Hamburg. In Billbrook sind deutschstämmige Bewohner nur noch eine verschwindende Minderheit. Ortsbesuch in einem Viertel der Gegensätze.
Der Wagen ruckelt über die Brücke, und man ahnt, was möglich wäre. Rechts funkelt die Bille im Sonnenlicht. Links sattes Grün, frische Luft zieht durchs Autofenster, kaum zehn Fahrtminuten von der City entfernt. Ein Naherholungsgebiet. Vielleicht einmal ein In-Stadtteil. Und dann der Blick geradeaus: Lastwagen, Baugerät, ein Schutthaufen, Gewerbehallen, versprengt stehende Wohnhäuser.
Willkommen in Billbrook. Einer dieser Stadtteile, von denen man selten hört, und wenn doch, selten Gutes.
Montag dieser Woche war so ein Tag: Nach neuen Daten des Statistikamts Nord ist Billbrook der erste Stadtteil, in dem fast ausschließlich Zuwanderer leben. 85 Prozent der Bevölkerung haben einen Migrationshintergrund. Bei den Minderjährigen sind es sogar 98 Prozent. Futter für jene, die glauben, dass Hamburg schleichend überfremdet werde.
„Na klar, es sind zu viele Migranten“, das sagen fast alle 2200 Bewohner, wenn man sie fragt. Linke, Rechte, Flüchtlingshelfer, sogar Flüchtlinge selbst. Nur ist es nicht so einfach. Wer sich aufmacht und nach den wenigen Deutschen ohne Migrationshintergrund sucht, trifft in Billbrook auf etwas anderes als Ablehnung, Überfremdung oder Aggression: Das Gefühl, gemeinsam vergessen worden zu sein.
Billbrook galt einmal als Geheimtipp – das ist vorbei
Über den Hauptstraßen Billbrooks leuchten die Firmenlogos an den Hallen, von Firmen wie J. J. Darboven. Sie dominieren jede Straße zwischen den fünf Kanälen – auf den ersten 500 Metern auf dem Billbrookdeich steht nur ein Wohnhaus, gelbe Farbe, schlecht gepflegt. Der Bewohner Daniel (37) öffnet in Schlappen die Tür. „Ich bin vor sechs Jahren hergezogen, weil es einfach günstig und schön war“, sagt er. Billbrook war ein Geheimtipp für ihn.
Seine Nachbarn sind allesamt Polen, Russen, Sinti, man grüßt sich, aber man hat sich nie näher kennengelernt. Daniel ist das ganz recht, „Leben und leben lassen“, sagt er. Er ist arbeitslos, fast ein Drittel der Menschen in Billbrook bezieht Hartz IV. Noch so ein Spitzenwert, der auch durch die niedrige Einwohnerzahl begründet ist. So wird in der Statistik aus einem moderaten Problem eine extreme Quote.
Daniel sagt, er warte nicht auf mehr Angebote im Stadtteil. „Gentrifiziert wird man hier nicht so schnell.“ Er sei mit dem Fahrrad schnell an den Seen weiter im Osten und schnell in der Innenstadt, eigentlich halte er sich kaum in Billbrook auf. Auf der Straße hat ein Mercedes mit südländischem Fahrer ein Mädchen abgeholt und rast in Richtung City davon. Vorbei an Flüchtlingen, die die Strecke zu Fuß bewältigen, weil der Bus so selten fährt. Alle haben die Betontürme von Billstedt als Ziel, von hier aus die nächste Oase städtischen Lebens. „Die Flüchtlinge können einem manchmal leidtun“, sagt Daniel. Billbrook ist nun vor allem ihr Dorf.
Vorn an der Berzeliusstraße hat die städtische „Fördern & Wohnen“ eine neue Unterkunft gebaut. Bereits in den 1990ern lebten dort Flüchtlinge; es entwickelte sich ein Fiasko aus Kriminalität, Ratten, Kakerlaken, Vandalismus, Müll. Trotz Betreuung verhungerte ein Einwohner. Die Bedenken gegen die neue Unterkunft waren groß, aber diesmal soll es besser laufen. Zwischen den roten Häusern blitzen topmoderne Spielplätze für die vielen Kinder.
Die jungen Erwachsenen sitzen auf dem Bürgersteig, rauchen. Jeden deutschen Besucher begrüßen sie freudestrahlend, bitte unbedingt Deutsch sprechen, kein Englisch. „Ich kann die Gesichter der anderen bald nicht mehr sehen“, sagt ein Bewohner und lacht. „Wir sind dankbar, aber es ist auch langweilig. Warten, warten, warten. Dass endlich etwas passiert.“
Nach den Daten der Statistiker haben Billbrooker im Schnitt 8,6 Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung, das ist ihre Lebenswelt. Die Kinder der Unterkunft sind wissbegierig, gehen gern zur Schule, heißt es hier. Auf der einzigen Grundschule im Stadtteil wurde aber bereits 2014 erstmals eine Migrantenquote von 100 Prozent erreicht. Glück hat, wer weiter entfernt zur Schule gehen kann. Das bedeutet mehr Kontakt zu deutschen Kindern, noch besseres Lernen der Sprache. Auch mehr von der Hoffnung, Billbrook irgendwann für das richtige Stadtleben zu verlassen.
Die Bewohner fühlen sich von der Politik vernachlässigt
Am Billbrookdeich leben weitere Hunderte Flüchtlinge in einer älteren Unterkunft, insgesamt machen sie gut die Hälfte der Bewohnerzahl Billbrooks aus. An den Balkonen hängen Satellitenschüsseln, um mehr als die üblichen deutschen Sender zu empfangen. Um die Ecke wohnen in Einfamilienhäusern jene Einheimischen, die bleiben. Wie der Gartenpfleger Ingo Hoppe (57) und ein Nachbar, die irgendwie überrumpelt sind von dem, was langsam aus ihrem Stadtteil geworden ist.
„Vor Jahrzehnten war hier eine Schotterpiste, jetzt haben wir die Flüchtlinge da drüben, und hier ist jede Menge los“, sagt Hoppe. Es falle schwer, mit den Flüchtlingen ins Gespräch zu kommen, immer wieder ziehen welche aus und neue kommen. Vor allem ist die Ruhe von früher vorbei, sagt Hoppe – und daran trügen die Flüchtlinge nicht die Hauptschuld. Die Brücken in Billbrook wurden ausgebaut, nun donnern ständig die Lastwagen, oft auch zwei Kolosse halb über den Gehweg aneinander vorbei. „Und es gibt Unfälle zuhauf, aber einen Zebrastreifen bekommen wir nicht“, sagt ein Nachbar.
Bei „Mischgebieten“ wie Billbrook sei es immer ein „Dilemma“, gleichzeitig für die Anwohner und die Wirtschaft zu sorgen, heißt es aus dem Senatsumfeld. So wie Ingo Hoppe und der Nachbar das sehen, hat sich die Stadt für die Firmen und gegen ihre Lebensqualität entschieden. „Trotzdem wohne ich gern hier“, sagt Ingo Hoppe. Im Nachbarhaus lebt eine Familie mit zwei jugendlichen Söhnen, sie sind im Urlaub und sollen ansonsten eher unter sich bleiben, heißt es. Die Mutter der Familie sei eine derjenigen, die sich „energisch wehren“.
Die Stadt will noch mehr Gewerbe auf dem Areal
Weder die Anwohner noch die Flüchtlinge wissen davon, aber die Stadt hat einen Plan für ihr Viertel. Entlang der Wasserlinien wird der Hamburger Osten entwickelt, soll „näher an die Stadt rücken“, wie Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) sagt. Für Billbrook bedeutet das vor allem: noch mehr Gewerbe. Der Stadtteil solle ein „Magnet für Industrieansiedlungen“ werden, heißt es. „Wir sehen das Potenzial, auch die Aufenthaltsqualität zu verbessern“, sagte ein Sprecher der Stadtentwicklungsbehörde. Arbeitsplätze haben aber Vorrang. Nahe der Grenze zu Billwerder steht ein altes Haus, daneben eine Schaukel und ein Zaun, hinter dem sich schon der Schutt für einen Gewerbebau türmt. Die 33-jährige Astrid (Name geändert) sitzt im Garten, sie ist eine derjenigen, die eine neue Solidarität schaffen wollen. „Es geht ja etwa bei der Integration der Flüchtlinge erst los“, sagt sie und organisiert Sprachkurse; „natürlich nicht genügend“, aber immerhin.
Ihr Sohn ist anderthalb, in Hamburg geboren. Sie kam selbst als Flüchtling aus der Ukraine, inzwischen ist ihr Akzent abgeschliffen, sie nennt ihre Stadt „Hamburch“. Der Migrationshintergrund „sei ein politischer Begriff“, sagt Astrid. Am Ende, sagt sie, komme es auf die Einstellung der Menschen an.
Sie wollte ihren Sohn in die Kita neben der Flüchtlingsunterkunft bringen, aber hat es sich anders überlegt. „Er war der einzige Junge mit blondem Haar. Das fand ich nun auch nicht fair, ihn die Fehler der Politik ausbaden zu lassen“. Der kleine Junge – ein echter Billbrooker – wird nun in einem anderen Viertel betreut.