Hamburg. Einsatz gegen 15-Jährigen mit acht Polizisten löst Reaktionen von Politik, Gewerkschaft und im Netz aus. Experte schätzt Szenen ein.

Ein Junge steht mittags an einer Hauswand in Hamburg, vor ihm erst vier, dann acht Polizisten – es kommt zur körperlichen Auseinandersetzung: Ein Video, das seit Montagabend auf Twitter kursiert, sorgt in sozialen Netzwerken für heftige Kritik an der Hamburger Polizei. Es zeigt einen Jugendlichen, der von mehreren Polizisten festgehalten und schließlich zu Boden gebracht wird. Die Polizei Hamburg bestätigte den Einsatz gegen den 15-Jährigen am Dienstagmittag.

Am Dienstag äußerten sich auch die Gewerkschaft der Polizei (GdP), die in dem Video keine übermäßige Gewaltanwendung erkennt, und ein Kriminologe der Universität Hamburg, der die Szenen eher kritisch bewertet. Auch Innensenator Andy Grote (SPD), Grünen-Politikerin Jennifer Jasberg und Deniz Celik von der Linken sowie Vertreter der Seebrücke Hamburg meldeten sich zu Wort.

Polizeigewalt gegen Jugendlichen in Hamburg?

Der Vorfall ereignete sich am Montag um 13.05 Uhr an der Straße Kohlhöfen in Hamburg-Neustadt. In der knapp eineinhalb Minuten langen Aufzeichnung, die zunächst auf Twitter verbreitet wurde, ist zu erkennen, wie mindestens acht Polizisten einen Jungen zunächst umstellen, ihn dann vor einer Wand festhalten und mit ihm ringen. Ob er geschlagen wird, ist nicht klar zu erkennen.

Auch, ob von dem Jugendlichen eine Bedrohung ausgegangen war, ist allein anhand der Sequenz nicht auszumachen. Das Einschreiten der Beamten wird nach Angaben der Polizei aktuell vom Dezernat Interne Ermittlungen (DIE) überprüft.

Hamburg-Neustadt: Polizei hält Jugendlichen auf E-Scooter an

Nach aktuellem Erkenntnisstand der Polizei sei der im Video gezeigte Junge einem Stadtteilpolizisten in den vergangenen Tagen mehrfach aufgefallen. „Der Jugendliche hatte mit einem Elektro-Roller wiederholt verbotswidrig den Gehweg benutzt“, sagte Polizeisprecher Holger Vehren.

Der Stadtteilpolizist habe den Jugendlichen in der Vergangenheit bereits mehrere Male mündlich verwarnt. Zuletzt hatte er ihm angedroht, beim nächsten Verstoß eine Ordnungswidrigkeitsanzeige gegen ihn zu fertigen, so Vehren weiter.

An dieser Hauswand in der Straße Kohlhöfen in Hamburg-Neustadt ereignete sich der umstrittene Polizeieinsatz.
An dieser Hauswand in der Straße Kohlhöfen in Hamburg-Neustadt ereignete sich der umstrittene Polizeieinsatz. © HA | Kaja Weber

Nach Angaben der Polizei wollte sich der Jugendliche am Montag nicht ausweisen und habe auch Alternativangebote zur Identitätsfeststellung nicht angenommen. So hätte der Stadtteilpolizist etwa vorgeschlagen, die Personalien des Jungen bei einer nahe gelegenen Schule bestätigen zu lassen.

Den Polizeiangaben zufolge soll der erste Beamte daraufhin mit drei weiteren Kollegen die Sachen des Jugendlichen auf Ausweisdokumente durchsucht und ihn dann erneut nach seiner Identität befragt haben – ohne Erfolg. „Der Jugendliche sperrte sich beim Ergreifen durch die Einsatzkräfte, schlug mit den Armen um sich, schubste die eingesetzten Beamten von sich weg und ballte teils seine Faust“, so Vehren. Danach seien weitere Einsatzkräfte hinzugezogen worden.

Handyvideo zeigt, wie Polizisten den Jungen an der Wand fixieren

Eine etwa vierminütige Version des Videos setzt an etwa diesem Punkt ein. Sie liegt dem Abendblatt vor und wird seit Montagnacht auch auf YouTube verbreitet. Zu Beginn des längeren Videos stehen sich vier Beamte und der Junge gegenüber. Die Polizisten versuchen offenbar, ihn an einer Wand zu fixieren. In einer Sequenz ist zu sehen, wie eine Beamtin dem Jungen ins Gesicht fasst, ein anderer Beamter drückt ihm offenbar mehrfach die Hand auf Hals- und Brustbereich.

Dann scheint es, als ob ein Beamter einen Schlagstock zieht. Ob er damit auch zuschlägt, ist nicht zu erkennen. Nach etwa einer Minute treffen dem Video nach weitere Polizisten am Ort ein. Der Jugendliche scheint sich zu wehren, mit den Armen zu zappeln und die acht ihn direkt umgebenden Beamten von sich zu schubsen, sobald er berührt wird.

Beobachter versuchen, die Situation zu deeskalieren

Laut Pressemitteilung der Polizei bestätigen die Beamten den Einsatz von „einfacher körperlicher Gewalt gegen den sehr großen und starken Jugendlichen“ – Ziel sei es gewesen, ihn zum Polizeikommissariat zu bringen, so Holger Vehren.

Dem Video nach fordern die Polizisten den Jugendlichen mehrmals lautstark auf, sich auf den Boden zu legen, brüllen schließlich. Der Junge kommt der Aufforderung nicht nach. Es ist zu hören, wie Beobachter versuchen, die Situation zu deeskalieren („Bleiben Sie doch ruhig“) und mehrfach darauf hinweisen, dass es sich bei dem Festgehaltenen um einen 15-Jährigen handele. Ein Augenzeuge bezeichnete die Maßnahmen gegenüber dem Abendblatt als „unverhältnismäßig“.

Im Verlauf des Videos ist zu sehen, dass der Jugendliche stark atmet und sich aus nicht erkennbarem Grund das T-Shirt auszieht. In diesem Moment bringen die Polizisten ihn zu Boden. Der Jugendliche liegt mindestens eine Minute lang am Boden, im Video ist zu hören, wie er sagt, er bekomme keine Luft. Einige Passanten versuchen offenbar, näher heranzutreten und ihn zu beruhigen.

Gegen den Jugendlichen wurde Pfefferspray eingesetzt

Ein Zeuge, der die Szene nach eigenen Angaben aus einer anderen Perspektive als die Filmerin beobachtet hat, schilderte am Montagabend seine Beobachtungen gegenüber dem Abendblatt. Er spricht von mindestens zehn Polizisten und 30 Passanten und Anwohnern, die die Szene ebenfalls beobachtet haben sollen. Demnach sollen mindestens zwei Polizisten auf dem Jungen gelegen haben, außerdem sollen ein Schlagstock und Pfefferspray gegen ihn eingesetzt worden sein.

„Dem Jugendlichen wurde mehrfach angedroht, dass gegen ihn auch Pfefferspray eingesetzt wird, was letztlich auch geschah“, sagte Polizeisprecher Vehren am Dienstag. Danach sei es den Beamten gelungen, den Jungen zu Boden zu bringen und zu fesseln. Die Einsatztechniken seien laut Polizei so kontrolliert worden, dass der Jugendliche jederzeit die Möglichkeit gehabt habe, zu atmen.

Der Jugendliche blieb nach ersten Erkenntnissen unverletzt

Im Anschluss soll er zum Kommissariat gebracht worden sein, wo die Beamten die Identität des 15 Jahre alten Jugendlichen feststellen konnten. Der Junge sei dort von einer Rettungswagenbesatzung untersucht worden, so Vehren. „Nach hier vorliegenden Informationen lagen keine Verletzungen des 15-Jährigen vor.“

Anschließend wurde der Junge von seinen Erziehungsberechtigen abgeholt. Gegen den Jugendlichen wurde ein Strafverfahren wegen Widerstands eingeleitet. Vehren: „Bei der Widerstandshandlung wurde ein Beamter leicht verletzt.“

Die Polizei Hamburg verweist auf das „Spannungsfeld“, in dem man sich bei Zwangsmaßnahmen gegen körperlich starke Jugendliche bewege. „Klar ist, dass die Polizei ihrem gesetzlichen Auftrag Straftaten und Ordnungswidrigkeiten zu verfolgen nachkommen muss“, so Polizeisprecher Vehren. Körperliche Gewalt könne bei unkooperativen Personen erforderlich sein, die deeskalierende Maßnahmen ablehnen.

Kriminologe: Kein Grund, ihn mit neun Beamten zu Boden zu werfen

Der Kriminologe Nils Zurawski arbeitet an der Universität Hamburg unter anderem zu den Themen Gewalt und Kontrolle im öffentlichen Raum. Auf Grundlage der im Netz verbreiteten Szenen sagt er auf Abendblatt-Anfrage: „Nehmen wir mal an, er hat den E-Scooter ganz normal gemietet und ist damit auf dem Bürgersteig gefahren – ist doof, sollte man nicht machen. Ist das ein Grund, ihn mit neun Beamten zu Boden zu werfen? Nein, ist es nicht.“

Zurawski beobachtet außerdem, dass sich der Junge in dem im Video abgebildeten Zeitraum nicht bewege, sobald die Polizisten zur Seite treten. Je mehr er aber angefasst werde, desto mehr gerate er in Stress und wehre sich – Panik und Gefühle des „in die Ecke gedrängt sein“ seien auf dem Video erkennbar.

Kriminologe: Bürger dürfen solche Situationen filmen

Jahrelang ausgebildete Beamte müssten eine Begründung haben, um so zu agieren, wie es auf dem Video zu sehen ist, so der Kriminologe. „Sie hätten die Chance gehabt, es anders zu lösen und sie haben es nicht gemacht. Niemand spricht ruhig mit ihm“, sagte Zurawski zu der vierminütigen Videosequenz. Gegebenenfalls hätte man etwa noch länger zurücktreten und abwarten müssen, meint er.

Außerdem verweist Zurawski darauf, dass Bürger solche Situationen filmen dürften. Im Video ist mehrfach zu hören, wie verschiedene Polizisten die Filmerin auffordern, ihre Handyaufzeichnung zu beenden. Die Beamten kündigen mehrmals an, der Frau das Handy abzunehmen. Dies passiert bis zum Ende der Aufzeichnung allerdings nicht.

„Die Polizei muss solche Leute immer unterwerfen, Reden und Aushandlung ist nicht deren Mittel der Handhabe“, sagt Zurawski mit Blick auf das Video, „kein Gehorsam geht nicht – das ist häufig ein Problem.“

GdP Hamburg: Polizeigewalt nicht zu erkennen

Der Landesvorstand der Gewerkschaft der Polizei Hamburg (GdP) äußerte sich ebenfalls am Dienstag in einer Pressemitteilung zu der Verbreitung des Videos. Darin stellt die GdP fest, dass „polizeiliche Maßnahmen mit Zwang durchgesetzt werden können, wenn dies notwendig ist.“ Und weiter: „Sogenannte ‚Polizeigewalt‘ vermögen wir hier nicht zu erkennen“.

Gleichzeitig beklagte die Gewerkschaft: „Beinahe hat man das Gefühl, Polizeigewalt und latenter Rassismus sollen um jeden Preis herbeigeschrieben werden.“ Dies sei nach Einschätzung der GdP auch eine Folge der Äußerung der SPD-Vorsitzenden Saskia Esken. Sie hatte im Juni von „latentem Rassismus“ deutscher Polizisten gesprochen.

Die Gewerkschaft erwarte Unterstützung durch die Politik, heißt es in der Mitteilung weiter. In diesem Zusammenhang kritisiert die GdP Hamburg auch die Verbreitung des Einsatzvideos im Internet: „Kein Polizeibeamter muss es hinnehmen, dass sein Bildnis ohne seine Einwilligung gegenüber einem Millionen-Publikum verbreitet wird und es auch noch zu beleidigenden Kommentaren kommt.“ Die GdP Hamburg beklagt den Umgang der „Netzgemeinde“ mit Polizisten und fordert ein klares Vorgehen gegen Beamtenbeleidigung in den sozialen Medien.

Innensenator Grote verteidigt Polizeieinsatz

Innensenator Andy Grote verteidigte den Polizeieinsatz. „Videoausschnitte wie dieser werfen häufig Fragen auf“, schrieb der SPD-Politiker am Dienstagabend bei Twitter. Der Ablauf des Einsatzes zeige aber das Bemühen der Beamten, eine Eskalation zu vermeiden. „Schlichte Gegenwehr kann grundsätzlich nicht zum Verzicht auf rechtmäßige polizeiliche Maßnahmen führen“, so Grote weiter.

Jennifer Jasberg, Vorsitzende der Grünen-Bürgerschaftsfraktion, sagte am Dienstag, dass Zwangsmaßnahmen der Polizei möglich, aber nachvollziehbar sein müssten. „Die Polizei spielt eine sehr wichtige Rolle in unserem Rechtsstaat und die Arbeit der Beamt*innen ist für jede und jeden eine Garantie für die eigene Unversehrtheit“, so die Grünen-Politikerin. Umso wichtiger sei es, dass es ein großes Vertrauensverhältnis zwischen Gesellschaft und der Polizei gebe.

Auch sie sieht die Gefahr einer gesellschaftlichen Spaltung, die durch nicht eingeordnete Videobilder umstrittener Einsätze im Internet verstärkt werden könne. „In diesem konkreten Fall wird das Einschreiten der Beamt*innen bereits geprüft“, so Jasberg.

Deniz Celik kritisiert Einsatz der Polizei Hamburg scharf

Massive Kritik an dem Polizeieinsatz übt die Linken-Bürgerschaftsfraktion. „Ein derartig gewaltsamer Einsatz von acht Polizisten gegen einen Jugendlichen, dem lediglich eine Bagatelle vorgeworfen wird, ist vollkommen inakzeptabel und offenkundig unverhältnismäßig“, sagte Deniz Celik, innenpolitischer Sprecher der Linken-Fraktion. „Statt auf Deeskalation zu setzen, treibt die Polizei eine Eskalation der Situation voran.“

Der Vorfall zeige, dass es eine unabhängige Polizeibeschwerdestelle brauche, so Celik – die Planungen des Senats in diesem Zusammenhang bezeichnet er als „Augenwischerei“. Die Linksfraktion reicht zu dem Polizeieinsatz eine Anfrage an den Senat mit 20 Fragen ein.

Seebrücke Hamburg fordert Meyer-Entlassung

Die Seebrücke Hamburg forderte sogar die Entlassung von Polizeipräsident Ralf Martin Meyer. „Die Polizei Hamburg hat ein Problem mit Gewalt und mit Rassismus. Dieses Alltagswissen vieler junger Persons of Color wird durch das Video nur ein weiteres Mal dokumentiert“, sagt Christoph Kleine von der Seebrücke.

Die Organisation verweist unter anderem auf das Vorgehen der Polizei nach der Black-Lives-Matter-Demonstration am 6. Juni. Dieser Einsatz war in sozialen Medien ebenfalls stark kritisiert worden.

Auch Satiriker Jan Böhmermann griff den Vorfall auf. Er twitterte zu der Erklärung der Polizei, sie verhalte sich „taktisch wie ein 15-Jähriger, der sich wegen einer harmlosen Ordnungswidrigkeit plötzlich mit dem Rücken zur Wand stehend von acht Bewaffneten umzingelt sieht und angebrüllt wird: Sie leistet sinnlosen Widerstand.“