Hamburg. Thomas Sevcik berät Metropolen: Er empfiehlt, die Hafenflächen zu bebauen – und 400.000 neue Einwohner in die Stadt zu holen.
Es kommt nicht alle Tage vor, dass die Redaktion des Abendblatts mehrere Leserbriefe zu einem Text bekommt, der in einer anderen Zeitung erschienen ist. Beim „FAZ“-Aufsatz „Für eine Renaissance des Nordens“ war das anders. Die Thesen des Verfassers Thomas Sevcik, Mitgründer des Thinktanks Arthesia mit Sitz in Zürich, hatten es in sich. Darin rät er Hamburg, sich langsam vom Hafen zu verabschieden und an seiner Stelle etwas Neues zu wagen.
Wie kommt ein Züricher dazu, in einer Frankfurter Zeitung über Hamburg zu schreiben? „Ich hatte bei einer Konferenz vorgeschlagen, den Hafen langsam zurückzubauen, um ein neues Hamburg weiterzubauen.“ Daraufhin entstand der Gastbeitrag im „FAZ“-Feuilleton, der ein großes Echo auslöste. „Mir ist aufgefallen, dass es in Hamburg ein Missverhältnis zwischen dem Glauben an die eigene Kraft und der tatsächlichen Dynamik gibt.“
Hafen Hamburg: Sevcik befasst sich seit Jahrzehnten mit Städten
Sevcik befasst sich seit Jahrzehnten hauptberuflich mit Städten – mit seinem Thinktank positioniert er Unternehmen, Städte und Regionen strategisch neu. So entwickelte er die Autostadt in Wolfsburg und beriet die Stadt Frankfurt. „Oft ist es hilfreich, Leute von außen anzuhören“, sagt der Experte im Abendblatt-Podcast „Was wird aus Hamburg?“.
Mit der Hansestadt befasste sich Sevcik erstmals, als das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ 2007 Hamburg zu einer der kreativsten Städte der Welt kürte – „und damit die eigene Stadt, was mir etwas seltsam vorkam. Das war für mich Anlass, mir Hamburg einmal genauer anzuschauen. Seit Jahrzehnten befasse ich mich mit der Frage der Neupositionierung von Städten und ihrer sozioökonomischen Weiterentwicklung.“
Der Schweizer hält den Hafen Hamburg für überschätzt
Hamburg hält der 54-Jährige, der lange in Hongkong und Los Angeles gelebt hat, für eine der europäischen Städte, die am stärksten unter ihren Möglichkeiten bleibt – betrachtet man ihr Potenzial, ihre Bewohnerinnen und Bewohner, ihre formidable Lage. „Das ist ein Phänomen in den Hafenstädten. Rotterdam ist erst jetzt aufgewacht, nachdem die Stadt mehrere Hauptsitze verloren hat.“
Sevcik setzt bei der „Renaissance des Nordens“ bei den großen innerstädtischen Hafenflächen an: „Der Hamburger Hafen ist wirtschaftlich wichtig für Hamburg, er ist aber nicht ökonomisch existenziell“, sagt der Schweizer. So liege seine Bruttowertschöpfung 2018 mit etwa fünf Milliarden Euro unter jener des international drittklassigen Finanzplatzes Hamburg.
Im klassischen Umschlag sieht er keine Zukunft, auch wegen der Verschlickung der Elbe und wachsender Schiffsgrößen. Er verweist auf das Hafen-Ranking der Weltbank: Dort sei Hamburg inzwischen auf Platz 328 (von 348) zurückgefallen. „Der Hafen ist vor allem im Kopf groß und bedeutend – in der Realität spielt er für die Stadt eine immer geringere Rolle.“
„Der Hafen wird sich irgendwann aus strukturellen Gründen selber schließen“
Er will ihn nicht sofort, aber mit einer Perspektive von mehreren Jahren oder Jahrzehnten herunterfahren. „Man kann es auch provokativ sagen: Der Hamburger Hafen wird sich irgendwann aus wirtschaftlichen Notwendigkeiten und strukturellen Gründen selber schließen.“
Diesen Schritt bewusst zu gehen wäre der Beweis, dass Hamburg eine Weltstadt ist, eine Metropole, die sich weiterentwickeln will. Dynamische Metropolen häuten sich wie eine Zwiebel, sagt Sevcik. Zuletzt habe es an Alster und Elbe an Dynamik gemangelt. „Für seine Größe ist die Stadt ziemlich selbstzufrieden. Es ist aber notwendig, das Hamburg von morgen anzugehen“, sagt der Thinktank-Begründer.
Hamburgs Zukunft liegt in Forschung und Wissenschaft
Ein Defizit sieht er in der Wissenschaftslandschaft, dem Fehlen großer Forschungseinrichtungen. „Hamburgs Hochschulen stehen in dem weltweiten Ranking relativ weit unten. Die Stadt glänzt nicht mit Exzellenz.“ Dabei sieht er durchaus Chancen, etwa beim Flugzeugbauer Airbus in Finkenwerder, aber auch in der Hightech-Industrie, die tendenziell verstärkt nach Europa zurückdränge. „Hamburg hat das Glück, im Hafen über viel Platz für intelligente urbane Produktion zu verfügen.“
Es gehe darum, den Strukturwandel nicht zu fürchten, sondern zu gestalten: „Die Finanzstadt Zürich hat inzwischen mehr Tech-Arbeitsplätze als Bankenjobs.“ Die Stadt habe sich gehäutet, mit 5000 Beschäftigten ist Zürich der größte Google-Standort außerhalb des kalifornischen San Francisco und eine wichtige Basis für Facebook und Microsoft.“
Gerade Hafenstädte hätten sich in der Vergangenheit immer wieder gewandelt, seien etwa zu Medienstandorten geworden, weil aus dem Hafen die Neuigkeiten kamen. „So wurde die Fleet Street in London das Zentrum des Zeitungsviertels.“ Das einzig Beständige ist der Wandel: Städte werden nie stehen bleiben, sie entwickeln sich weiter. Sevcik traut Hamburg eine ähnliche Entwicklung wie London zu, obwohl die Stadt weit kleiner und keine Hauptstadt ist: „Beide haben aber eine ähnliche Struktur, beide sind traditionelle Handelsstädte.“
Hamburg kann von London lernen
Was London schon erlebt habe, drohe nun Hamburg: Der Hafen wurde wegen der wachsenden Schiffsgrößen innerhalb von wenigen Jahren unbedeutend. „Aber die wichtigsten maritimen Wertschöpfungen sind geblieben, also Merchant-Banken, Reeder, Schiffsversicherer, Handelsfirmen. Die Kompetenz hat sich vom eigentlichen Schiffsverkehr emanzipiert.“ Zugleich festigte die britische Metropole mit dem großen Stadtentwicklungsprojekt Docklands ihren Platz als Medien-, Finanz- und Handelszentrum.
Darin sieht Sevcik einen Fingerzeig: „Ein Verlust des physischen Hafens heißt noch lange nicht, dass Hamburg seine maritime Kompetenz verlieren muss.“ Genf in der Schweiz zum Beispiel sei die Stadt der großen Rohstoffhändler, obwohl dort kein Rohstoff abgebaut wird.
Im Deutschlandvergleich fällt die Stadt zurück
Hamburg müsse sich in Zukunft weniger mit Hafenstädten wie Antwerpen oder Rotterdam messen, aber in Deutschland mehr mit Metropolen wie Berlin, Frankfurt, München, die international stärker beachtet werden. „Das sind die magischen drei! Hamburg fällt zurück, wenn wir auf den Flughafen schauen, die Direktverbindungen, die Ansiedlungen von Unternehmenssitzen oder Start-ups.“
Sevcik, der Architektur in Berlin studiert hat, sieht den Grund für diesen Bedeutungsverlust in dem „Status als große Hafenstadt, worauf sich Hamburg nach dem Fall der Berliner Mauer zu lange ausgeruht hat.“ Die Zeit nach der Wiedervereinigung waren Boomjahre für Hamburg – die Stadt war vom Zonenrand ins Zentrum gerückt, der Hafen hatte über Nacht sein Hinterland zurück.
In dieser Zeit, sagt Sevcik, habe Hamburg übersehen, dass die Schifffahrt nicht besonders margenstark und innovativ sei. „Andere Städte wie München, die keine Rohstoffe haben und schlechter gelegen sind, bauten einen Flughafen. Aus Flugzeugen steigen Menschen, aus Container kommen Waren.“
Hamburgs hanseatische Mentalität ist ein Standortvorteil
Zugleich hätten die Bayern in gute Hochschulen investiert, Berlin zog die Medien an. „Hamburg hat auch in den Zukunftsbereichen an Boden verloren. Es war nicht besonders klug, auf die Ranglisten beim Hafen zu schauen.“ War die Stadt in der ersten Internetwelle noch führend dabei, schwappte die zweite Welle an Hamburg vorbei.
Trotzdem macht der Züricher Hamburg Mut: „Die Stadt hat viele Qualitäten. Dazu gehören die Geschichte und die Mentalität, die man nicht unterschätzen darf. Ich kenne die Städte dieser Welt und weiß, dass Mentalitäten, Kulturen oder jahrhundertealte Strukturen überdauern.“ Das bürgerschaftliche Engagement, das kaufmännische Erbe, das Understatement hält er für Werte, die Wertschöpfung anziehen können.
„Man hat das nur in den vergangenen Jahren schleifen lassen, weil man durch Hafen, Logistik und Globalisierung leichtsinnig geworden ist.“ Sevcik rät, die Trümpfe der Stadt auszuspielen und die Hafenflächen anders zu nutzen. „Hamburg muss stärker werden bei Forschung und Wissenschaft, bei der urbanen Produktion. Das sollte man nicht unterschätzen – die Produktion kehrt zurück, aber nicht auf die grüne Wiese, sondern in ein urbanes Milieu, weil dort die Fachkräfte sind.“ Elektroautos oder Drohnen könnten zukünftig auf dem dann ehemaligen Hafengelände produziert werden.
Hamburg soll den Mut zur Spielwiese neuer Ideen haben
Zudem kann die Stadt beim Thema Wohnen punkten. Auch in den Londoner Docklands seien riesige Wohngebiete entstanden. Im Hafen könne man sich auf Neuland wagen, wenn die Stadt Planungs- und Genehmigungsverfahren verkürzt. „Wir könnten weggehen von der klassischen Stadt der 50er-, 60er-, 70er-Jahre, hin zu ganz neuen Konzepten oder Modellen, zu einer Art Spielwiese. Hamburg muss dringend solche Experimente zulassen und seine eingefahrenen Bahnen schleunigst verlassen.“
Darin sieht der Metropolenberater die Chance, die Stadt neu zu positionieren. „Es wäre überraschend, wenn diese Spielwiese eben nicht in Athen, London oder Berlin, sondern an der Elbe entstünde. Heute steht Hamburg für eine wohlhabende Stadt, angenehm, ruhig, aber auch ein bisschen langweilig. Niemand hält Hamburg für aufregend.“ Eine Mega-Bauausstellung könne das ändern: „In Hamburg machen wir eine Experimentierwiese und diskutieren die Stadt für morgen. Dieses Narrativ, dass Hamburg eine Experimentierstadt wird, wäre eine unglaublich interessante Botschaft.“
400.000 neue Einwohner würden Hamburg in vielen Rankings aufwerten
Er bringt noch ein weiteres Argument, warum Wohnungsbau elementar ist: „Es ist sehr wichtig, dass die Stadt schnell über die zwei Millionen-Einwohnermarke springt.“ Derzeit sind es 1,9 Millionen. Dieser Schritt sei psychologisch wichtig und für Rankings entscheidend.
„Damit würde die Stadt zu großen Metropolen wie Rom oder Madrid aufschließen und nicht wie jetzt Gefahr laufen, etwa von München (1,52 Millionen Einwohner) überholt zu werden.“ Er traut der Stadt auf den Hafenflächen ein Wachstum von bis zu 400.000 möglichen neuen Einwohnern zu. Als vermeintlich wachsende Stadt habe Hamburg hingegen nur unterdurchschnittlich zugelegt.
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Wären Olympische Sommerspiele ein Befreiungsschlag? Sevcik zögert. Einerseits sieht er darin eine Chance, weil sie die eine Stadt zwingen, Infrastruktur wie Städtebau neu zu denken und zu einem bestimmten Datum fertigzustellen. „Das habt ihr in Deutschland gerade ein bisschen nötig“, spottet Sevcik. Zugleich könnten die Spiele den Hafenumbau beschleunigen. Andererseits schränkt er ein, dass derlei Großveranstaltungen ihren Zenit überschritten hätten.
Sein Ratschlag: „Schaut drei Stunden gen Norden: Kopenhagen hat sich in der Zwischenzeit wirklich gemacht. Diese Stadt spielt heute in einer anderen Liga als Hamburg.“ 1990, als das Rennen anfing, sah das noch anders aus. „Eine Stadt, die in unmittelbarer Nähe liegt, ähnlich groß ist, eine ähnliche Wirtschaftsstruktur aufweist, eine ähnliche Mentalität, ist an Hamburg vorbeigezogen.“