Wilhelmsburg. In Wilhelmsburg ist er aufgewachsen, jetzt arbeitet er dort mit Jugendlichen. Wie könnte Olympia den Stadtteil verändern?

„Das hätte auch in jedem anderen Stadtteil passieren können“, sagt Marvin Willoughby. Der junge Ausnahme-Basketballer hatte sein Nationalmannschafts-Trikot zum Trocknen draußen auf den Wäscheständer vor der Wohnung in Wilhelmsburg aufgehängt. „Keine gute Idee“, sagt er. Natürlich ist das wertvolle Souvenir flugs geklaut worden.

Knapp 20 Jahre später steht der 37-jährige Hamburger vor dem grauen vierstöckigen Mietshaus in der Grote­straße, Ecke Rotenhäuser Straße. Hier ist er aufgewachsen. Er zeigt auf die Erdgeschosswohnung. 50 Quadratmeter. Drei kleine Zimmer, die er sich mit seiner Mutter und seiner Schwester geteilt hat. Seine Eltern hatten sich schon früh getrennt.

Marvin Willoughby ist ein Wilhelmsburger Junge. Und heute Geschäftsführer der Towers. Die Profi-Basketballer aus Wilhelmsburg sind ein Versuch und ein Versprechen. Sie lassen seit fast genau einem Jahr den Stadtteil aufblühen, wenn alle zwei Wochen 3000 Menschen in die Inselparkhalle strömen und fesselnden Sport hautnah erleben. Sie sind laut und cool, kommen aus aller Herren Länder und kämpfen gemeinsam bis zum Umfallen.

Vielleicht sind die Towers auch ein Vorgeschmack. Auf das größte Sportereignis der Welt.

Marvin steht hinter seiner alten Wohnung auf dem kleinen Spielplatz. Ein 2,02-Meter-Hüne mit Basketball in der Sandkiste. Es geht um Wilhelmsburg und die Frage, wie dieser Stadtteil einmal war. Wie er sich, auch durch den Sport, verändert hat. Und was Olympia hier alles anrichten könnte. Es geht um einen Streifzug mit Ausblick.

Marvin mit Almir (l.) und Göhkan vor
dem SuChi in der Veringstraße
Marvin mit Almir (l.) und Göhkan vor dem SuChi in der Veringstraße © HA | Klaus Bodig

Nur ein paar Meter weiter fließt der Aßmannkanal, in dem sie als Kinder im Sommer immer geschwommen sind. „Eine dreckige Kloake war das, aber das hat uns nichts ausgemacht.“ Nur seine Mutter, die als Buchhalterin die beiden Geschwister allein großgezogen hat, habe immer geschimpft, wenn sie das frisch gewaschene weiße Frottee-Handtuch nach dem Bad in der Brühe zum Abtrocknen benutzten. Sie haben sich als Kinder auch ein Floß aus Holz gebaut und sind damit auf dem Wasser herumgepaddelt. Sogar Segeln haben sie auf dem Kanal gelernt. „Mit einer kleinen Jolle.“

Wilhelmsburg ist an vielen Stellen eine idyllische Insel. Ein bisschen Bullerbü. Schon immer gewesen. „Als Kind war es wunderschön“, sagt Marvin.

Als Jugendlicher war er plötzlich der Böse. Hamburg hatte seinen mit 35 Quadratkilometern flächenmäßig größten Stadtteil samt den rund 50.000 Bewohnern südlich der Elbe schlicht aus dem Blick verloren. Geringe Einkommen, steigende Kriminalität, hoher Ausländeranteil, wenig Integration – Wilhelmsburg samt Kirchdorf Süd war mit einem Mal ein ziemliches Problemviertel. Und gehörte nicht mehr dazu.

Wenn Marvin mit seiner Fußball-Mannschaft ein Heimspiel hatte, kam es vor, dass die gegnerische Elf aus dem Westen oder Norden Hamburgs die Partie kurz vorher einfach absagte. „Die hatten wohl Angst, nach Wilhelmsburg zu kommen. Wir haben als Jugendliche viel Ablehnung erfahren, wenn wir sagten, woher wir kamen. Aber irgendwann sagt man sich: Na gut, dann sind wir halt die Bösen.“

Investitionen in die Infrastruktur sollen auch dem Breitensport zugutekommen

Diese Ausgrenzung schweiße aber auch zusammen. „Meine Kindheit in Wilhelmsburg hat mir sehr geholfen“, sagt Marvin. Er habe viele andere Kulturen kennengelernt. Sein Blick wurde weiter. Die Toleranz größer, wenn es darum ging, vor den muslimischen Mitspielern in der Kabine während des Ramadan nicht einfach Schweinefleisch zu essen. „Und wir haben hier gelernt, uns zu wehren.“ Sich nichts gefallen zu lassen.

Marvin Willoughby steht vor der Grundschule an der Fährstraße. Hier unterrichtet er mit seinen Mitstreitern aus dem Verein „Sport ohne Grenzen“. Die Kinder lernen Pünktlichkeit und Respekt, sich aufeinander zu verlassen und sich an Regeln zu halten.

Im Aßmannkanal haben sie einst als
Kinder gebadet
Im Aßmannkanal haben sie einst als Kinder gebadet © HA | Klaus Bodig

Dass der Sport Jugendlichen hilft soziale Kompetenz zu entwickeln, steht für Marvin Willoughby außer Frage. Er selbst sei ja das beste Beispiel. Dass Olympische und Paralympische Spiele dem Sport in Wilhelmsburg helfen würden, glaubt er auch. „Investitionen in die Infrastruktur sollen ja nicht nur dem Leistungs-, sondern auch dem Breitensport zugutekommen.“

Der Sport hat Marvin geholfen, seinen Stadtteil hinter sich zu lassen. „Irgendwann wollte ich nur noch weg.“ Er bekam ein Stipendium und spielte Basketball an der High Scool in Amerika. Und später mit Dirk Nowitzki, seinem Freund aus Jugendnationalmannschafts-Zeiten, in der Bundesliga in Würzburg. Er wurde Nationalspieler. Vor zehn Jahren kehrte er nach Hamburg zurück. Er war, wenn man so will, wieder reif für die Insel. Und wohnt hier heute mit seiner Frau und den beiden Kindern.

Auf dem Marktplatz an der Ve­ringstraße trifft Marvin zwei alte Schulfreunde: Gökhan und Almir haben vor fünf Monaten das Restaurant SuChi aufgemacht. Auch sie stehen für den Wandel und für ein junges Wilhelmsburg, das bereit ist für neue Gäste. Sie sind für Olympia, weil sie sich davon gute Geschäfte versprechen. Mit einem kleinen Aber: „Wenn die Spiele dazu führen, dass immer mehr Menschen aus dem Stadtteil vertrieben werden, weil sie die Mieten nicht mehr bezahlen können, sollte man es lassen“, sagt Göhkan. Wie werden sie beim Olympia-Referendum abstimmen? Sie überlegen. „Ich glaube, mit Ja.“

Marvin kann die kritischen Olympiabegleiter gut verstehen. „Das Wichtigste ist, dass wirklich alle Fragen auf den Tisch kommen.“ Was ist, wenn die Spiele vorbei sind? Wer profitiert am Ende? Wird es auch Verlierer geben? Alle reden von Nachhaltigkeit, aber was bedeutet das wirklich?

Ein paar Straßen weiter ist richtig geklotzt worden. In den mächtigen Bunker an der Neuhöfer Straße haben sie sich als Kinder kaum reingetraut. „Da liegen bestimmt noch Tote drin, hieß es immer.“ Der ehemalige Flakbunker ist jetzt ein Energiebunker. Mit insgesamt 27 Millionen Euro im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) saniert und umgebaut zu einem weltweit einmaligen regenerativen Kraftwerk mit Großwärmespeicher. Das graue Ungetüm versorgt jetzt das Reiherstiegviertel mit klimafreundlicher Wärme und speist erneuerbaren Strom ins Hamburger Netz.

Der Bunker ist Mahnmal. Und Symbol. Eine Ausstellung erinnert an das furchtbare Grauen im 2. Weltkrieg. Und das Café VJU mit grandioser Aussicht ist mittlerweile zu einer echten Attraktion über die Stadtteilgrenzen hinaus geworden. Unten auf der Straße lässt sich eine radelnde Touristengruppe das monumentale Gebäude erklären. „Solche Gruppen sehe ich jetzt immer öfter“, sagt Marvin, „so etwas gab es hier früher nicht“. Dass Menschen für eine Stadtteilführung zu den Schmuddelkindern über die Elbe gekommen wären – vor 20 Jahren unvorstellbar.

Oben in 42 Metern Höhe geht der Rundblick über die ganze Stadt. Köhlbrandbrücke, Containerberge. Elbphilharmonie, Harburger Berge. Dazwischen unendlich viel Grün und viel Wasser. Und vielleicht bald in Sichtweite eine gewaltige Arena? „Olympia wäre ein Traum“, sagt Marvin. In zehn Minuten mit dem Rad zum Olympiastadion auf dem Kleinen Grasbrook. Vielleicht Fechtwettbewerbe in der Inselparkhalle. Sportler aus allen Nationen, die hier wohnen und trainieren. Die Welt zu Gast in Wilhelmsburg – das passe. „Die Wilhelmsburger sind unglaublich gastfreundlich, sie würden die Besucher aus aller Welt willkommen heißen.“ Was die Menschen derzeit für die Flüchtlinge leisteten und in wie vielen Initiativen sie sich mit nicht nachlassendem Engagement engagierten, findet Marvin „unfassbar“.

Von hier oben gesehen ist Wilhelmsburg schon jetzt das Zentrum. „Mit den Spielen würden wir noch näher an die Stadtmitte rücken“, sagt er. Die Towers haben es ja vorgemacht mit ihrem Basketball-Projekt im Inselpark. Tausende kommen jetzt regelmäßig zur Korb-Party in die ehemalige Blumenhalle der Internationalen Gartenbauausstellung. Acht Minuten braucht die S-Bahn vom Hauptbahnhof. „Von Eimsbüttel mit der Bahn in die Stadt dauert es länger“, sagt Marvin.

Dann muss er los. Den Wandel weiter mitgestalten. Die Towers warten.