Wilhelmsburg. Auf dem ehemaligen Parkplatz leben jetzt 1480 Menschen, davon 800 in Zelten. Die Bevölkerung half am Wochenende mit Bettzeug aus.
Drei junge Afrikaner klauben Pfandflaschen und Bierdosen aus dem Gebüsch. Zwei vermutlich osteuropäische Frauen kramen in Altkleidern, die offenbar in guter Absicht vor der Erstunterkunft für Flüchtlinge an der Dratelnstraße in Wilhelmsburg abgelegt wurden, jetzt aber unordentlich auf dem Boden liegen. Hinter dem Zaun, der die Unterkunft umgibt, spielen ein paar junge Männer Volleyball. Andere schlendern in kleinen Gruppen Richtung S-Bahnhof. Eine Frau schiebt einen Kinderwagen vor sich her.
Es ist aus wie in Krisenregionen der Welt
Es ist ein erschütternder Anblick, den man sonst nur aus Berichten über Krisengebiete kennt: Dicht an dicht stehen 50 große, weiße Zelt und mehrere Sanitärcontainer auf dem ehemaligen Gartenschau-Parkplatz an der Dratelnstraße – unmittelbar neben dem Containerdorf, das sich hier seit Oktober befindet. Gerade wurde es von 560 auf 680 Plätze aufgestockt. In den Zelten wurden in den vergangenen Tagen auf dem Gelände weitere 800 Flüchtlinge untergebracht.
Insgesamt leben in der Zentralen Erstaufnahme also knapp 1500 Menschen. Sie kurzfristig mit dem Nötigsten zu versorgen war zum Teil nur durch die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung möglich. So gab es am Sonnabendabend einen Facebook-Aufruf der Gruppe „Elbinsel Kunst“, in dem dringend um Bettzeug gebeten wurde, da sonst 30 Flüchtlinge ohne Decken schlafen müssten. Bereits zweieinhalb Stunden später konnte für diesen Tag „Entwarnung“ gegeben werden. Auch Mailin Schütze hatte den Aufruf gelesen. „Wir haben gerade unsere beiden Gästedecken vorbeigebracht. Man kann vor dieser Not doch nicht die Augen verschließen“, sagt sie, und steigt zu ihrem Mann ins Auto. Während sie ihre Spende beim Wachpersonal am Eingang abgegeben hat, drückt Barbara Kopf aus Wilhelmsburg ihre Tüte mit Bett- und Kissenbezug vor der Unterkunft einem Flüchtling direkt in die Hand. „Fühlt euch hier willkommen“, sagt sie zu ihm.
Kritik von Bezirksamtsleiter Grote an Aufstockung
Anders als Bezirksamtsleiter Andy Grote, der die Aufstockung der Wilhelmsburger Unterkunft unlängst als „nicht mehr vertretbar“ kritisiert hatte (das Abendblatt berichtete), ist die Leiterin des Freizeithauses Kirchdorf der Meinung, dass auf der Elbinsel durchaus noch mehr Flüchtlinge untergebracht werden könnten. „Wir haben so viel Platz. Hier hat keiner gegen die Zelte demonstriert, und auffallen tun die Flüchtlinge in unserem Multi-Kulti-Stadtteil auch nicht.“ Ihre Idee: die Stadtentwicklungsgesellschaft IBA, die aus der Internationalen Bauausstellung hervorgegangen und immer noch auf der Elbinsel aktiv ist, könnten mit den Flüchtlingen feste Unterkünfte bauen.
Lutz Cassel, Vorsitzender des Stadtteilbeirats, teilt eher die Meinung des Bezirksamtsleiters. „Wenn man die Leistungsfähigkeit der Unterkunft betrachtet, kann man nur sagen: Das Boot ist voll. Man kann die Menschen nicht nur zusammenpferchen, sondern braucht auch ausreichend Personal für ihre Betreuung.“ Zudem löse eine so große Unterkunft bei den Menschen in Wilhelmsburg Unruhe aus, und die Akzeptanz werde aufs Spiel gesetzt.
Angst vor Rechtsruck im Stadtteil
Cassel hat Angst vor einem Rechtsruck im Stadtteil – und davor, dass er bei einer zu großen Flüchtlingszahl wieder in den „Bronx-Status“ von vor zehn Jahren zurückfällt. Dann wären die IBA und die Internationale Gartenschau vergebens gewesen.
Muhammad und Kawa aus Syrien haben ganz andere Probleme. Die beiden Kurden, die vom ISIS („Islamischer Staat“ in Irak und Syrien) als „Atheisten“ verfolgt wurden, suchen vor der Unterkunft das Gespräch. Sie sind vor zehn Tagen in Neumünster gelandet, berichten der Englischlehrer und der Chemielaborant – nach einer viertägigen Reise aus der Türkei, die sie mit anderen Flüchtlingen im Laderaum eines Lastwagens zurückgelegt haben.
Sie sind überrascht, dass sie in Zelten schlafen müssen, in denen es nachts sehr kalt ist. In arabischen Online-Nachrichten hatten sie gehört, dass Deutschland mit einer halben Million Flüchtlingen rechne und genügend Geld für ihre Unterbringung habe. Davon, dass die Städte mit dem Einrichten von festen Unterkünften wegen des großen Ansturms nicht hinterherkommen, hatte dort nichts gestanden.
Die beiden kritisieren auch, dass der überwiegende Teil der Flüchtlinge in der Unterkunft aus Osteuropa stamme: „Sie haben keinen plausiblen Grund, hier zu sein, und nehmen anderen Flüchtlingen den Platz weg.“ Dass zunächst alle Flüchtlinge gleich behandelt werden müssen und ihr Verbleib erst im Asylverfahren geklärt werden kann, wissen sie nicht.
Flüchtlinge wollen Deutsch lernen
Was wünschen sie sich für ihre Zukunft? „Wir möchten schnell Papiere und ein Bleiberecht bekommen und dann arbeiten“, sagt Muhammad. „Und einen Raum in einer Bibliothek, in dem wir Deutsch lernen können.“