Die Bevölkerung schrumpft, Trauerkultur wandelt sich - das wirkt sich auf den Friedhof von morgen aus. In Ohlsdorf hat man das verstanden.
Zwischen goldgelbem Sonnenhut und den karminroten Blüten der Fetthenne herrscht noch reger Flugbetrieb an diesem Oktobernachmittag. Über dem großen Mittelbeet, um das sich die Urnengräber gruppieren, taumeln Bienen, Hummeln und ein weißer Falter. Rita Ehlers hat gerade nach dem Grab ihrer Eltern geguckt. "Wir haben uns vor acht Jahren gerade diese Grabanlage ausgesucht, weil meine Eltern Sonne liebten", sagt sie. "Und weil hier im Sommer so viele Schmetterlinge sind, das ist wunderschön."
Die "Schmetterlings-Grabstätte" ist nur eine von acht Themen-Grabanlagen, die in den vergangenen zehn Jahren auf dem Ohlsdorfer Friedhof entstanden sind. Jeden Grabstein ziert ein Schmetterlingsornament. Wer will, kann seine letzte Ruhe aber auch zwischen Rosen, besonderen Bäumen, auf Waldwiesen, in gepflegten Gevierten an Skulpturen oder Obelisken oder in Kolumbarien finden.
Der Friedhof wandelt sich - nicht nur in Ohlsdorf, sondern überall in Deutschland. Lange Zeit bestimmten abgegrenzte Einzel- und Familiengrabstellen das Ordnungsmuster der Friedhöfe, aber dieses Muster schwindet allmählich, sagt der Hamburger Sozial- und Kulturhistoriker Prof. Norbert Fischer: "Stattdessen werden immer mehr Friedhofsflächen in Naturlandschaften und Gemeinschaftsanlagen umgestaltet. Sie sind die Leitbilder einer neuen Trauer- und Erinnerungskultur." Der Friedhof des 3. Jahrtausends wird ein Mosaik von Themengärten und Miniaturlandschaften sein.
Der Ohlsdorfer Ruhewald, geschaffen 2006 in Nähe der Kapelle 11, ist so eine Miniaturlandschaft. Zwei Hektar Waldwiese mit hohen Gräsern unter mächtigen alten Birken, Eichen, Kiefern und Mammutbäumen. Die Waldwiese wirkt still, sich selbst überlassen. An jedem Beisetzungsbaum nennt eine kleine pultartige Tafel die Art des Baums und die Namen der Bestatteten.
Ruhewälder oder Friedwälder sind das vielleicht deutlichste Zeichen der gewandelten Bestattungskultur. Am südlichen Rand des Alten Landes liegt heute der Friedwald Buxtehude; in Bispingen eröffnete 2005 der Friedwald Lüneburger Heide; in Bönningstedt entstand ein "Ruhehain". Gerade die Deutschen haben seit der Romantik ein enges, fast mythisches Verhältnis zum Wald. Und immer mehr von ihnen wünschen sich ein Grab in der Natur, unter freiem Himmel, an einem besonderen Baum. Noch vor zehn Jahren wurden mehr als 95 Prozent aller Verstorbenen in Deutschland auf einem Friedhof beigesetzt. Jetzt zeigt eine aktuelle Umfrage des Informationsportals Bestattungen.de ein anderes Bild: 34 Prozent der Befragten wünschen eine Bestattung außerhalb klassischer Friedhöfe, davon 13 Prozent eine Seebestattung - und 21 Prozent eine Waldbestattung.
Die Idee kommt aus der Schweiz, wo 1999 im Kanton Thurgau der erste Friedwald eröffnet wurde. Seit 2001 sind auch in Deutschland zwischen Rügen und Konstanz mehr als 40 solcher Bestattungswälder in Kooperation mit Friedhöfen und Forstverwaltungen entstanden. Die Angehörigen suchen einen Baum aus, an dem die Urne des Verstorbenen beigesetzt wird. Im Ohlsdorfer Ruhewald gruppieren sich acht Urnengrabstellen um jeden Baum. Auch ganze Familien oder Freundesgruppen können sich also unter "ihrem" Baum bestatten lassen. Eine spezielle Bepflanzung entfällt.
Ähnlich ist es in der Baumgräberanlage, die es seit 2003 in Ohlsdorf gibt. Alte Eichen und junge Himalaja-Birken stehen auf der weiten, sorgfältig gepflegten Rasenfläche, um die ein Rundweg aus Rindenmulch führt. Sonnenlicht glitzert durch das Laub auf die Granitplatten, die am Weg liegen, auf denen die Namen der Verstorbenen stehen. Die Gräber befinden sich auf der Wiese - einen Plan mit der genauen Lage erhalten nur die Angehörigen. An einem kleinen Platz mit einem Natursteinbrunnen stehen Bänke, die zum Verweilen einladen.
Wer ein Grab besucht, möchte sich hinsetzen, sich erinnern, sinnen. "Der liebste Platz, den ich auf Erden hab/ Das ist die Rasenbank am Elterngrab", heißt es in einem alten, traurigen Volkslied. Heute wird aus dem rechteckigen Reihengrab für Einzelfamilien ein Memoriengarten für viele: "Der rechte Winkel löst sich auf in fließende, offene Formen", sagt Kulturhistoriker Fischer.
In der "Paar-Grabanlage" bei Kapelle 2 fließt tatsächlich ein geschwungener Weg wie ein Bach durch die Rasenfläche; die breiten, üppig mit Lavendel und Fleißigen Lieschen bepflanzten Wegränder sind Urnengrabstellen. Dreiseitige Stelen aus schönem Seeberger Sandstein nennen die Namen der Beigesetzten - manche mit Leerstellen für den Namen eines Partners, der noch folgen wird. Drei Paaranlagen hat Ohlsdorf mittlerweile. "Es gibt immer mehr Lebensgemeinschaften, die kein Familiengrab, aber einen gemeinsamen Ort wollen", sagt Lutz Rehkopf von "Hamburger Friedhöfe", dem öffentlich-rechtlichen Friedhofs-Dienstleister.
Paaranlagen sind eine Antwort auf die wachsende Zahl der "wilden", schwulen und kinderlosen Paarbeziehungen. So diversifiziert wie die Liebe im 3. Jahrtausend wird auch der Friedhof sein. Dafür sorgen ein paar gesellschaftliche Grundtrends, sagt Gerlinde Krause, Professorin für Landschaftsarchitektur und Siedlungswesen in Erfurt: der Bevölkerungsrückgang, die Ausprägung heterogener Lebensstile, das Phänomen der Singles.
Nach bisherigen Hochrechnungen wird Deutschland bis zum Jahr 2060 einen Bevölkerungsrückgang von 17 Millionen Menschen erleben - so viele Einwohner hatte einst die DDR. Sterbefälle werden in der kulturellen Erfahrung der Menschen häufiger als Geburten. Und: Immer mehr bestehende Grabstellen werden nicht mehr genutzt. Die Friedhöfe, vor allem in ländlichen Gebieten, werden löchrig und zu groß. "Dörfliche Kirchfriedhöfe werden im großen Stil in eine andere Nutzung überführt werden müssen", meint Krause.
Gleichzeitig verändert sich die Trauerkultur. "Die Menschen werden mobiler, Familien zerstreuen sich heute über weite Räume. Es ist oft nicht absehbar, ob die Kinder sich noch um das Grab der Eltern kümmern können", sagt Krause. "Das führt zu einer freiwilligen Beschränkung: Viele Ältere wollen niemandem mit den Kosten für Grab und Grabpflege auf der Tasche liegen." Deshalb entscheiden sich viele für kostengünstigere Grabstätten, deren Pflege und Bepflanzung die Friedhofsgärtner übernehmen. Die Gebühr für ein Urnengrab in einer Sammelgrabstätte etwa beträgt in Ohlsdorf 824 Euro - ein Urnengrab gehobenen Standards in einer Einzelgrabstätte dagegen 1400 Euro (jeweils für 25 Jahre).
Die Bindung ans Familiengrab wird also schwächer. Desto stärker wird die Identifikation mit der sozialen Gruppe und der gesellschaftlichen Nische, der man sich zugehörig fühlt, sagt Gerlinde Krause: "Diese ,Corporate Identity' wünschen sich viele auch für die Bestattung." Das zeigt sich schon auf Trauerfeiern: Während jahrzehntelang das "Ave Maria" von Bach oder Händels "Air" georgelt wurden, bestimmen Zeitgenossen heute schon zu Lebzeiten, welche Lieblingsmusik erklingen soll - Pink Floyd, Jazz, Heavy Metal -, ob Luftballons steigen oder getanzt werden darf. Die Bestattung wird zum privaten Event für den Freundeskreis.
Ob Grabanlagen für die Opfer von Aids oder im "Garten der Frauen" - die Identifikation mit der vertrauten Gemeinschaft wird über den Tod hinaus dokumentiert. Auch in den Grabanlagen für Fußballfans, die in London für Arsenal- und in Amsterdam für Ajax-Fans entstanden - und auf dem Hauptfriedhof Altona für HSV-Fans. Direkt hinter dem Stadion - über die Gräber schallen also die Tor-Schreie der Lebenden.
Gegen bunte Fan-Gräber oder die schlichte Moderne der heutigen Sammelgräber wirkte das Grab des 19. Jahrhunderts noch ziemlich freud- und sinnenfern: ein schmales Viereck mit einem Grabstein, umgeben von einem Staketenzaun. Nach altem Irrglauben umwehte Friedhöfe das "Miasma" (schädliche Ausdünstungen) des Todes, weshalb Bäume nur am Rand als Abgrenzung zum Raum der Lebenden gepflanzt wurden. So entstand der "gotische" Mythos vom düsteren Friedhof, von dem Gruselfilme leben.
Ein ganz anderes Konzept kam mit den Parkfriedhöfen auf, die im 19. Jahrhundert aus Platzmangel am Rand von Großstädten entstanden. Berühmtestes Beispiel: der Friedhof "Père Lachaise" im Osten von Paris, auf dem 1804 die erste Beisetzung stattfand. Große Bäume boten ein romantisches Umfeld für die großen, prächtig ausgestatteten Mausoleen des Großbürgertums. Wer Geld hatte, zeigte es posthum - das galt auch für den Friedhof Ohlsdorf, der 1877 entstand und heute rund 36 000 Bäume vorweisen kann.
Gräber waren damals fast sämtlich für Särge ausgelegt. Noch in den 1990er-Jahren überwogen in Deutschland die Erdbestattungen. Inzwischen haben Feuerbestattungen gleichgezogen. Von den 7449 Beisetzungen auf Hamburgs öffentlichen Friedhöfen Ohlsdorf und Öjendorf im Jahr 2011 entfielen 1574 auf Sarg- und sogar 5875 auf Urnenbeisetzungen.
Bevölkerungsrückgang, Urnenbestattungen und der Trend zur Sammelgrabanlage stellen die Friedhofsverwaltungen vor erhebliche Probleme. Die Gräber werden kleiner, die Gebühreneinnahmen sinken. Auf Deutschlands Friedhöfen sind so bereits rund 15 000 Hektar nicht genutzter "Überhangsflächen" entstanden, für die aber Unterhaltskosten anfallen. Schon heute bezeichnen sich Friedhofsgärtner und Steinmetze als "Verlierer" der neuen Bestattungskultur.
Gleichzeitig wachsen die Ansprüche an spezielle, interessante, pflegeleichte Grabanlagen. Wie zum Beispiel Kolumbarien (nach dem Lateinischen so viel wie "Taubenschlag"), die aus Südeuropa bekannt sind: Särge oder Urnen werden übereinander in einer Gedenkwand untergebracht. Ohlsdorf hat bereits das dritte Kolumbarium eröffnet: Die Fächer sind verglast und bieten neben der Urne Platz für persönliche Gegenstände oder Fotos. Ein Friedhofsangestellter sorgt für die Sauberkeit und entfernt verwelkte Blumensträuße.
"Man muss mit der Zeit gehen und den Bedürfnissen der Menschen nach einer neuen Trauer- und Erinnerungskultur Rechnung tragen", sagt Lutz Rehkopf von "Hamburger Friedhöfe". "Viele Friedhofsverwaltungen haben das viel zu spät erkannt. Sie laufen Gefahr, an ihrem eigenen Muff zu ersticken."