Hamburg. Richterin kritisierte Polizei und Staatsanwaltschaft: Freispruch für Angeklagten, der aufgrund “dünner Beweislage“ in U-Haft saß.
Im Schutz des Gedränges in der Silvesternacht 2015/2016 auf dem Kiez wurden etliche Straftaten begangen. Rund 400 Frauen wurden bedrängt, betatscht, beraubt. Doch der Angeklagte im letzten Prozess um die Übergriffe war an diesen Vergehen „weder als Täter noch als Teilnehmer beteiligt“, sagte die Kammervorsitzende am Donnerstag und begründete damit den Freispruch für den Iraner.
75 Tage saß Behzad S. demnach unschuldig hinter Gitter, zweieinhalb Monate, für die ihm das Gericht eine Entschädigung zusprach. Laut Gesetz sind 25 Euro pro Tag vorgesehen. Dem 34-Jährigen war sexuelle Nötigung im besonders schweren Fall, gefährliche Körperverletzung, Raub und tätliche Beleidigung vorgeworfen worden. Er war angeklagt, aus einer Gruppe heraus drei Frauen bedrängt und betatscht zu haben. Doch dass er sexuelle Übergriffe begangen habe, „ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme widerlegt“.
Richterin kritisiert Polizei und Staatsanwaltschaft
Eine Wiedererkennung des Angeklagten durch die Opfer habe es nicht gegeben. Eine der Frauen habe bei einer wiederholten Befragung irrtümlich ihre Erinnerung mit anderen Erlebnissen vermengt und letztlich lediglich eine Schlussfolgerung gezogen. In mehreren Befragungen zuvor hatte die Zeugin, die von einem Täter penetiert und von weiteren begrapscht worden war, betont, den Haupttäter wohl wiedererkennen zu können. Dieser „Mister X“ genannte Mann konnte nicht ermittelt werden. Die anderen Täter, die bedrängt hatten, habe sie nicht hinreichend genau gesehen, hatte das Opfer mehrfach bekundet. Auch Übersichtsaufnahmen von dem Gedränge auf der Großen Freiheit hatten laut Gericht nicht ausreichenden Beweiswert.
Zwischen dem Zeitpunkt, an dem die angeklagten Taten begangen wurden, und dem, an dem ein Fotograf die Bilder geschossen hatte, lagen demnach mindestens 15 Minuten. Die Richterin kritisierte die Arbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft. Angesichts der „dünnen Beweislage“, so die Vorsitzende, könne man sich fragen, „wieso der Angeklagte in Untersuchungshaft kam und wieso die Staatsanwaltschaft an der Anklageerhebung festhielt“.
Nur vier Anklagen aus insgesamt 245 Ermittlungsverfahren
Bei den Vorfällen aus der Silvesternacht handele es sich um ein „ kriminelles Phänomen, das in dieser Weise neu war“, weil die Taten in einer großen Menschenmenge stattfanden. Dies habe Ängste in der Gesellschaft ausgelöst. Da stelle sich die kriminalistisch interessante Frage, welchen Einfluss solche Ängste auf die Ermittlungen ausgelöst haben und ob möglicherweise Vorurteile eine Rolle gespielt hätten.
Im Zusammenhang mit den Übergriffen in der Silvesternacht leitete die Staatsanwaltschaft 245 Ermittlungsverfahren ein. In vier Fällen erhob sie Anklagen gegen insgesamt sechs Männer. Mit dem jüngsten Urteil vom Donnerstag endeten insgesamt drei mit Freisprüchen. In einem anderen Verfahren, bei dem eine Frau in der Nähe des Bahnhofs Stellingen sexuell missbraucht wurde, erhielt ein Afghane eine Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung.