Neuwerk. Die Insel Neuwerk bietet Idylle in der Natur und besondere Architektur, aber Gastronomen und Unternehmer stehen vor Herausforderungen.

  • In der Elbmündung um Neuwerk sollte eigentlich ein Hafen entstehen.
  • Auf Hamburgs Nordseeinsel findet man das älteste Gebäude der Stadt.
  • Insel Unternehmer suchen aktuell Nachwuchs.

Wie man sich täuschen kann. Eigentlich wollte die Hansestadt Hamburg in den 60er-Jahren einen Industriehafen bauen und hatte sich nach langen Verhandlungen mit Niedersachsen Neuwerk zurückgeholt. Doch statt einer gigantischen Wüstenei im Watt bekamen die Stadtväter ein Naturparadies. Mitten in der Elbmündung, südlich des Fahrwassers liegen Hamburgs Inseln: Neuwerk und die vorgelagerte Sandinseln Scharhörn und Nigehörn.

Dort gehen die Uhren anders – gemächlicher schleichen die Zeiger. Die Insel wirkt, als stünde das Eiland kollektiv auf der Bremse im Wahnsinnstempo unserer Zeit. Ein Alltag in Zeitlupe, Reizebbe statt Reizüberflutung, Detox für die Generation Internet. Die Insel ist schnell umrundet: Es gibt einen Leuchtturm, ein paar Häuser, vier Hotels, Schullandheime, den Zeltplatz des Jugend- und Bildungscamps und ein Heuhotel. Hier kann man für 29 Euro inklusive Frühstück im Stroh übernachten – so viel kostet in Hamburg mitunter allein das Frühstück.

Hamburgs Insel Neuwerk bietet Besuchern Erholung und Urlaubsgefühle

Es ist ein Eiland für den zweiten Blick. Man muss genauer hinschauen, um etwas zu sehen: Den Urlauber glücklich vertieft ins Buch, die grasenden Pferde, rastende Wattvögel. Weite Horizonte, um den Horizont zu erweitern. „Hier kannst du nichts machen“, sagt Christian Griebel. „Aber du hast nie Langeweile.“ Der 53-Jährige muss es wissen: Seit fünf Jahren ist er Inselwart.

Andreas Dressel kümmert sich nicht nur als Senator um Neuwerk, sondern liebt die Insel auch als Urlauber.
Andreas Dressel kümmert sich nicht nur als Senator um Neuwerk, sondern liebt die Insel auch als Urlauber. © Matthias Iken | Matthias Iken

Schon die Anreise ist nichts für Hektiker – fast zwei Stunden lang tuckert die MS „Flipper“ durch die Nordsee. An Bord sind Menschen, die Erholung und Ruhe suchen. Und Finanzsenator Andreas Dressel (SPD). Er ist der Insel besonders verbunden, privat wie dienstlich. „Neuwerk ist im Hamburger Kosmos nicht präsent“, sagt er. Und unternimmt viel, um das zu ändern. „Es muss für jeden Hamburger zum guten Ton gehören, zumindest einmal dorthin zu reisen.“

Am Anleger übermannt die Gäste dieses ganz besondere Inselgefühl: eine Mischung aus Sommerfrische und Salzwasser, unbändiger Urlaubserwartung und Schiffsromantik. Der Alltag liegt hinter den Reisenden, vor ihnen Tage der Erholung. Es sind diese seligen Momente, in der einen Hand den Koffer, an der anderen das Kind. Ein Gefühl, das sich über Generation vererbt, egal ob auf Amrum, Juist oder Neuwerk.  

Neuwerk ist Hamburgs Lummerland

Neuwerk hat keine Strände, keine Partys, keine Whiskeymeile, das Eiland ist Hamburgs Lummerland – nur ohne Berge und Jim Knopf. Aber Neuwerk hat viel Natur. Und außergewöhnliche Architektur. Dort, in der Elbmündung, steht das älteste Gebäude der Stadt, ja der älteste Profanbau der gesamten Nordseeküste.

Der Leuchtturm geht auf das Jahr 1310 zurück. Das in den vergangenen Jahrzehnten etwas heruntergekommene 45-Meter-Gebäude wird bald aufwendig restauriert. In Zukunft soll es dort nicht nur attraktive Hotelzimmer geben, sondern auch einen Raum für Hochzeiten. Im Senatszimmer wird man nicht nur Augen für den Partner haben, sondern auch für die See. Meerblick aus allen Fenstern. Wo sonst in Hamburg gibt es das? Im kommenden Jahr beginnt die Sanierung, 2027 sollen die ersten Gäste einziehen.

Andreas Dressel wirbt seit Jahren für Hamburgs Insel

Andreas Dressel ist begeistert von diesem Gebäude – er selbst verspricht, hier Eheleute zu trauen. In einem Crashkurs hat er sich mit anderen Senatoren und Bezirksamtsleitern zum Standesbeamten ausbilden lassen. Wichtiger noch: Der Finanzsenator lässt 22 Millionen Euro für die denkmalgerechte Sanierung springen. Dieser Elbturm, 120 Kilometer westlich von seinem himmelstürmenden Namensvetter Elbtower, ist ein gutes Investment.

Blick in eines der Gästezimmer im Leuchtturm. Er soll bis 2027 aufwendig saniert werden.
Blick in eines der Gästezimmer im Leuchtturm. Er soll bis 2027 aufwendig saniert werden. © Matthias Iken | Matthias Iken

Wer die engen Stiegen und schließlich die Drehleiter emporsteigt, bekommt einen Blick über das 3,6 Quadratkilometer große Eiland. Eine Aussichtsplattform zum Schockverlieben. Und mit Graffiti aus einer Zeit, als niemand dieses Wort überhaupt kannte. Bis in die 30er-Jahre gehen die Gravierungen im patinagrünen Kupferdach zurück, sie erzählen kleine Begebenheiten aus fremden Leben. Wer wann woher nach Neuwerk kam und wessen Herz an wen verloren ging.

Der Leucht- und Wehrturm stand schon, als die Menschen die Erde noch für eine Scheibe hielten und Amerika nur der Name eines Seefahrers war. Stolz erhebt er sich über die Irrungen und Wirrungen des Eilands. Immer wieder wurde der Flecken Erde im Watt Kriegsschauplatz, erst zwischen Dithmarschen und Hamburg, dann für Söldner und Feldherren im Dreißigjährigen Krieg, schließlich für Napoleons Truppen. Über Jahrhunderte gehörte die Insel zu Hamburg, um den Zugang zur Elbe zu kontrollieren. Erst mit dem Groß-Hamburg-Gesetz 1937 fiel das Eiland kurzzeitig an Cuxhaven.

Eigentlich sollte hier im Watt ein großer Tiefwasserhafen entstehen

Nach dem Krieg hatte die Hamburger Politik dann Großes mit der kleinen Insel vor: Dort, in der Elbmündung, sollte ein neuer großer Vorhafen entstehen. „Ohne den Hafen würde Hamburg seine Stellung als Tor zur Welt verlieren und im Laufe der Jahrzehnte zur Bedeutungslosigkeit einer Provinzstadt herabsinken“, erklärte das Hamburger Abendblatt 1960 seinen Lesern: Die alten Häfen aber seien für die großen Schiffe bald zu klein. „Wenn diese Entwicklung weitergeht, muß also – und das ist immer so gewesen – der Hafen zum Schiff kommen. Die Holländer haben es mit ihrem Projekt des Rheinmündungshafen vorexerziert, denn auch Rotterdam wurde zu klein und die Zufahrt zum Hafen war nicht tief genug.“

Blick von der Aussichtsplattform des Leuchtturms über die Insel Neuwerk im Wattenmeer.
Blick von der Aussichtsplattform des Leuchtturms über die Insel Neuwerk im Wattenmeer. © Matthias Iken | Matthias Iken

Eifrig gingen die Planer an die Arbeit, es wurde nicht gekleckert, sondern geklotzt: Vorgesehen war ein Gelände von rund 7600 ha mit Hafenbecken und Industrieflächen, einem Damm für Straßen- und Eisenbahnverkehr, einem Autobahnanschluss südlich von Sahlenburg. Auch ein Stahlwerk und ein Atomkraftwerk galten 1974 als Variante, später sogar ein Großflughafen. 1979 warnte Wirtschaftssenator Hellmuth Kern vor Kleinmut: „Die Angst vor dem Anfassen großer Projekte wird uns noch einmal teuer zu stehen kommen.” Kurz darauf verwarf der Senat die Pläne. 30 Jahre später werden Neuwerk und das Wattenmeer von der Unesco zum Welterbe der Menschheit erklärt.

Die Sanierung des Leuchtturms soll die Insel voranbringen

Der Leuchtturm war Rettungsanker in stürmischen Zeiten und ist nun Hoffnungsträger für die Insel. Denn Hamburgs Vorposten in der Elbmündung schwächelt. Die Zahl der Einwohner, in besseren Zeiten bei fast 90, ist auf rund 20 gefallen. Die Zahl der Touristen hat sich in den vergangenen 15 bis 20 Jahren deutlich reduziert. Keiner zählt die Tagesgäste, aber Schätzungen gehen fast von einer Halbierung aus. So hat sich die Zahl der Reisenden auf der Cuxhaven-Fähre von rund 80.000 auf 45.000 vermindert.

Pferdekutsche oder Boot? Bei der Anreise zu der Hamburger Insel Neuwerk haben Besucher die Wahl.
Pferdekutsche oder Boot? Bei der Anreise zu der Hamburger Insel Neuwerk haben Besucher die Wahl. © Matthias Iken | Matthias Iken

Zuletzt fielen die Fähren häufiger aus. Und der Priel macht den Neuwerkern das Leben zusätzlich schwer – die Pferdewagen kommen an manchen Tagen nicht mehr von Cuxhaven auf die Insel oder zurück. Der Weg durchs Watt ist die Lebensader, Versorgungsweg und Gästezubringer. Er wird in der Saison zwischen Ostern und Ende Oktober eigentlich jeden Tag benötigt. Aber manchmal, gerade im Herbst, haben Wind und See etwas dagegen.

Die Erreichbarkeit der Insel macht Probleme

„Das waren zuletzt 30 bis 40 Tage“, sagt Steffan Griebel, einer der Wattwagenführer der Insel. Insgesamt 64 dieser Wagen rollen durch den Schlick, wenn sich das Wasser vom Acker macht – angesichts der Besucherflaute blieben zuletzt einige im Stall. „Wir haben rund ein Drittel des Gästevolumens eingebüßt“, sagt Griebel. Dabei ist eine Fahrt oder ein Bummel durch dieses amphibische Land, das mit den Gezeiten seinen Aggregatzustand ändert, einer der Höhepunkte auf Hamburgs Insel.

Auch der Tourismus erinnert an die Gezeiten: Er steht und fällt. Corona brachte einen Boom, doch mit der Pandemie gingen viele Reiseunternehmen pleite, die früher zuverlässig Busladungen in Cuxhaven ausspuckten. Und nun steht noch ein Generationswechsel an. Von den vier Hotelbetreibern wollen zwei möglichst schnell aussteigen und verkaufen.

Zwei Hotelbetreiber suchen nun Nachfolger für ihre Betriebe

Einer von ihnen ist Christian Griebel. Der gebürtige Insulaner ist seit 30 Jahren zurück auf der Insel und Hotelier und Gastronom. Mit seiner Frau Svenja betreibt er die Gaststätte Zum Anker und das Viersternehotel Nige Hus. Anders als so manche Herberge an der Küste ist ihr Hotel mit der Zeit gegangen, alles auf dem neuesten Stand. Aber die Zeit hat Spuren bei den Griebels hinterlassen, die das Haus in zweiter Generation betreiben und viel Herzblut und Engagement hineingesteckt haben. „Irgendwann lässt der Spirit nach“, sagt Griebel. „Denn bedarf es neuer Leute und neuer Ideen. Die Insel freut sich darauf.“

Als Griebel anfing, begann er mit Innovationen, mit Heupartys und einer mobilen Bar für das Watt. Er hat weitere Ideen, aber eben nicht mehr dauerhaft als Gastronom. In der Saison ist jeder Tag geöffnet, anders als bei den Eltern aber nicht mehr von 9 bis 22 Uhr, sondern nur noch mittags und abends. Auch im Winter gibt es genug zu tun: Dann bringt er als Handwerker das Haus auf Vordermann oder baut das Hotel aus.

Kürzertreten ist auf der Insel fast unmöglich – es fehlt wie überall an Fachkräften und zudem an Wohnungen. Einst hatten die Griebels zwölf Beschäftigte, jetzt sind es noch sechs. „Ich war immer ein Draußenkind. Ich habe nun lange genug drinnen gearbeitet“, sagt er, der zuletzt meist am Herd stand. „Dieses Haus ist mein Baby, aber nun ist es erwachsen.“

Die attraktiven Hotels und Gaststätten sind etwas für Überzeugungstäter

Auch Hans-Werner Fock vom Alten Fischerhaus würde gern aussteigen. Seit 1909 beherbergt die Familie Gäste, der 66-Jährige führt Hotel und Gaststätte in vierter Generation. Wie bei Griebel hat der Nachwuchs abgewinkt; und Fock will verkaufen. „Es wäre schön, wenn das nun mein letztes Jahr wird, aber das glaube ich noch nicht.“

Einen Gastronomiebetrieb verkauft man nicht so leicht. Das Nige Hus & Zum Anker verfügt über 14 Zimmer und 50 Plätze im Gastraum. Hinzu kommen 40 im Wintergarten und 68 draußen, „das alte Fischerhaus“ hat 20 Zimmer und fünf Appartements und 100 Betten im Heuhotel, das Restaurant mit Sonnenterrasse und Wintergarten wurde 2018 neu gestaltet.

Blick in das Heuhotel auf Neuwerk.
Blick in das Heuhotel auf Neuwerk. © Matthias Iken | Matthias Iken

Das Problem: Für größere Investoren sind diese Häuser zu klein, sie sind etwas für Überzeugungstäter. „Hinter so einem Projekt muss man zu 100 Prozent stehen“, sagt Fock. „Mindestens.“ Er ist gebürtiger Neuwerker, als er als Kind zur Schule ging, hatte er noch 14 Mitschüler. Seit Jahren gibt es keine Kinder mehr auf der Insel. Sollten sie zurückkommen, wird die Schule wieder eröffnet, sagt Dressel.

Die Stadt Hamburg hilft bei der Suche nach neuen Hotelbetreibern, sie vermittelt Kontakte und ist Ansprechpartner. „Wir wollen keinen Frittenbudenbesitzer aus Wilhelmshaven, sondern Menschen, die sich für Hamburg und Neuwerk interessieren“, sagt Dressel. Wer auf die Insel geht, muss dort bleiben wollen. Das ist kein Job, sondern eine Lebensentscheidung.

„Wenn wir beide auf einmal aufhören, wäre die Insel platt“

Mit dem Erfolg des Verkaufs steht und fällt die Zukunft der Insel. „Wenn wir beide auf einmal aufhören, wäre die Insel platt“, fürchtet Griebel. Das kann, soll und darf nicht sein. Ideen, es zu verhindern, gibt es viele.

Was fehlt? Vielleicht ein Strand. Zwar wird bei Spülungen im Frühjahr immer wieder am kleinen Fährhafen Sand vorgeschwemmt, doch die Nordsee holt ihn sich meist rasch zurück. Mal ist immer Juni der Strand dahin, in besseren Jahren erst im August.

Das Leben auf der Insel ist anders – auch der Postkasten wird tideabhängig geleert
Das Leben auf der Insel ist anders – auch der Postkasten wird tideabhängig geleert © Matthias Iken | Matthias Iken

Also muss die Insel anders punkten. „Das ist die Erholungsinsel für gestresste Großstädter“, sagt Dressel. „Hier kann man entschleunigen, hier kommt man runter.“ Eine Idee wäre, die Saison zu verlängern. Aber dann muss man in der Nebenzeit für Leben sorgen – etwa mit Tagungen im November. Wie wäre ein Co-Working-Space für Großstädter? Oder eine regelmäßige Senatssitzung auf Neuwerk?

Ein Mitarbeiterwohnheim soll ein drängendes Problem lösen

Nun wird eines der drängendsten Probleme auf der Insel mit einem Neubau gelöst – ein Mitarbeiterwohnheim mit zehn bis 15 Einheiten. „Das ist eine Hilfe für die Gastronomie, wenn sie eigene Zimmer nicht mehr an ihre Beschäftigten, sondern an Gäste vermieten kann“, sagt Dressel. Als er hört, dass sich die Behörden einen Wettbewerb für das Gebäude wünscht, verflüchtigt sich die Urlaubsstimmung des Senators kurzzeitig.

Petra Todemann von der Neuwerkstatt, die sie in der alten Schule betreibt.
Petra Todemann von der Neuwerkstatt, die sie in der alten Schule betreibt. © Matthias Iken | Matthias Iken

„Das müssen wir beschleunigen“, sagt er. Diskutiert wird schon lange über das Mitarbeiterwohnheim, bislang gibt es nur einen Bauvorbescheid. Aber spätestens mit dem neuen Turmhotel soll es stehen. 2027 klingt nach Schicksalsjahr und Aufbruchsjahr.

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Aufgebrochen nach Neuwerk ist der frühere Sprecher der Umweltbehörde, Volker Dumann. Seit zwei Jahren arbeitet er als Ranger im Nationalpark Hamburgisches Wattenmeer. Stolz und gute Laune platzen fast aus seiner Ranger-Uniform mit dem Hamburg-Logo. „Das ist einer der besten Plätze der Welt“, schwärmt er und spricht mit einer Überzeugungskraft, die nicht nach Presselautsprecherei, sondern nach einfacher Wahrheit klingt. Dumann ist jetzt Welterklärer im Watt, erzählt von der Vielfalt des Nationalparks, seinen Geheimnissen, seiner Schutzbedürftigkeit.

Wie gut man dort leben kann, zeigt Petra Todemann, eine von den verbliebenen Insulanerinnen. Sie kam einst für eine Woche auf die Insel. Daraus wurden bis heute 23 Jahre. Geblieben ist sie der Liebe wegen. Todemann hat einen kleinen Laden, sie ist die Frau Waas von Neuwerk. Wie im Lummerland des Dichters Michael Ende gibt es auf der Insel nur noch wenige Bewohner – und keine Kinder mehr. Die Dorfschule ist nun ihre Neuwerkstatt: Dort gibt es Mitbringsel, selbst bedruckte T-Shirts und Leckereien.

Kein Job, um reich zu werden. Aber vielleicht einer, um glücklich zu sein.