Wie eine Diva: mal liederlich, mal glamourös, dabei von den meisten heiß begehrt.
Gibt es den perfekten Stadtteil? Man wird ja wohl mal träumen dürfen. Ein bisschen liederlich müsste er sein, so wie die Schanze, hier und da veredelt mit einer Prise Harvestehude. Mitten in der Stadt sollte er liegen, mit seinen Kneipen und Restaurants Eppendorf ausstechen, Tante-Emma-Läden wie Ottensen besitzen und einen Fuß im Wasser haben wie Winterhude. Aber bloß nicht zu viel Idylle, wir sind ja Großstadt. Also bitte Toleranz für fremde Lebensart wie in Wilhelmsburg und ein wenig St.-Pauli-Rotlicht. Ach ja, eine schöne Aussicht wie auf der Uhlenhorst wird auch gern genommen.
Und jetzt Augen auf, genug geträumt. Willkommen in St. Georg!
Mögen die Walddörfler nun die Augen auch schnell wieder zukneifen, es hilft nichts. An St. Georg führt kein Weg vorbei. Nicht nur, weil der Hauptbahnhof (450 000 Reisende täglich) und die Straße An der Alster (75 000 Autos jeden Tag) im Viertel liegen und jährlich 28 000 Hamburger in der Asklepios-Klinik - hoffentlich nur kurz - zu Einheimischen werden.
St. Georg will alle verführen. Wie eine Diva räkelt sich der Stadtteil am Ufer der Alster und zeigt den Seglern sein Fotografiergesicht. Die Netzstrümpfe und die Löcher im Kleid sieht dagegen nur, wer sich der eitlen Schönen von der anderen Seite, aus der City, nähert.
Aber gemach, immer der Langen Reihe nach.
Sie ist die Straße der Straßen im Quartier. Hier flaniert, feiert und flirtet St. Georg, Letzteres in stets wechselnden Konstellationen. Ob Mann-Frau, Frau-Frau oder - eine Spezialität von "St. Gayorg" - Mann-Mann interessiert allerdings kaum einen, eher schon die allabendliche Frage: Wo gehen wir hin?
Wer die "Turnhalle" vorschlägt, versteht unter Leibesübung die Herausforderung, nach einem Lammcarpaccio und Piccata Milanese auch noch den Mandarinen-Quarkkuchen zu bewältigen. Im verwinkelten "Dorf" prunkt monumental "Muttis Rinderroulade", auf der anderen Straßenseite im Cox der im Ganzen gebratene Loup de Mer oder bei Sterneköchin Anna Sgroi das Lammkarree mit Bohnencassoulet.
Aber es geht auch schnell und billig. Rund um die Lange Reihe hat der hungrige Esser die freie thailändischportugiesischvietnamesischitalienischafghanischtürkischbayerische Auswahl. Danach einen Latte macchiato in den Cafés Uhrlaub oder Gnosa, wo Schwule und Lesben längst nicht mehr unter sich sind, oder auf einen Absacker in die Bar Hamburg, und der Abend ist perfekt.
Bischofskirche auf dem Kiez
Immer gilt: schön entspannt bleiben. Auf Krawall kann der Stadtteil verzichten. Wenn in der Langen Reihe doch einmal ein schwarzer Block auftaucht, dann ist es nur Hamburgs katholischer Erzbischof Werner Thissen mit seinen Prälaten auf einem Spaziergang im Diensthabit. Als einzige deutsche Bischofskirche liegt der Hamburger Mariendom mitten auf dem Kiez, aber dem gebürtigen Niederrheiner Thissen gefällt's. Schließlich lockt gleich nebenan die Kultkneipe Frau Möller, in der der Erzbischof, der zu Hause keinen Fernseher besitzt, gerne mit Freunden bei Spielen der Fußball-Nationalmannschaft mitfiebert.
Und wenn der St. Georger mal nicht isst, trinkt und feiert? Dann stöbert er in den Buchhandlungen Thiede und Wohlers nach antiquarischen Schätzen oder schaut in der Koppel 66 vorbei, wo sich in einem verwunschenen Hinterhof ein Café und viele kleine Kunst- und Gewerbebetriebe unter einem Dach drängeln; anschließend sucht er sich eine Bank im Lohmühlenpark, wo nur noch die Bienen umherwuseln; bestaunt mal wieder die grün-weiß bemalten Minarette der Centrum-Moschee an der Böckmannstraße und lässt sich vielleicht nebenan beim altehrwürdigen Herrenausstatter Policke neu einkleiden, wo schon ganze Generationen von Hanseaten ihre Anzüge (10 000 sind ständig auf Lager) erstanden haben. Und für die nächsten Tage nimmt er sich vor, endlich mal wieder die Jugendstilabteilung im Museum für Kunst und Gewerbe zu besuchen - und abends vielleicht das Schauspielhaus. Oder das Polittbüro. Oder (in der Saison) das wieder belebte Hansa-Theater. Alles liegt so nah im Stadtteil.
Und ja, auch die Probleme. Schon im Mittelalter war St. Georg das Schmuddelkind der feinen Stadt. Erst Asyl der Aussätzigen und Standort des Stadtgalgens, dann Zuflucht für alle, die in Hamburgs Mauern unerwünscht waren: Schweinehirten, Branntweinbrenner, Bettler. Erst 1868 wurde die Vorstadt eingegliedert. Und plötzlich blühte St. Georg auf. Prächtige Etagenhäuser entstanden, bis heute zu bewundern etwa am frisch restaurierten Hansaplatz.
Doch mit der Gründer- begann auch die Sünderzeit. Prostituierte entdeckten das verkehrsgünstige Viertel (jedes zweite Hamburger Hotelbett steht hier) für sich, bis in die 70er-Jahre warteten sie sogar an der Langen Reihe auf Freier. Auch der Hansaplatz machte Karriere - als bundesweit berüchtigter Treffpunkt der Fixer und Stricher.
Vorbei. Dank vielfältiger Hilfsangebote für Süchtige, etwa im Drob Inn, hat sich die Drogenszene aus dem Straßenbild weitgehend verabschiedet. Und auch um die Huren im Sperrbezirk wird es einsam. Wer sie anspricht, riskiert Geldstrafen bis zu 5000 Euro. Hinzu kommt der stetige Wandel des Stadtteils. Zwar halten Etablissements wie die World of Sex am Steindamm noch tapfer ihre Stellungen, aber man fragt sich, wie erregend die Geschäftsaussichten sein mögen, wenn den potenziellen Kunden vor der Tür zum Stichwort "Lust?" meist nur die Franzbrötchen in der benachbarten Bäckerei einfallen.
Für den St. Georger droht die Gefahr sowieso eher vom anderen Ufer. Misstrauisch blickt er beim sonntäglichen Alsterspaziergang hinüber Richtung Rotherbaum und sorgt sich, wann von dort der nächste Unternehmensberater oder Werber samt Ehefrau, Einzelkind und SUV ins hippe St. Georg übersiedelt und im Quartier weiter die Preise verdirbt.
Die höchsten Mieten in ganz Hamburg
600 bis 700 der 5000 Wohnungen seien schon in teure Eigentumsimmobilien umgewandelt worden, klagt Michael Joho, Vorsitzender des Einwohnervereins St. Georg, der seit Jahren zusammen mit anderen Initiativen die "Gentrifizierung" auszubremsen versucht. Viele langjährige St.-Georg-Bewohner und kleine Ladenbesitzer, so Joho, hätten schon aufgegeben. Längst werden zwischen Alster und Langer Reihe mit die höchsten Mieten in ganz Hamburg verlangt. "Wir kämpfen ein Rückzugsgefecht", sagt Joho. "In zehn Jahren wird die Gentrifizierung auch den Steindamm erreicht haben."
Aber noch ist es nicht so weit, noch besteht Hoffnung, dass St. Georg nach der Verelendung auch die Veredelung überstehen wird. An warmen Sommerabenden, wenn die untergehende Sonne die Außenalster für einen magischen Moment in eine riesige Wanne flüssigen Goldes verwandelt, lässt sich auch der kritischste St. Georger von dem Schauspiel überwältigen. Dann schließt er auf seinem Lieblingsplatz, der Gurlitt-Insel, die Augen und träumt seinen ganz persönlichen Traum. Von einem - na ja - fast perfekten Stadtteil.
Die Serie finden Sie auch unter www.abendblatt.de
In der nächsten Folge am 18.6.: Altona-Nord