Hamburg. Wer sind die Frauen, die Sex verkaufen? Und warum tun sie das? Schicksale, Sehnsüchte, Geschäfte – die große Reportage.
Früher boten auf St. Pauli bis zu 1500 Prostituierte ihre Dienste an, heute nur noch 350. Dafür finden Freier inzwischen auch in Fuhlsbüttel oder Bramfeld das, was sie suchen. Unser Autor Daniel Schaefer über die größten Veränderungen im Rotlichtmilieu, düstere Schicksale und Frauen wie Mia, die ihren Job mögen und sogar Familie haben.
Es scheint, als hätte jemand die Reviere der Frauen akkurat mit unsichtbaren Grenzmarkierungen abgesteckt. Vom Burger King an der Ecke Reeperbahn/Davidstraße bis hoch zur Herbertstraße stehen sie in einem nahezu identischen Abstand von vier Metern. Das macht es den vorbeieilenden Männern fast unmöglich, ihnen auszuweichen. „Huhu, was ist denn mit dir?“ – „Hey du, bleib doch mal stehen!“ – „Hallo Süßer, Titti, Titti.“
Doch an diesem verregneten Novemberabend sind nur wenige Männer unterwegs – zu wenige aus Sicht der bis zu 15 Frauen, die – mit tief in ihren Jackentaschen vergrabenen Händen – auf dem Bordstein ungeduldig von einem Bein aufs andere wippen. Wer heute noch etwas verdienen will, darf um kein Wort verlegen sein.
Auch Mia wartet an diesem Abend noch immer auf ihren ersten Gast. Die 34-Jährige sitzt am Tresen eines kleinen Nachtclubs unweit der Herbertstraße, nippt an ihrem Sektglas und blickt immer wieder zur Tür. Im Hintergrund dröhnt Billy Idol aus den Boxen, während über dem Tresen ein Porno auf dem Bildschirm flimmert, der sie jedoch nicht zu interessieren scheint. „Kenne ich schon alle auswendig“, sagt Mia trocken.
Die Angst vor Stigmatisierung
Eigentlich hat Mia einen anderen Namen. Im Club jedoch stellt sie sich den Männern mit ihrem Fantasienamen vor, bevor es nach einem kurzen Small Talk die Stufen in die oberen Etagen hinaufgeht. Ihren wirklichen Namen möchte Mia naturgemäß nicht in der Zeitung lesen. Ihr achtjähriger Sohn und die Nachbarn ihres Mehrfamilienhauses in Altona sollen nicht erfahren, wo die Mutter ihre Zeit verbringt, wenn sie abends das Haus verlässt.
Denn Prostitution oder Sexarbeit – wie viele inzwischen sagen, um die Tätigkeit klarer als eine Form der Erwerbsarbeit zu definieren – ist trotz solcher sprachlichen Bemühungen nach wie vor ein Tabuthema. Zwar ist es seit Einführung des Prostitutionsgesetzes im Jahr 2002 offiziell nicht mehr sittenwidrig, sich zu prostituieren. Doch von der damals ebenfalls geschaffenen Möglichkeit, sich bei den Behörden anzumelden und sich entsprechend zu versichern, machen nur die wenigsten Gebrauch. „Die Betroffenen haben Angst davor, von der Gesellschaft geächtet zu werden, daher ist ihnen der Schutz ihrer Anonymität besonders wichtig“, sagt eine Hamburger Sozialarbeiterin. Um trotzdem versichert zu sein, melden sich viele in anderen Berufen an, sei es als Tänzerin oder als Kellnerin. So macht es auch Mia.
Bundesweit bis zu 1,2 Millionen Freier – pro Tag
Wie viele Prostituierte es in Deutschland gibt, kann daher niemand so genau sagen. Um das zu ändern, hat sich die Große Koalition auf ein neues „Prostituiertenschutzgesetz“ geeinigt, das zum 1. Juli dieses Jahres in Kraft treten soll. Es verlangt nicht nur eine amtliche Erlaubnis und regelmäßige Zuverlässigkeitsprüfungen von Bordellbetreibern, im Fokus steht vor allem die neue Anmeldepflicht für Prostituierte. Alle Betroffenen müssen sich künftig bei der zuständigen Behörde ihrer Kommune registrieren lassen und regelmäßig zur Gesundheitsberatung erscheinen.
Viele Prostituierte und ihre Interessenverbände kritisieren das Gesetz als Bevormundung und Gängelung und verweisen auf den Schutz der Anonymität der Betroffenen. Behörden indes, allen voran die Polizei, erhoffen sich endlich einen besseren Überblick über das Ausmaß von Prostitution in Deutschland. Bislang ist man da auf grobe Schätzungen angewiesen.
Bundesweit schwankt die Zahl je nach Schätzung zwischen 200.000 und 400.000. Eine zuverlässige Einschätzung wird laut Bundesfamilienministerium bislang auch dadurch erschwert, dass viele der Betroffenen nur nebenbei, gelegentlich oder für einen kurzen Lebensabschnitt der Prostitution nachgehen. Die Zahl der Freier wird je nach Quelle auf insgesamt eine bis 1,2 Millionen geschätzt – am Tag. Das Statistische Bundesamt schätzt den Jahresumsatz im Rotlichtmilieu auf rund 14,6 Milliarden Euro.
In Hamburg geht die Polizei derzeit von rund 2200 Prostituierten aus, mehr als zwei Drittel von ihnen sind Ausländerinnen. „Wir können relativ genau nachvollziehen, wie viele Arbeitsplätze es gibt, an denen der Prostitution nachgegangen wird“, sagte ein Hamburger
Milieuermittler dem Abendblatt. Konzentrierte sich Prostitution früher vor allem auf die Straßen rund um den Steindamm und die Reeperbahn, so gibt es inzwischen eine Vielzahl von Bordellen, FKK-Clubs, Laufhäusern, Massagesalons oder Modellwohnungen, die im gesamten Stadtgebiet zu finden sind, die meisten davon im Osten.
„Wer früher zu einer Hure wollte, der ging auf den Kiez“
Auf St. Pauli, wo früher zwischen Fischmarkt und Paul-Roosen-Straße bis zu 1500 Frauen ihre Dienste anboten, arbeiten heute gerade noch 250 bis 350 Prostituierte, je nach Jahreszeit. „Wer früher zu einer Hure wollte, der ging auf den Kiez“, erinnert sich ein Taxifahrer. Heute chauffiere er die Männer auch nach Bramfeld oder Fuhlsbüttel. Erotikportale im Internet machen es Freiern inzwischen deutlich einfacher, Kontakt zu „Sexy Sandy“ oder „Sklavin Joana“ aufzunehmen – egal wo diese gerade arbeiten.
Auch Mia hat in den vergangenen zwölf Jahren in vielen Etablissements der Stadt angeschafft. Als sie das erste Mal ihren Körper für Geld verkaufte, war sie 22. Viel Überwindung kostete es sie aber schon damals nicht, wie sie sagt. „Geld gegen Sex“ – ein Prinzip, das sie im Leben sehr früh kennengelernt hat. Als Kind wunderte sie sich zwar noch über die vielen Männer, die bei ihrer Mutter ein- und ausgingen. Aber spätestens mit Beginn der Pubertät begann sie zu verstehen, warum ihre Mutter so häufig Besuch bekam. Man könnte daraus schließen, dass Mia in ihr Leben als Prostituierte quasi hineingeboren wurde – auch wenn sie selbst das nicht so sieht. Die Entscheidung, als Prostituierte zu arbeiten, so betont sie, habe sie später für sich allein getroffen. Es war die „Aussicht auf einen Topverdienst“, die sie nach einer abgebrochenen Friseurausbildung dazu bewog, auf die Kontaktanzeige in einer Hamburger Boulevardzeitung zu reagieren.
Polizei: 95 Prozent der Prostituierten arbeiten nicht freiwillig
Sie begann in einem Bordell in Bramfeld. „Beim ersten Mal wusste ich noch gar nicht, was ich mit den Männern alles machen soll“, erinnert sich Mia. Eine ältere Hure, die jahrelang in der Herbertstraße gearbeitet hatte, nahm sich schließlich ihrer an: „Mach dir keinen Kopf, Mädel. Wenn du nackt bist, geht bei denen eh alles aus, und dann hast du das Sagen.“ Von ihr habe sie in ihrer Anfangszeit einige wertvolle Tipps bekommen, was den Umgang mit den Freiern angeht.
„Meine Klappe ist bis heute mein wichtigstes Werkzeug“, sagt Mia und fügt augenzwinkernd hinzu: „Ich arbeite hauptsächlich mit dem Mund – ohne ihn direkt zu benutzen.“ Mal gelte es, den Mann durch Komplimente anzuspornen, mal, ihm die Grenzen seines Tuns aufzuzeigen. So habe sie es immer vermeiden können, sich von ihren Kunden zum bloßen Gebrauchsgegenstand machen zu lassen. Ohne gegenseitigen Respekt, betont sie, laufe bei ihr gar nichts. Ärger mit Freiern habe sie deshalb nur selten gehabt. Vielleicht auch, weil sie das Glück gehabt habe, sich die Männer immer aussuchen zu können, mit denen sie schlief.
Glaubt man den Aussagen von Polizisten, die sich speziell mit dem Hamburger Rotlichtmilieu beschäftigen, gehört Mia damit zu den wenigen Frauen, die selbstbestimmt ihrem Gewerbe nachgehen. Bis zu 95 Prozent der Prostituierten in Hamburg, so heißt es, arbeiteten nicht freiwillig. Das bedeutet zwar nicht, dass sie im strafrechtlichen Sinne als Zwangsprostituierte gelten, dennoch geht man davon aus, dass sie den Job nicht aus eigener Überzeugung machen und einen großen Teil ihrer Einnahmen an jemand anderen abgeben müssen.
Undine de Riviére: "Wir sind keine Opfer"
Eine Einschätzung, die Sozialarbeiter und Prostituiertenverbände zum Teil scharf kritisieren. „Wir werden zu Opfern gemacht und unsere Kunden zu Tätern, dabei stimmt das nicht“, sagt beispielsweise Undine de Rivière. Die 43-Jährige verdient seit 22 Jahren ihr Geld als Sexarbeiterin, wie sie betont, betreibt in St. Georg ein eigenes SM-Studio und ist zudem Sprecherin des Berufsverbands erotische und sexuelle Dienstleistungen (BesD). Der vertritt bundesweit mehr als 300 Mitglieder.
Die zierliche Frau mit den kupferfarbenen Haaren hat nach eigener Aussage „viel Spaß an zahlreichen Facetten des bizarren Sex“ und lebt sie auch in ihrem Beruf aus. Dafür lässt sie sich auch mal fesseln und knebeln oder greift selbst zum Rohrstock. Geschlechtsverkehr ist bei ihr – anders als bei vielen klassischen Dominas – auch kein Tabu. Selbst die eine oder andere Gangbang-Party, bei der mehrere Männer mit einer Frau verkehren, habe sie schon besucht, gibt sie offen zu.
Undine kann verstehen, dass sich viele Menschen nicht vorstellen können, dass sie derlei Tätigkeiten freiwillig macht. „Und aus diesem ,Ich kann es mir für mich nicht vorstellen‘ wird dann schnell ein ,Das kann doch keiner freiwillig mitmachen‘“, sagt sie. Es ärgert sie, dass Frauen wie sie in der Öffentlichkeit so häufig als Opfer wahrgenommen werden. Der Fehler liegt ihrer Ansicht nach vor allem darin, dass Prostitution in der öffentlichen Debatte meist mit Menschenhandel gleichgesetzt werde und die Diskussion deshalb stets in eine falsche Richtung laufe. Natürlich weiß auch de Rivière, dass es Fälle von kriminellem Menschenhandel und Zwangsprostitution gibt. „Der Anteil der Betroffenen ist jedoch gering – auch wenn jeder Fall einer zu viel ist.“
Ein Blick auf die Zahlen scheint die Sprecherin des BesD zu bestätigen. Im Jahr 2015 registrierte das Bundeskriminalamt (BKA) für Hamburg 46 abgeschlossene Ermittlungsverfahren wegen „Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung“. Neuere Zahlen liegen noch nicht vor. Bundesweit lag die Zahl zuletzt bei 364 und war damit im dritten Jahr hintereinander rückläufig. „Der Anteil der Verfahren mit ausschließlich deutschen Opfern lag im Jahr 2015 bei 24 Prozent“, heißt es in einem Jahresbericht, der dem Abendblatt vorliegt. In weitaus mehr Verfahren wurden ausländische Opfer ermittelt, vor allem aus Rumänien und Bulgarien. Doch die Zahlen, so betonen auch Hamburger Ermittler, dürften nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nach wie vor eine sehr hohe Dunkelziffer gebe. Menschenhandel ist ein Phänomen, von dem jeder weiß, dass es existiert, von dem aber niemand genau sagen kann, wie groß es ist.
Um herauszufinden, wer freiwillig und wer nicht freiwillig im Rotlichtmilieu arbeitet, hat die Hamburger Polizei mit der Dienststelle LKA 65 eine Abteilung von Spezialermittlern eingerichtet, die sich neben der Aufklärung konkreter Straftaten im Milieu vor allem Prävention zur Aufgabe gemacht haben. Fast täglich sichten die Milieuermittler die unzähligen Kontaktanzeigen in den einschlägigen Magazinen oder auf Internetportalen, rufen die Frauen an oder suchen sie direkt an ihrem Arbeitsplatz auf, um dort mit ihnen ins Gespräch zu kommen, fragen nach Arbeitsbedingungen, Unterkunft und Bezahlung. Sie wollen damit Vertrauen aufbauen, zeigen, dass Polizei Hilfe für den Notfall bietet. Keine einfache Aufgabe, insbesondere weil viele Opfer von organisierter Kriminalität sich niemandem anvertrauen geschweige denn gegen ihre Peiniger aussagen, meist aus Angst, ihnen oder ihrer Familie könnte etwas zustoßen. Reden wollen meist nur diejenigen, die ohnehin freiwillig der Prostitution nachgehen. Von allen anderen wird das Gesetz des Schweigens ausnahmslos eingehalten.
Wer mit Milieuermittlern der Hamburger Polizei spricht, bekommt eine Vorstellung davon, welchem enormen Druck die Betroffenen häufig ausgesetzt sind. Die Masche jedenfalls, mit der immer noch viele junge Frauen vor allem aus Osteuropa nach Deutschland geholt werden, hat sich nach Aussagen von Beamten kaum verändert. „Viele von ihnen werden mit der Aussicht auf ein besseres Leben nach Deutschland gelockt“, berichtet ein Milieuermittler. Vermeintliche Künstleragenturen versprechen in Zeitungsanzeigen eine schillernde Karriere als Showtänzerin in Westeuropa, oder Bekannte aus dem Nachbarort schwärmen von dem hohen Gehalt, das man als Kellnerin in Deutschland verdienen könne. Für Vermittlung, Transfer und Unterkunft werden dann häufig bis zu 10.000 oder mehr Euro von den Frauen verlangt, die diese in die Verschuldung und damit in die Abhängigkeit treiben. Wie diese Schulden abzuarbeiten sind, legen dann andere fest. Nicht selten würden die Betroffenen emotional erpresst, eingeschüchtert oder sogar misshandelt. Die Druckmittel sind von Fall zu Fall verschieden.
Zwang und Ausbeutung haben viele Facetten
Doch genau das bereitet den Beamten häufig Schwierigkeiten. Denn die Frage, wo Freiwilligkeit endet und Ausbeutung oder Zwang anfängt, ist auch für sie oft nicht leicht zu beantworten. Zwar wissen einige der Betroffenen durchaus, dass sie in Deutschland als Prostituierte arbeiten sollen. Durch Verschuldung bei Kontaktpersonen oder Schleppern kann aus der zunächst freien Entscheidung aber schnell eine Zwangslage werden. Die Grenzen sind fließend. Umgekehrt ist nicht jede Betroffene, die einen Großteil ihres verdienten Geldes an jemanden abgeben muss, auch damit unzufrieden. Milieuermittler berichten von Fällen, bei denen die Frauen froh seien, wenn sie noch einen Bruchteil ihrer Einnahmen für Miete, Essen oder Zigaretten behalten dürfen. Meist sei das immer noch mehr, als sie in ihrem Heimatland jemals verdienen könnten. Strafrechtlich gesehen gilt das zwar als Ausbeutung, doch was nützt es, wenn die Frauen sich nicht ausgebeutet fühlen und nicht darüber sprechen?
Dass Zwang und Ausbeutung viele Facetten haben können, weiß auch Sozialarbeiterin Katja Niemeyer (Name geändert), die die Lebensgeschichten der Frauen und damit auch ihre Motive sehr gut kennt. Sie wendet ein, dass in der öffentlichen Debatte ein Zuhälter meist als brutaler Frauenschläger gelte, was aber längst nicht immer der Realität entspricht. Die Wahrheit sei manchmal viel komplizierter. Man könne nicht jede Frau, die einen Zuhälter habe, als Zwangsprostituierte bezeichnen. In einigen Fällen sei der Zuhälter zugleich auch der Lebenspartner. Anschaffen aus Liebe – vor allem bei vielen deutschen Frauen sei das nach wie vor ein klassisches Einstiegsmotiv.
Viele wollen einen Zuhälter, der zu ihnen hält
„Diese Frauen haben sich bewusst oder unbewusst in einen Zuhälter verliebt und würden nahezu alles dafür tun, um mit diesem Mann zusammenzubleiben“, sagt Niemeyer. Es gebe durchaus Frauen, die sich von dem „Macho-Typus“, den viele der Männer im Milieu verkörpern, angezogen fühlten oder bewusst ihre Nähe suchten, um nicht allein zu sein. Ein Zuhälter, der zu ihnen hält, wie es die klassische Bedeutung des Wortes meint. Dafür seien viele Frauen auch bereit, ihr Geld an den Partner abzugeben.
Dass es mit dem Gleichgewicht in solchen Beziehungen nicht immer weit her ist, weiß auch die Sozialarbeiterin. Viele Zuhälter verstünden es, die emotionale Abhängigkeit ihrer Partnerin auszunutzen und sie mittels eines perfiden Belohnungs- und Bestrafungssystem in der Prostitution zu halten: Arbeite die Frau gut und verdiene viel Geld, könne sie mal mit einer teuren Handtasche oder einem spontanen Kurzurlaub mit dem Liebsten beschenkt werden. Bringe sie hingegen nur wenig Geld nach Hause, habe dies in einigen Fällen Liebesentzug und Zurückweisung zur Folge, manchmal auch körperliche Gewalt.
Einen Zuhälter hatte Mia nie an ihrer Seite. Bewusst nicht, auch wenn sie eigentlich kein böses Wort über die „Jungs“, wie sie die Männer aus dem Milieu nennt, sagen könne. Sie kann verstehen, dass sich viele ihrer Kolleginnen immer wieder auf eine Beziehung mit einem Luden einließen, um nicht allein zu sein. Sie weiß, wie einsam das Leben im Milieu einen machen kann.
Denn Prostitution und eine Partnerschaft außerhalb des Milieus lassen sich nur selten in Einklang bringen. Eine Erfahrung, die auch Mia in den vergangenen Jahren machen musste. „Mein Ex-Freund ist überhaupt nicht damit klargekommen, dass ich anschaffen gehe. Wenn ich mal keine Lust hatte, mit ihm zu schlafen, hieß es immer gleich: Na, hat’s dir dein Freier wieder ordentlich besorgt, oder was?“ Die Eifersucht zerstörte die Beziehung innerhalb weniger Monate.
Doch Mia hatte Glück. Vor wenigen Wochen erst feierte sie mit ihrem jetzigen Mann den vierten Hochzeitstag. „Natürlich möchte er auch keine Details hören, was auf dem Zimmer passiert, aber er hat meine Entscheidung immer akzeptiert“, sagt Mia. Zwischen dem Sex im eigenen Schlafzimmer und dem in den Räumen eines Nightclubs könne sie sehr gut trennen. Letzterer ist für sie zu einer Art Routine geworden. Eine bloße Dienstleistung, die ohne Zuneigung oder Emotionalität auskommt. „Natürlich hat man als Hure auch nicht immer Bock auf Sex, aber das ist mein Beruf, also mache ich es. In einem anderen Job fragt mich doch auch keiner danach, ob ich gerne arbeiten gehe.“
St. Georg: Brennpunkt für Drogen- und Armutsprostitution
Mias Erzählung gehört zu den guten Geschichten, die das Leben auch im horizontalen Gewerbe manchmal schreibt. Dass es auch genug andere Beispiele gibt, wird besonders an einem Nachmittag im Stadtteil St. Georg sichtbar. Vor dem ehemaligen Hotel Fortuna am Hansaplatz, das heute Universum heißt und vielen Prostituierten immer noch als Absteige dient, stehen zwei junge Frauen an den Hauseingang gelehnt und blicken nervös die Straße auf und ab. „Rund um die Uhr“, steht auf einem Kneipenschild, das über dem Kopf einer hochgewachsenen Frau mit eingefallenen Wangen hängt.
Obwohl das Viertel bereits 1980 zum Sperrgebiet erklärt wurde, sind die Straßen unweit des Hauptbahnhofs noch immer ein Brennpunkt für Drogen- und Armutsprostitution.
Glaubt man Gudrun Greb, der Leiterin der Beratungsstelle Ragazza e. V., hat sich die Zahl der Prostituierten in dem Stadtteil über die Jahre kaum verändert. Jedes Jahr nutzen bis zu 450 Frauen die Angebote der Anlaufstelle, vor allem drogenabhängige, die sich mit Prostitution das Geld für ihren Stoff beschaffen. „Bei einem Blick auf die Straßen kann man die Situation der Welt ablesen“, erläutert Greb. „Kamen viele Frauen in den 80er-Jahren vor allem aus Ländern Südostasiens und später auch aus den GUS-Staaten, so kommen sie heute vor allem aus Osteuropa. Aber auch Frauen aus afrikanischen Ländern wie Äquatorialguinea sehen wir zurzeit vermehrt.“ Mit Sorge beobachtet sie, dass auch unter ihnen der Anteil der Drogenabhängigen steigt.
Eine Beobachtung, die auch Mehmet Simsit gemacht hat. „Viele greifen selbst zu Drogen, um sich zu betäuben, weil sie ihre Situation nicht anders ertragen. Andere werden verführt, indem man ihnen erzählt, sie könnten damit besser arbeiten“, sagt Simsit. Der 51-jährige Wirt des Hansa-Treffs gehört zu den wenigen Menschen im Stadtteil, die für viele der vor allem aus Rumänien und Bulgarien stammenden Frauen stets ein offenes Ohr haben, ihnen im Winter auch mal einen warmen Kaffee spendieren oder eine Schulter zum Anlehnen bieten.
Aus der Armut in Bulgarien in den Sperrbezirk von St. Georg
Auch für Samira ist Mehmet Simsit über die Jahre zu einer Art Vaterfigur geworden. Samira ist natürlich nicht ihr richtiger Name. Wie man diesen schreiben würde, weiß die 29-Jährige ohnehin nicht. Lesen und Schreiben hat sie nie gelernt, ebenso wenig einen Beruf. Samira stammt aus Bulgarien und zählte dort zur türkischen Minderheit, die vor allem im Südosten des Landes zu Hause ist. Vor acht Jahren, so behauptet sie, sei sie allein mit dem Bus nach Deutschland gekommen. Seitdem arbeitet sie an sieben Tagen die Woche auf den Straßen rund um den Hansaplatz, bis zu zwölf Stunden täglich, mal mehr, mal weniger. Frei hat sie nur, wenn sie schläft.
Womit Samira das Geld verdient, von dem sie anfangs noch einen Teil ihrer Familie nach Bulgarien schickte, weiß zu Hause niemand. Zu groß ist ihre Angst, von den Angehörigen verstoßen zu werden, und so lässt sie die Familie in dem Glauben, sie arbeite in Deutschland als fleißige Reinigungskraft. Scham ist ihr ständiger Begleiter. Ein Ausstieg aus dem Milieu und eine Rückkehr nach Bulgarien kommen für sie dennoch nicht infrage. „Zu Hause gibt es für mich nichts. Was soll ich dort?“, fragt sie resigniert.
Mangelnde Jobchancen und eine fehlende Perspektive sind für viele Frauen aus dem Ausland ein starkes Motiv, sich zu prostituieren. Dafür braucht es, wie in Samiras Fall, vielleicht wirklich nicht einmal einen Zuhälter oder Schleuser, der sie dazu zwingt. So oder so kann man wohl kaum von einer freiwilligen Entscheidung sprechen. Haben Frauen wie Samira überhaupt eine Wahl, wenn es darum geht, in Deutschland Geld für das eigene Überleben und das ihrer Familie zu verdienen?
"Stricher"-Szene besonders in St. Georg aktiv
Es sind aber bei Weitem nicht nur Frauen, die vor Armut nach Westeuropa fliehen und dort am Ende auf dem Strich landen. Dass auch Männer sich in Hamburg prostituieren, ist indes ein häufig verschwiegenes Phänomen. Deren Angebote richten sich meist an andere Männer. Sexuelle Dienstleistungen für Frauen kommen dagegen so gut wie nicht vor. Besonders aktiv ist die „Stricher“-Szene in St. Georg. Neben einigen deutschen Männern stammen viele von ihnen ebenfalls aus dem osteuropäischen Raum.
Eine offizielle Schätzung, wie viele Männer in Hamburg anschaffen, gibt es nicht. Beim Basis-Projekt in St. Georg, das sich seit 1986 um männliche Prostituierte und ihre Freier mit dem Ziel der Gesundheitsprävention kümmert, zählte man zuletzt 309 Klienten im Jahr 2015. Die Dunkelziffer dürfte jedoch weit höher sein, sagt Basis-Leiterin Stefanie Grabatsch. In der Öffentlichkeit nehme man von ihnen kaum Notiz. „Die Männer arbeiten nicht in klassischen Bordellen oder auf dem Straßenstrich“, berichtet Grabatsch. Vielmehr treffe man sich in einschlägigen Kneipen, Bars oder Sexkinos.
Für männliche Prostituierte ist das in St. Georg von Vorteil. Von dem seit 2012 geltenden Kontaktverbot, das die „Vereinbarung entgeltlicher sexueller Dienstleistungen im Sperrgebiet“ unter Strafe stellt, sind sie seltener betroffen. Ein Gesetz, das der Straßenprostitution in St. Georg endlich Einhalt gebieten soll. Frauen wie Samira hingegen, die sich über die Jahre in St. Georg ein kleines Netzwerk aufgebaut haben, leiden darunter besonders. Vor einigen Monaten stand die Bulgarin zum ersten Mal vor Gericht. Sie war wiederholt bei Gesprächen mit potenziellen Freiern von der Polizei erwischt worden. Inzwischen sei sie weitere vier Male aufgegriffen worden. „Ich habe es satt“, sagt Samira und zieht eine genervte Grimasse. Das Bußgeld von bis zu 200 Euro, das sich bei wiederholten Verstößen schnell auf mehrere Tausend Euro summieren kann, zahlt sie nun ratenweise ab. 36 Euro gehen jeden Monat an die Stadt Hamburg.
„Die Frauen haben meiner Meinung nach einen neuen Zuhälter: die Stadt Hamburg“, sagt Wirt und SPD-Mitglied Mehmet Simsit. Er kritisiert, dass das Bestrafungssystem die Frauen noch mehr in die Verschuldung treibe und sie somit weiter anschaffen müssten, um diese Schulden abzuzahlen. Eine Einschätzung, die auch Gudrun Greb von Ragazza teilt. Seit Inkrafttreten des Kontaktverbots habe sich die Situation für die Frauen in St. Georg deutlich verschlechtert. Weil immer weniger Freier kämen, stünden die Frauen enorm unter Druck. „Wegen der Gefahr, von der Polizei erwischt zu werden, wird auf der Straße nicht mehr viel gesprochen oder verhandelt“, sagt Greb. Kaum eine Frau traue sich noch, einen Freier abzulehnen. Ein Umstand, den Männer oft schamlos ausnutzten. Übergriffe und Vergewaltigungen seien häufiger geworden. Die Preise hingegen seien massiv gefallen. Einmal Geschlechtsverkehr kostet in St. Georg heute zwischen zehn und 50 Euro, weniger als ein Drittel von dem, was anderswo in Hamburg verlangt wird.
Die Preise für Sex fallen, aber nicht die Mieten der Absteigen
Eine Entwicklung wie in St. Georg bleibt auch für das gesamte Rotlichtmilieu in der Stadt nicht ohne Folgen. Dass man im Milieu längst nicht mehr so gut verdient wie früher, ist fast allgemein bekannt. Preise wie in St. Georg verzerrten den Wettbewerb unter den Frauen jedoch enorm, sagt eine Prostituierte aus St. Pauli. So werden in manchen Absteigen auf dem Kiez nach wie vor pro Nacht bis zu 150 Euro Miete fällig. Viel Geld, das erst einmal verdient werden muss – sei es durch Verhandlungsgeschick oder eine Vielzahl an Freiern. „Die ersten ein bis zwei Freier gehen für die Fixkosten drauf“, sagt die Prostituierte. Mit viel Glück komme sie in mancher Nacht auf sechs bis acht Kunden.
Mia hat darauf reagiert und arbeitet inzwischen vorwiegend als Domina – wie viele ehemalige Prostituierte, die irgendwann genug davon hätten, „mit den jungen Dingern aus dem Osten mitzuhalten“. Im Gegensatz zur herkömmlichen Prostitution könne man mit sadomasochistischen Angeboten deutlich mehr verdienen. Diese Arbeit sei auch wesentlich anspruchsvoller, sagt sie. „Was Sex angeht, entwickelt man schnell eine Art Routine. Jetzt muss ich mich mit Fessel-, Latex- oder Nadelspielen beschäftigen, die eine viel intensivere Auseinandersetzung mit dem Thema erfordern, damit ich meine Gäste zufriedenstellen kann.“
In ihre neue Rolle als Domina hat sie sich schnell gefügt. Sobald die zierliche Frau ihre schwarze Lederkluft überstreift, ihre braunen Haare zu einem Zopf zusammenbindet und ihre Brille mit den eckigen Gläsern auf die Nase setzt, wird sie zur strengen Erzieherin, die keine Scheu hat, ihrem „Sklaven“ mit einer Gerte auf den Hodensack zu schlagen, wenn er es verlangt. Erst wenn die 34-Jährige am Morgen nach Hause kommt, wird aus Herrin Mia wieder die Hausfrau und Mutter, die sich begeistert ihrem neuen Einkochautomaten widmet, ihrem Sohn bei den Hausaufgaben hilft oder sich die Zeit für ein gutes Buch auf dem Sofa nimmt. Und von der wohl keiner ahnen würde, womit sie in Wahrheit ihr Geld verdient.
Wenn es nach ihr geht, soll das auch so bleiben. Während die meisten jungen Frauen zwischen 25 und 30 nach wenigen Jahren dem Rotlichtmilieu wieder den Rücken kehren, kommt für sie ein Ausstieg nicht infrage. „Ich brauche meinen Kiez, das Spiel mit den Männern und das Gefühl, von ihnen bewundert und begehrt zu werden“, sagt Mia. Eine Anerkennung, die sie so als Hausfrau und Mutter nicht erfahre, wie sie sagt. Auch wenn das bedeutet, dass sie wohl weiter ein Doppelleben führen muss. Nicht weil sie sich dafür schämte. Im Gegenteil. Aber ihrem Sohn will sie es nicht zumuten, dass sie ihn auf dem Schulhof eines Tages einen „Hurensohn“ nennen. Von den schiefen Blicken der anderen Eltern ganz zu schweigen.
Prostitution – ein Job wie jeder andere?
Denn käuflicher Sex ist und bleibt ein heikles Thema, das die Gesellschaft polarisiert. Auf der einen Seite vertreten viele die Auffassung, dass Prostitution den Frauen schadet, dass sie nichts anderes sei als die „Kommerzialisierung sexuellen Missbrauchs“, dem viele Betroffene schon als Kind ausgesetzt gewesen seien. Für andere wiederum ist Prostitution ein Job wie jeder andere. Sie fordern, die Gesellschaft müsse endlich respektieren, dass es Frauen gibt, die mit Sex ihr Geld verdienen wollen. Zwei offenbar unvereinbare Positionen.
Doch wer genau hinsieht, erkennt: Die Realität von Prostitution ist komplex, zwischen Schwarz und Weiß gibt es eine Menge Grautöne. Und vielleicht geht es, wie Mia sagt, am Ende gar nicht darum, ob man für oder gegen Prostitution ist, sie befürwortet oder abstoßend findet. „Sondern ob man Frauen wie uns auch als Menschen dieser Gesellschaft respektiert, mit uns redet, nicht nur über uns. Das wäre doch die größte Hilfe für uns alle – ob man sie nötig hat oder nicht.“