prozent. Bei 224 Grundstücken sei das ein Gesamtbetrag von annähernd zehn Millionen Euro und ein „unzumutbares Sonderopfer“. „Wir verstehen, dass die Stadt Hamburg schnell handeln muss“, so Peter. Am Ende müssten aber nicht nur die Belange der Flüchtlinge, sondern auch die der Nachbarn zählen. Um diese artikulieren zu können, fordern viele Klein Borsteler einen runden Tisch. „Hier im Stadtteil gibt es viel Know-how und ein großes Bedürfnis nach Mitsprache“, sagt ein Anwohner. „Die Stadt wäre gut beraten, diese Ressourcen zu nutzen. Wir sind bereit, uns für die Integration zu engagieren, aber wir wollen mit ins Boot geholt werden.“
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Einige Mitglieder von „Lebenswertes Klein Borstel“ haben jetzt den Rechtsanwalt Gero Tuttlewski eingeschaltet, der schon die Kläger gegen die Flüchtlingsunterkunft an der Sophienterrasse vertreten hat. Er soll jetzt prüfen, ob es rechtlich zulässig ist, die Klein Borsteler Unterkunft als Sofortmaßnahme (also ohne förmliches Bebauungsplanverfahren) zu errichten. „Wir möchten aber nicht mit den Klägern aus der Sophienterrasse in einen Topf geworfen werden“, bittet ein Anwohner. „Uns treiben ganz andere Umstände um.“ Es fehle etwa ein Konzept für die Integration der vielen Flüchtlinge, die mit zehn Jahren eine langfristige Herausforderung sei. Die Entscheidung über die Nutzung der Fläche sei offenbar ohne Begutachtung der Situation vor Ort erfolgt. „Die Infrastruktur ist schon jetzt überlastet“, so Olaf Peter. „Für die Kita gibt es Wartezeiten, und in der Albert-Schweitzer-Schule wird ein Teil der Schüler bereits in Containern unterrichtet.“
Auch die Initiatoren von „Gemeinsam für Klein Borstel“ glauben nicht, dass eine Integration von 700 Flüchtlingen gelingen kann. Sie sammeln daher Unterschriften für eine deutliche Reduzierung. Anwohnerin Miriam Schall: „Wir müssen solidarisch sein und in jedem Stadtteil Flüchtlinge aufnehmen, aber ihre Zahl muss verhältnismäßig sein“, sagt sie. Bei rund 3500 Klein Borstelern und 700 Flüchtlingen ergebe sich ein Verhältnis von 1:5, in Winterhude betrage es dagegen 1:50. „Wenn die Behörden nicht nur auf die kurzfristige, sondern auf die langfristige Hilfsbereitschaft der Anwohner zählen möchten, müssen sie die Grenzen der Machbarkeit erkennen und die Bürger stärker in die Planungen einbeziehen.“
Die Flüchtlingsinitiative „Klein Borstel hilft“ bereitet schon Maßnahmen vor
Die Flüchtlingsinitiative „Klein Borstel hilft“ fände weniger große Unterkünfte ebenfalls wünschenswert. „In diesem Punkt schließen wir uns der Forderung von ,Pro Asyl‘ an“, heißt es in einem Positionspapier. Gleichzeitig habe aber die Notwendigkeit, den Schutz suchenden Menschen möglichst schnell ein Dach über dem Kopf zu bieten, höchste Priorität. Daher akzeptiere man die Größe der aktuell im Stadtteil geplanten Einrichtung.
„Aber dennoch bleibt sie eine Herausforderung. Umso wichtiger, dass wir aktiv werden“, sagt Sprecherin Marianne Koch. Die Initiative habe schon großen Zuspruch, auch die Albert-Schweitzer-Schule, die Kirchengemeinde Maria Magdalenen und die Interessengemeinschaft der ansässigen Gewerbetreibenden hätten ihre Unterstützung zugesagt. Erste Maßnahmen würden bereits abgesprochen.
„Wir wollen die Geflüchteten in unser Dorf integrieren und dabei unterstützen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Dazu brauchen wir viele Ansässige, die sich engagieren, wenn möglich auch längerfristig., sagt Marianne Koch. Sie ist zuversichtlich, dass das gelingt. „Wir leben hier alle in guter Nachbarschaft und pflegen einen respektvollen Umgang miteinander. Das sind beste Voraussetzungen.“
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