Stellingen. Verband der Sinti und Roma kündigt die Flucht von weiteren Familien in Gotteshäuser an. Heftige Kritik an Deutschland.

Hunderte Roma-Familien werden nach Darstellung der Roma und Cinti Union (RCU) in den nächsten Wochen in Deutschland Zuflucht in Kirchen suchen, um ihrer Abschiebung zu entgehen. Er gehe davon aus, dass auch in Hamburg weitere Gotteshäuser Aufnahme gewähren würden, sagte Verbandschef Rudko Kawczynski am Mittwoch in Hamburg.

Gegenwärtig halten sich rund 40 Roma in dem Gemeindehaus des Michel auf und werden von der Kirche mit dem Nötigsten versorgt. Nach den Worten des Völkerrechtlers Norman Paech hat man erreicht, dass die Roma-Familien bis auf Weiteres das Gastrecht der Michel-Gemeinde genießen dürften. Die meisten von ihnen hätten einen Abschiebebescheid erhalten.

Seine Organisation gehe davon aus, dass in den vergangenen Monaten mehr als 50.000 Roma aus den Nachfolgestaaten des früheren Jugoslawiens geflohen seien, um ihrer Diskriminierung als Minderheit zu entkommen, sagte Kawczynski weiter. Er rechne mit bis zu 100.000 weiteren Roma-Flüchtlingen aus diesen Staaten.

Roma-Flüchtlinge im Michel – die wichtigsten Fragen

Kawczynski verwies auf die anhaltende Diskriminierung der Sinti und Roma in den Balkanstaaten und warf Deutschland vor, Druck auf Mazedonien, Serbien und Bosnien-Herzegowina ausgeübt zu haben, damit diese „ethnische Selektionen“ an ihren Grenzen einführten. Dadurch sollten Roma an der Ausreise gehindert werden. „Nötig ist aber die politische Einflussnahme auf diese Staaten, damit diese ihre Politik der Diskriminierung ändern.“

Der RCU-Chef ging hart mit Deutschland ins Gericht. „Deutschland exportiert seine Erfahrungen aus der DDR auf den Balkan, um Menschen dort einzusperren.“ Zugleich kritisierte Kawczynski den Missbrauch des deutschen Asylrechts, um Roma abschieben zu können. „Wir haben eine Gesetzeslage, die eindeutig eine Antiroma-Gesetzeslage ist.“ Er sprach wörtlich von „Hexenverfolgung“ und fügte hinzu: „Hier wiederholt sich das Mittelalter.“

Die RCU kündigte eine Verfassungsbeschwerde gegen das im November vergangenen Jahres vom Bundestag und Bundesrat beschlossene Gesetz zur Einstufung Bosniens-Herzegowinas, Mazedoniens und Serbiens als sogenannte sichere Herkunftsstaaten an. Dieses Gesetz führe dazu, dass „eine Spaltung zwischen guten und schlechten, richtigen und falschen Flüchtlingen zur Grundlage der Politik wird“, sagte der Völkerrechtler Paech.

Roma-Flüchtlinge besetzen Michel

Roma-Familien in einer Kapelle der Hauptkirche St. Michaelis
Roma-Familien in einer Kapelle der Hauptkirche St. Michaelis © dpa | Markus Scholz
Die Roma-Familien wollen bleiben, bis ihnen der Aufenthalt in Hamburg zugesichert wird
Die Roma-Familien wollen bleiben, bis ihnen der Aufenthalt in Hamburg zugesichert wird © dpa | Markus Scholz
Roma posieren vor der Hauptkirche St. Michaelis
Roma posieren vor der Hauptkirche St. Michaelis © dpa | Markus Scholz
Unter den Flüchtlingen waren auch einige Kinder
Unter den Flüchtlingen waren auch einige Kinder © HA | TVR-NewsNetwork e.K.
Am Donnerstagnachmittag besetzten rund 50 Roma-Flüchtlinge den Michel
Am Donnerstagnachmittag besetzten rund 50 Roma-Flüchtlinge den Michel © HA | TVR-NewsNetwork e.K.
Sie protestieren gegen ihre Abschiebung
Sie protestieren gegen ihre Abschiebung © HA | TVR-NewsNetwork e.K.
Die Ausreise ist offenbar in der kommenden Woche geplant
Die Ausreise ist offenbar in der kommenden Woche geplant © HA | TVR-NewsNetwork e.K.
Die Gespräche zwischen den Besetzern und Kirchen-Mitgliedern dauerten bis zum Abend an
Die Gespräche zwischen den Besetzern und Kirchen-Mitgliedern dauerten bis zum Abend an © HA | TVR-NewsNetwork e.K.
Die Polizei war vor Ort
Die Polizei war vor Ort © HA | TVR-NewsNetwork e.K.
Die Flüchtlinge brachten Gepäck mit
Die Flüchtlinge brachten Gepäck mit © HA | TVR-NewsNetwork e.K.
Rund 20 Unterstützer waren ebenfalls vor Ort
Rund 20 Unterstützer waren ebenfalls vor Ort © HA | TVR-NewsNetwork e.K.
Ein Abendessen wurde organisiert
Ein Abendessen wurde organisiert © HA | TVR-NewsNetwork e.K.
Kinder essen im Michel
Kinder essen im Michel © HA | TVR-NewsNetwork e.K.
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Der frühere Innenstaatsrat Walter Wellinghausen räumte zwar ein, dass die Väter des Grundgesetzes die politische Verfolgung durch den Staat meinten, als sie einen Anspruch auf Asyl in der Verfassung verankerten. Allerdings sei eine politische Verfolgung auch durch Unterlassen möglich. In den Balkanstaaten unterlasse der Staat den Schutz der Minderheit vor Übergriffen durch die Mehrheit. Das führe zu einem Anspruch auf Asyl für Roma.

Nach Darstellung der Ausländerbehörde sind die Chancen auf Asyl für Flüchtlinge aus den Balkanstaaten, von wo die meisten Sinti und Roma stammten, derzeit „verschwindend gering“. Weniger als ein Prozent erhalte eine Aufenthaltserlaubnis. Etwas häufiger sei eine Duldung mit Bleiberecht.

Genaue Zahlen für die Ethnie der Sinti und Roma lägen nicht vor, weil bei Asylanträgen in erster Linie nach der Staatsangehörigkeit unterschieden werde. Demnach kamen im vergangenen Jahr rund 2200 Menschen aus Serbien, Mazedonien, Albanien, dem Kosovo, Montenegro und Bosnien-Herzegowina nach Hamburg. Abgeschoben wurden in dem Zeitraum 334 Personen, die meisten (100) nach Serbien.

„Es sind langwierige Verfahren“, begründete der Sprecher der Ausländerbehörde die niedrige Zahl der Ausreisen. Der vom Bundesinnenministerium abgelehnte Asylantrag werde oft angefochten. Daraufhin müssten erneut Abschiebehindernisse und genaue Personalien geprüft werden. Alles in allem sei das ein aufwendiger Prozess, der sich über Jahre hinziehen könne.

Unterdessen haben das Erzbistum Hamburg, der Caritasverband, der Kirchenkreis Hamburg-Ost und die Stadtmission einen zusätzlichen Übernachtungsort für Flüchtlinge unweit des Hauptbahnhofs geschaffen. Vom morgigen Freitag an könnten im Haus der kirchlichen Dienste in der Danziger Straße 64 in St. Georg bis zu 70 Personen – vor allem Frauen und Kinder – für eine Nacht aufgenommen werden, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung. Mit dem Angebot sollten die Flüchtlingshelfer am Hauptbahnhof entlastet werden. Das Übernachtungsangebot werde überwiegend durch ehrenamtliche Helfer gewährleistet und von den Organisationen finanziert. Es werde die kommenden Wochen aufrecht erhalten.