Hamburg. Angeklagt wegen sexueller Nötigung und Körperverletzung ist ein Afghane. Ob es für eine Verurteilung reicht, ist erneut fraglich.

Brutaler hätte die Silvesternacht für die 19 Jahre alte Frau kaum enden können. Sie hatte auf dem Kiez mit Freunden gefeiert und wollte von der Reeperbahn mit der S-Bahn nach Hause fahren. Sie torkelte leicht, das belegen später von Kriminalbeamten ausgewertete Videoaufzeichnungen aus dem Zug. In dem Clip zu erkennen ist auch der spätere Täter – offenbar war er ihr vom Kiez aus gefolgt.

Am frühen Neujahrsmorgen stieg die 19-Jährige in Stellingen aus. Sie hatte gerade den Bahnhof verlassen, als der gleichaltrige Mann über sie herfiel. Er warf sie zu Boden, hielt ihr den Mund zu, öffnete ihre Hose, biss und kratzte sie. Verging sich an ihr. Schließlich gelang es der jungen Frau, sich loszureißen. Unter Tränen vertraute sie sich ihrer Nachbarin an. Die verständigte dann die Polizei.

Der mutmaßliche Täter sitzt in U-Haft

Der mutmaßliche Täter, ein afghanischer Flüchtling, sitzt weiterhin in U-Haft. Am Freitag beginnt vor einer Jugendkammer der Prozess gegen ihn, angeklagt wird er wegen sexueller Nötigung und Körperverletzung. Ob es am Ende für eine Verurteilung reicht, ist fraglich: Das Opfer hat an die Tat nur fragmentarische Erinnerungen. Und weitere Zeugen gibt es offenbar nicht.

Ein derartiger Ausgang wäre kein Einzelfall. Die sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht mündeten bisher in keinem einzigen Schuldspruch. Und es sieht so aus, als blieben die schändlichen Taten ungesühnt. Fünf im Zusammenhang mit den Übergriffen festgenommene Männer befinden sich wieder auf freiem Fuß. Grund: In allen Fällen bewertete das Gericht die zusammengetragenen Indizien und (Zeugen-)Beweise als nicht ausreichend. Das Landgericht sprach in einem Verfahren gegen drei Männer von „Defiziten“ bei der Zeugenvernehmung, die wohl einem „gewissen Erwartungsdruck“ geschuldet gewesen seien.

Allein in Hamburg gingen 400 Frauen zur Polizei

Allein in Hamburg gingen 400 Frauen zur Polizei und sagten aus, in der Silvesternacht auf dem Kiez begrapscht, befummelt und/oder bestohlen worden zu sein. Um die Exzesse aufzuklären, hatte die Polizei die Sonderermittlungsgruppe „Silvester“ gegründet. Vier Männer, die wegen der Vorfälle in U-Haft gekommen waren, wurden jetzt auf gerichtlichen Beschluss auf freien Fuß gesetzt. Ein weiterer Mann war bereits im Mai vom Amtsgericht freigesprochen worden. „Für die Opfer ist das ein mindestens unbefriedigender Umstand“, sagt Kristina Erichsen-Kruse vom Weißen Ring Hamburg. „Doch leben wir in einem Rechtsstaat, in dem einem Beschuldigten die Tat sicher nachgewiesen werden muss.“

Die Ermittlungen gestalteten sich schwierig, die Beamten hatten praktisch nichts in der Hand, bis auf die zum Teil diffusen Beschreibungen der Opfer. Dann stellte ein Partyfotograf den Kriminalbeamten Fotos zur Verfügung, die die Menschenmassen zur Tatzeit auf der Großen Freiheit zeigten. Es waren gestochen scharfe Übersichtsaufnahmen – und ein Glücksfall für die Ermittler. Endlich konnten sie den Opfern Fotos der potenziellen Verdächtigen vorlegen. Einige erkannten darauf ihre Peiniger wieder, darunter war auch ein Mann mit blauer Jacke, der nach öffentlicher Fahndung in einem Hamburger Flüchtlingsheim festgenommen wurde.

Nachermittlungen führten zu Zweifeln am Haftbefehl

Der Mann mit der blauen Jacke ist Behzad S. (33) – er hat seine Unschuld stets beteuert. Zeugen hatten ihn auf der Aufnahme des Partyfotografen identifiziert. Mehrere Instanzen, darunter auch das Oberlandesgericht, bestätigten den Haftbefehl – die Sache schien klar zu sein. Dann jedoch wurde nachermittelt, der Verteidiger reichte ein Handyvideo nach, zudem wurde mithilfe der Funkzellendaten ein Geo-Profil des Mannes erstellt. Beide Beweismittel kombiniert, entlasteten den Mann, befand am Ende das Landgericht und hob den Haftbefehl auf: Es sei fraglich, ob Behzad S. zur Tatzeit am Tatort war.

„Wir gehen davon aus, dass das Landgericht die polizeilichen Ergebnisse fehlerhaft bewertet hat“, sagt Nana Frombach, Sprecherin der Staatsanwaltschaft. Ihre Behörde habe deshalb Beschwerde beim OLG eingelegt – genauso wie gegen die Aufhebung des Haftbefehls gegen drei Beschuldigte in einem weiteren Verfahren. Sie sollen auf der Großen Freiheit eine 18-Jährige umringt und im Intimbereich berührt haben. Das Opfer hatte die Täter auf dem Übersichtsbild wiedererkannt, allerdings nur vage. Die Ermittler, rügte abermals das Landgericht, hätten dem Umstand zu wenig Beachtung geschenkt, dass es sich um ein suggestives, „nur rekonstruiertes Erinnerungsbild“ der Zeugin handeln könnte.

Der Verteidiger erhebt schwere Vorwürfe gegen die Behörden

Der Hamburger Strafverteidiger Jonas Hennig, der einen der Beschuldigten vertritt und erfolgreich die Aufhebung seines Haftbefehls beantragt hatte, geht noch weiter. Die Staatsanwaltschaft habe ihren „eigenen Objektivitätsanspruch mit Füßen getreten“ und Umstände ignoriert, die seinen Mandanten entlasten. So sei eine Wahllichtbildvorlage dem Opfer nicht zu Beginn der Ermittlungen, sondern erst auf gericht­liches Ersuchen hin gezeigt worden – die zunächst beschuldigten Männer habe es darauf nicht erkannt. „Offensichtlich wollte die Staatsanwaltschaft wegen des öffentlichen Drucks irgendwelche Täter präsentieren.“

Die Behörde weist den Vorwurf entschieden zurück. „Die Ermittlungen sind sehr gründlich geführt worden“, so Frombach. Gleichwohl gebe es in Fällen, in denen die Beweise ausschließlich auf Zeugenaussagen beruhten, immer eine Unsicherheit.

Bundesweit hatten vor allem in Köln, Hamburg und Stuttgart 1200 Frauen Anzeige erstattet. Das Bundeskriminalamt zog vor wenigen Tagen Bilanz: 120 Verdächtige wurden ermittelt – und gerade einmal vier Männer verurteilt.