Bei der Sanierung von St. Nikolai ist Halbzeit. Seit 17 Monaten reparieren schwindelfreie Steinmetze die Fassade des Kirchturms.

Unter ihr ist die Welt ganz klein. In mehr als 75 Metern Höhe steht Svenja Schrage auf derben Holzbohlen, eingekeilt zwischen Gerüst-Etage 38 und 39. Eine Konstruktion, die nicht von unten und schon gar nicht hier oben sonderlich vertrauenserweckend aussieht. Jedenfalls nicht für Laien. Aber das ist Svenja Schrage nun wahrlich nicht. Die 48-Jährige hat einen zierlichen Meißel in der Hand und bearbeitet die Fassade des Turms von St. Nikolai, der einmal der höchste der Welt war. Unbeirrt vom Autolärm der Willy-Brandt-Straße, der hier oben nur noch als matschiges Rauschen ankommt, trägt sie den körnigen, brüchigen Baustoff millimetergenau ab. Die Steinmetzmeisterin macht Platz für neue Fugen. Denn sie sind die Achillesfersen alter Gebäude. Und der Grund, warum sich das Mahnmal am Hopfenmarkt, das mal eine neogotische Kirche war, seit vier Jahren schon hinter einem Baugerüst versteckt.

Das Problem sind nicht nur die typischen Verfallszeichen alter Gebäude, sondern auch die mangelhaften Sanierungen früherer Jahrzehnte. „Besonders bedauerlich ist die Aufweitung vieler Fugen zwischen den Sandsteinquadern in den 1960er-Jahren. Der grobe Mörtel, der hier eingefügt wurde, hält der extremen Witterung am Turm nicht stand. Die Original-Fugen waren nur wenige Millimeter breit“, sagt Holger Reimers, der als Bauhistoriker Experte für alte Arbeitsmaterialien ist. „Fugen sind die witterungsempfindlichste Stelle eines Gebäudes. In breite Fugen dringt viel Wasser ein, sie platzen bei Frost auf und bröckeln. Je schmaler die sind, desto besser“, erklärt Architekt Bernhard Brüggemann, ebenfalls Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Historisches Bauen Mahnmal St. Nikolai.

Steinmetzmeisterin Svenja Schrage
Steinmetzmeisterin Svenja Schrage © Roland Magunia | Roland Magunia

Das Ziel dieser nunmehr dritten, auf sechs Jahre angelegten Sanierungsphase ist es nicht, wie oft angenommen, Figuren oder Ornamente schick aufzubereiten. „Wir betreiben Ruinensicherung“, korrigiert Brüggemann. „Wir reparieren lediglich Schäden, die zu weiteren Schäden führen könnten.“

Ins Rollen brachte das Projekt ein gut zehn Kilogramm schwerer Stein, der sich 2011 aus der Fassade löste und auf den Radweg an der Willy-Brandt-Straße krachte. Glücklicherweise wurde niemand getroffen. Aber nach dem Beinahe-Unfall war klar, dass grundlegend saniert werden musste. Denn das Denkmal begann quasi, sich aufzulösen.

Sieben Millionen Euro zahlt die Stadt, noch mal so viel steuert der Bund bei

Jetzt steht Architekt Brüggemann in Etage 38 des Gerüstes und begutachtet die anthrazit verfärbte Sandsteinfassade. Wind und Wetter, Ruß und Abgase haben sich tief in das Gemäuer und die Gesteinsverbindungen hineingefressen. Mit dem Zeigefinger fährt er über rote Wachsmaler-Linien, die sich unromantisch von der schwarzen Patina abheben. Rot bedeutet „Fugenausbesserung nötig“. Beinahe jeder Quader ist markiert: morsch, zu breit, nicht zukunftssicher.

Um das zu ändern, müssen mehr als 50.000 Meter Fugen bearbeitet werden. Am Ende sollen sie das historische Ursprungsmaß von drei bis vier Millimetern haben – momentan sind die meisten zehnmal so breit. „Seit Beginn der Ausbesserungsarbeiten im Oktober 2014 hat das Team schon mehr als 30 Kilometer geschafft“, sagt Alk Arwed Friedrichsen. Und bei diesem Satz merkt man dem Architekten und Denkmalexperten seinen Stolz an.

Besuch der Baustelle (v.l.): die Verantwortlichen Holger Reimers, Alk Friedrichsen und Bernhard Brüggemann
Besuch der Baustelle (v.l.): die Verantwortlichen Holger Reimers, Alk Friedrichsen und Bernhard Brüggemann © Roland Magunia | Roland Magunia

Ist ja auch wahrlich keine normale Baustelle. Allein der Aufbau des Gerüstes hat mehr als ein Jahr gedauert. 17 Monate hat das Team jetzt noch Zeit, dann muss alles fertig sein. „Der Plan ist realistisch“, sagt Friedrichsen. „Aber ambitioniert.“ Das hängt mit dem Finanzierungsplan zusammen. Sieben Millionen Euro kommen aus dem städtischen Sanierungsfonds, die gleiche Summe steuert der Bund bei – in mehreren Tranchen und nur bei sichtbaren Ergebnissen.

Ein erstes Ergebnis ist schon von Weitem sichtbar: Selbstbewusst ragt die fertig sanierte, mit einer hauchdünnen Schicht Gold überzogene Turmspitze über dem Gerüst hervor. Die darunterliegenden 140 Meter sind nicht zu sehen. Was genau passiert also hinter der Kulisse des noch immer fünfthöchsten Kirchturms der Welt?

Es ist ein bisschen so, als ob man ein Mosaik in mühevoller Kleinarbeit restauriert, nur dass man es statt mit Steinchen mit sehr großen Quadern zu tun hat. Zunächst müssen die Pflanzen entfernt werden – Moose, Farne und sogar Birkensprösslinge haben sich in vielen Fugen festgesetzt. Eisenteile und tragende Säulen sind zu erneuern. Vor allem aber geht es um die schadhaften Fugen – und den Austausch der sogenannten Vierungen. „Das sind steinerne Ersatzstücke“, erklärt Svenja Schrage. Sie ist quasi doppelt qualifiziert für diesen Job – mit zwei Meisterbriefen als Steinmetzin und Steinbildhauerin. „Für eine Vierung stemmt man den schadhaften Stein aus. Danach sägt man den neuen – die Vierung – passend zu und passt ihn ein.“ Klingt einfach, ist aber sehr kleinteilig und langwierig. Und muss in allen vier Bauabschnitten, in die das Mahnmal unterteilt ist, gemacht werden.

Mit einem etwa 15-köpfigen Team aus Steinmetzen, Maurern und Gerüstbauern arbeitet sie sich Zentimeter für Zentimeter an der Fassade des 147,3 Meter hohen Turms entlang: 7000 Sandsteine wurden als sogenannte Vierungen bereits eingesetzt.

Mit einem kleinen Meißel, der mit Druckluft betrieben wird, stemmt Steinmetzmeisterin Schrage den alten Mörtel aus den Fugen
Mit einem kleinen Meißel, der mit Druckluft betrieben wird, stemmt Steinmetzmeisterin Schrage den alten Mörtel aus den Fugen © Roland Magunia | Roland Magunia

Damit das Team weiß, wo es was zu tun hat, greift es auf ein Schadengutachten zurück: „Auf Basis von Messbildern, die zum Teil mithilfe eines Helikopters aus der Luft angefertigt wurden, haben wir eine akribische Karte mit allen Schäden angefertigt“, sagt Bauhistoriker Holger Reimers. Jeder Steinquader, jeder Backstein, jede Fuge, jeder Stahlanker ist zwischen 2011 und 2013 genauestens untersucht worden. Vom Boden bis in die Höhe von rund 36 Metern besteht die Kirche aus rotem Backstein – und allein dort gibt es pro Quadratmeter 57 Ziegelsteine. „Die Oberfläche jedes einzelnen Steins wurde abgeklopft und bewertet“, ergänzt Alk Arwed Friedrichsen. Mitunter haben sie das Innere der Steine mit einem Ultraschallgerät untersucht.

Im Oktober 2014 konnten dann endlich, nach drei Jahren Vorbereitung, die praktischen Arbeiten beginnen. Angefangen auf den Etagen 19 bis 38 – jede Etage entspricht einer Höhe von zwei Metern – hat sich das Handwerkerteam vorangearbeitet: erst ein Stück höher (Ebene 40 bis 79), dann hinab zum Gebäudesockel (Ebene null bis 18). „Generell arbeiten wir uns auf jedem der vier Bauabschnitte von oben nach unten vor“, erklärt Vorarbeiterin Svenja Schrage. „Da die Jungs aber aus Sicherheitsgründen nicht über- und untereinander arbeiten dürfen, haben sie zum Teil unterschiedliche Einsatzorte.“

Mitte März wurde auf den Ebenen 39 bis 46 der vierte und letzte Sanierungsabschnitt begonnen. Und wieder heißt es seitdem: brüchige Fugen mit einem automatisch betriebenen Meißel ausstemmen, schadhafte Sandsteine mit einer handlichen Druckluftflex im 90-Grad-Winkel aushöhlen, neue Vierungen einpassen und zurechtschleifen. „Die Geräusche erinnern mich an den Zahnarzt“, sagt Holger Reimers mit leicht gekräuselter Stirn. Den Handwerkern, die sich zwischen die Kirchturmfassade und Gerüst-Etagen eingeklemmt haben, schaut er mit einer Mischung aus Faszination und Bewunderung über die Schulter.

Dieser Kirchenmann gehötr zu den Figuren, die bis ins Höchste äußerst kunstvoll ausgearbeitet sind
Dieser Kirchenmann gehötr zu den Figuren, die bis ins Höchste äußerst kunstvoll ausgearbeitet sind © Roland Magunia | Roland Magunia

Abgeschirmt durch massive Kopfhörer, Mundschutz und Schutzbrille, die an den Chemie-Schulunterricht erinnert, streicht Svenja Schrage gerade eine freigemeißelte Steinoberfläche sauber. Feiner hellgelber Staub steigt auf. Sowieso beherrscht Staub das Geschehen: Er verfärbt die Holzbohlen, legt sich klebend auf Haar, Gesicht und Kleidung. „Die Denkmalsanierung ist ein dreckiger, harter Job“, sagt der ebenso herzliche wie resolute Architekt Bernhard Brüggemann mit Blick auf die Handwerker. Doch Svenja Schrage, die auch schon in den 1990er-Jahren bei der Sanierung des St.-Nikolai-Mahnmals mitgearbeitet hat, scheint den Staub auf dem Gerüstboden kaum zu bemerken. Sie ist jetzt völlig in ihrem Element: „Die breiten Fugen werden ausgeschnitten, damit wir später neue Steine einpassen können. Sie füllen den Platz des alten Mörtels. Und die neuen Fugen werden hübsch schmal.“ Drei bis vier Millimeter hoch, wie beim Original.

„Die St.-Nikolai-Kirche nach dem Entwurf des englischen Architekten George Gilbert Scott ist eine Kirche, die den Geist des Mittelalters einfängt“, sagt Architekt Friedrichsen, dessen Augen dabei fast ein bisschen leuchten. Keine Frage: Er mag dieses pompöse neogotische Bauwerk wirklich. „Alle Beteiligten waren am meisten beeindruckt und überrascht von den bis in die höchsten Höhen fein ausgearbeiteten figürlichen Darstellungen von Tieren, Fabelwesen und Menschen.“ Dort seien nicht nur Kirchenleute, sondern auch Kaufmänner, Seeleute oder Vierländer Frauen abgebildet.

Während sich die Architekten für die kulturhistorische Bedeutung begeistern, macht Svenja Schrage eine andere Rechnung auf: „Für einen 30 Zentimeter langen, 20 Zentimeter hohen und 20 Zentimeter tiefen Quader“ – das entspricht ungefähr der Größe eines Schuhkartons – „brauchen wir etwa drei Stunden“, schätzt sie. Eineinhalb Stunden, um den maroden Stein herauszustemmen, eineinhalb Stunden, um die neue Vierung anzupassen. An einem regulären Zehn-Stunden-Tag schaffen sie höchstens drei solcher Quader – wenn Wind und Wetter keinen Strich durch die Rechnung machen. Denn das typisch norddeutsche Schietwetter meint es nur selten gut mit den Handwerkern.

Es ist zugig auf der Baustelle. Ab Windstärke acht wird aufgehört zu arbeiten.
Es ist zugig auf der Baustelle. Ab Windstärke acht wird aufgehört zu arbeiten. © Roland Magunia | Roland Magunia

Der Wind fegt eisig durch die Gerüst-Ebenen. „Manchmal muss man Angst haben, dass einem der Mörtel waagerecht von der Kelle fliegt“, sagt Schrage zwischen zwei Zügen an der selbst gedrehten Zigarette. Die Temperaturen und Winde verhalten sich in diesen Höhen herzlos, deutlich kälter als am Boden. „Wir sind hart. Wir kennen das nicht anders“, sagt sie. Seit mehr als 30 Jahren arbeitet sie draußen auf Baustellen. „Fleecejacke und Thermounterwäsche trage ich immer. Damit ist es okay.“

Die Kälte verlangsamt im wahrsten Sinne des Wortes das Geschehen: Viele Materialien, wie etwa der Fugenmörtel, können unter fünf Grad nicht verarbeitet werden, auch die Werkzeuge streiken: „Aufgrund der extremen Temperaturunterschiede bildet sich in den Druckluftschläuchen Kondensat“, erklärt Schrage. „Dadurch folgen Probleme mit der Druckluft, und die Werkzeuge frieren mitunter ein.“

Und ab wann ist es zu kalt für die Handwerker? „Die Handwerker standen auch schon bei minus fünf Grad auf den unteren Lagen des Gerüsts – wenn es dabei relativ windstill ist“, erklärt Architekt Brüggemann. Um rechtzeitig reagieren zu können, helfen die Echtzeitdaten einer elektronischen Wetterstation: Das Meteorologische Institut der Universität Hamburg hat an sechs unterschiedlichen Stellen am Mahnmal, unter anderem auf der Turmspitze, Sensoren und Thermometer angebracht. „Ab einer Windstärke von 72 Kilometern pro Stunde ist Vorsicht geboten. Und wenn die Böen in die Windstärke acht reingehen, ist es nicht mehr zu verantworten“, sagt Architekt Brüggemann.

Mit Akribie achtet er auf die Sicherheit „seiner“ Leute. Das hat dann durchaus väterliche Züge. Oft sitzt er in den Pausen mit den Handwerkern in ihren Baucontainern am Fuße des Mahnmals und schnackt mit ihnen. Svenja Schrage und „ihre Jungs“ aus Preußisch Oldendorf, wie sie gern sagt, wohnen unter der Woche sogar dort. Montags Anreise, viermal zehn Stunden arbeiten, donnerstags Abreise. „Es ist mein Traumjob, meine Berufung“, sagt Schrage, und man nimmt es ihr sofort ab. „Diese alten Bauwerke bergen so viele Geheimnisse, die man entdecken kann. Täglich aufs Neue bin ich von der Baukunst der St.-Nikolai-Kirche fasziniert – da ziehe ich wirklich meinen Hut vor.“ Ein kurzes Lächeln, und dann schnappt sie sich wieder ihren Meißel. Fehlen ja noch 20 Kilometer Fugen.