An der Reeperbahn 147 kann man Männer-Striptease vom Feinsten erleben. Hinter den Kulissen von Europas größtem Travestie-Theater.

Daisy Ray im Tiger-Mini kommt aus Halle an der Saale und ist „die Quoten-Ossi im Ensemble“. Vor allem ist sie der perfekte Show-Aufwärmer. Sind alle versorgt da unten im Publikum? Allseits Nicken über den Cocktailgläsern. Haben wir heute ein Geburtstagskind dabei? Happy Birthday, Bernd! Bernd, Mitte 50, kommt aus Bad Harzburg und weiß im Moment nicht genau, welches Gesicht er machen soll. Dass die baumlange Daisy kein Gänseblümchen ist, sagt ihm schon ihre Selbstbeschreibung – „von McDonald’s geformt, 90 Kilo Lebendgewicht ohne Knochen“.

Diven in fantastischen Glitzerroben, Star-Parodien, Live-Gesang, sexy Varieté, Stripper-Nummern und unglaublich freche Conférencen – dieser Mix ist das Geheimrezept im Pulverfass. Europas größtes Travestie-Theater in dem ehemaligen Oase-Kino an der Reeperbahn 147 ist eine Institution auf dem Kiez, größer noch als das berühmte Vorbild „Moulin Rouge“ in Paris. Rund 200 Menschen passen in den plüschig-roten Saal mit Tischlampen, Palmen, Spiegeln und Samtvorhängen, der heute voll besetzt ist. Gleich drei Junggesellinnenabschiede sitzen in Bühnennähe und werden gerade von drei neckischen „Pagen“ des Balletts mit Handschlag begrüßt. „Hauptsache, die Leute fühlen sich wohl“, sagt Heinz Diego Leers, 70, der das Pulverfass seit mittlerweile 40 Jahren führt, davon 14 Jahre auf der Reeperbahn.

Früher ist Heinz Diego Leers selbst gereist und hat die Künstler engagiert

 Arbeitet seit mehr als 40 Jahren im Pulverfass: Künstlerin Patrizia
Arbeitet seit mehr als 40 Jahren im Pulverfass: Künstlerin Patrizia © Irene Jung

Aber die wenigsten Besucher ahnen etwas von dem großen Aufwand für die Revue. Zwar sind Conférence- und Gesangskünstler wie Daisy Ray, Joy Peters oder Judy Pascal schon Stamm-Mitglieder im Ensemble. Aber die Einzeldarbietungen sind nur für drei oder vier Monate im Programm. Auch die Artisten, im Augenblick vier stramme Jungs aus Frankreich, und Strip-Künstler wie Danielle Marques oder Adrian stehen nur eine bestimmte Zeit unter Vertrag. Früher ist Heinz Diego Leers selbst herumgereist und hat die Travestie-Künstler engagiert – die meisten kommen aus Paris und Brasilien. Heute werden die Künstler von Geschäftsführer Vassilios Avgouleas gecastet. „Wir wollen ästhetisch schöne Nummern“, sagt Leers, „keine Obszönitäten.“

Aber frivol und lustig darf es zugehen – niemand zieht ja so treffsicher über Schwule, Lesben und Heteros her wie Transen. Daisy hat soeben einen bebrillten Schwerenöter aus der ersten Reihe auf die Bühne geholt, der mit ihr zu „Ein Bett im Kornfeld“ tanzt. Stimmlich ist sie ein Profi, später animiert sie auch den Saal (die Helene-Fischer-Chöre, quasi). Eine schwarze Fee beglückt vor allem die männlichen Augen, dann darf eine der angehenden Bräute im Publikum dem gut gebauten Stripper beim Ausziehen seiner Hotpants helfen. Das Publikum johlt.

In den 1970ern wurden die Travestie-Shows über Mundpropaganda bekannt

In der Garderobe hinter der Bühne tupft sich Patrizia Chihuahua Make-up aufs Gesicht. Patrizia ist im Pulverfass schon eine Legende: Seit 43 Jahren arbeitet sie für Leers, zuerst als Stripperin und Ansagerin, inzwischen seit vielen Jahren als Barfrau („Ich bin der Clown an der Bar“). Als solche wird sie von Gästen öfter mal nach den Künstlerinnen gefragt („Wer ist denn die entzückende Asiatin mit dem Spiegel?“). „Wenn ich dann antworte: ,Hier arbeiten überhaupt keine Frauen auf der Bühne‘, dann sind sie ganz erstaunt.“

Patrizia und Heinz Diego Leers lernten sich zuerst im Cabaret „Chez Nous“ in Berlin kennen, in den flotten Siebzigern. Damals fand Travestie allenfalls in Cabaret-Clubs statt, die Shows wurden über Mund-zu-Mund-Propaganda bekannt. Bevor sie als feste Entertainerin und Stripperin in Leers’ Pulverfass auf St. Georg begann, war Patrizia auf Tournee durch Cabarets in ganz Deutschland, in vielen europäischen Städten, den USA und Israel. Sie ist in Wiesbaden aufgewachsen und hatte ursprünglich Frisörin gelernt. „Ich hab in einem Salon in Frankfurt über dem Café Kranzler gearbeitet“, sagt sie. „Da hab ich auch viele Stripperinnen frisiert, die von sich erzählten. Ich dachte: Das kann ich auch.“

 Eigentlich wollte er eine Disco eröffnen: Besitzer Heinz Diego Leers
Eigentlich wollte er eine Disco eröffnen: Besitzer Heinz Diego Leers © Irene Jung

Leers ist ein Pionier. Als er 1973 das Lokal seines Vaters am Pulverteich in St. Georg übernahm, wollte er dort eigentlich eine Diskothek eröffnen. Aber die Travestie-Künstler, die er für die Eröffnungsparty engagiert hatte, kamen so gut an, dass er hier sehr richtig eine Marktlücke witterte und Hamburgs erstes Travestie-Theater aus der Taufe hob. „Der Club war nicht mehr als ein großes puffiges Wohnzimmer“, sagt Patrizia, „gar kein Vergleich zum heutigen Pulverfass.“ Nach ein paar Jahren setzte Leers mit Men Strip nebenan im „Crazy Boys“ noch einen drauf – das Publikum war zu 90 Prozent weiblich, mittwochs beim Frauentag war es brechend voll.

Viele der Artisten kommen aus Slowenien, Rumänien oder Spanien

2001 zogen Pulverfass und Crazy Boys an die Reeperbahn um und wurden eins. Rund zwei Millionen Euro hat Leers in den Umbau des alten Oase-Kinos gesteckt. Der Eingangsbereich mit der Garderobe blieb erhalten, aber der Kinosaal wurde verkleinert, um Platz für eine größere Bühne und die Künstlergarderoben zu schaffen. Viele Stars der Szene haben über die Jahre hier gelernt – unter anderem Mary und Gordy, aber auch Olivia Jones und Devina Devil. Beim jährlichen Nachwuchswettbewerb für Travestie-Künstler werden auch heute noch junge Talente gefördert.

Travestie gehört längst zum Kiez-Mainstream. „Aber Internet und Fernsehen haben auch vieles kaputtgemacht“, findet Daisy, die sich am Platz neben Patrizia schminkt. „Im Hartz-IV-Fernsehen kann sich heute jede Fummeltunte als Travestie-Künstler ausgeben. Im Pulverfass wird eine andere Qualität geboten, wirkliche Kunst. Wir sind nicht einfach ein paar schwule Jungs.“ Joy Peters zum Beispiel ist ausgebildeter Opernsänger. Andere, wie Daisy, haben als „karnevalistische Freizeittänzerin“ angefangen und sich bei Choreografen und Gesangslehrern weitergebildet. Einige Kollegen im Ensemble sind Heterosexuelle mit Frau und Kindern zu Hause. „Kannst mir mal die Wimper hier ankleben?“, fragt Patrizia. Nebenan im Fundus sucht Kollegin Judy Pascal aus München gerade zwischen Bühnenroben und Straußenfeder-Boas ihr Glitzerkleid für den Auftritt heraus. Die männlichen Stripper sind teilweise hetero oder bi, sagt sie, „aber die sind schon nach 14 Tagen hier umgeschwult.“ Viele der Artisten kommen aus Ungarn, Slowenien, Rumänien, aber auch aus Frankreich und Spanien. Sie bringen, wie die Travestie-Künstler, ihre fertigen Programme mit samt Garderobe. „Wenn neue Leute ins Ensemble kommen, wird zwei Tage lang zusammen geprobt, dann sitzt es.“

Witze auf der Bühne: „Alles ist vergänglich, nur der Schwanz bleibt länglich“

Patrizia steht hinterm Bartresen und sieht aus wie die Königin von Rumänien: eleganter schwarzer Hosenanzug, schicke Frisur. Wie sie gehört Vassilios Avgouleas zur Stammbelegschaft bei Leers, er hatte vor 20 Jahren selbst mal als Barmann im Crazy Boys angefangen. „Das Teamwork der einzelnen Künstler muss stimmen“, sagt der Geschäftsführer. Viele kommen von weit her, um bei uns eine Probeshow zu zeigen.“ Auch das Publikum wird immer internationaler, der Anteil der Österreicher und Schweizer steigt.

Einkleiden für die große Show: Travestie-Künstler helfen sich in der Garderobe im Pulverfass gegenseitig, bevor sie auf die Bühne gehen
Einkleiden für die große Show: Travestie-Künstler helfen sich in der Garderobe im Pulverfass gegenseitig, bevor sie auf die Bühne gehen © Roland Magunia

Inzwischen steht „Lissy“ aus Düsseldorf auf der Bühne – „26 plus Mehrwertsteuer“ – und erheitert den Saal mit dem Reim: „Alls ist vergänglich, nur der Schwanz bleibt länglich“. Der folgende Song zeigt, dass Elvis auch hier zu Hause ist. Und ganz kurz wird die Reeperbahn zur Elm Street („Jetzt was für die Damen“): Das Pulverfass ist vermutlich der einzige Ort, wo sogar Freddie Krueger sich in einen Adonis verwandeln kann. Das Finale wird zu einer glamourösen Fiesta Mexicana.

Auch Heinz Diego Leers ist vorerst noch nach Fiesta statt Siesta. Er ist jetzt 70, 2014 fiel er wegen einer Lungenembolie lange aus. Dass schon Interessenten auf seiner Schwelle stehen, die das Pulverfass gerne übernehmen würden, leugnet er nicht. „Ist nicht aktuell. Vor dem nächsten Jahr will ich nichts in Betracht ziehen“, sagt er. „Ich will, dass hier etwas bleibt, das zur Reeperbahn passt. Und ich habe einen super Geschäftsführer. Er wäre der erste, der als Nachfolger in Frage käme.“ Dann würde das Pulverfass dem Kiez noch lange erhalten bleiben.

Pulverfass, Reeperbahn 147, tägliche Shows ab 20 Uhr (Samstag und Sonntag ab 20.30 Uhr). Preise ab 17 Euro, Spätshow ab 7 Euro. www.pulverfasscabaret.de