Maikel Yousif floh als Christ mit seiner Familie aus dem Irak. In Hamburg ist er einer von Tausenden Flüchtlingen. Nun ist sein Asylantrag abgelehnt worden, er muss Deutschland verlassen.

Hamburg. An einem Freitag im August sitzt Maikel Yousif, 24 Jahre alt, Nummer E 332/01, im Wartezimmer der Hamburger Ausländerbehörde und hat das Gefühl, dass Deutschland ihn nicht verstehen will. Er umklammert die Beine des Plastikstuhls und presst die Knie aneinander. Durch die grauen Lamellenvorhänge sickert Licht. Es ist 9 Uhr morgens.

„Yousif?“, ruft eine Stimme durch die angelehnte Tür am Gang. Yousif steht zögernd auf. „Yousif, Maikel?“ Er geht einen Schritt nach rechts, bis er im Lichtkegel des Flurs steht. Seine Haare sind schweißnass. Gleich entscheidet sich hier in der ersten Etage der Ausländerbehörde, ob die Flucht von Nummer E 332/01 ein gutes Ende nehmen wird.

Yousif ist einer von 136.000 Flüchtlingen, die seit Jahresbeginn in Deutschland Asyl beantragt haben. Das Amt für Migration und Flüchtlinge rechnet bis Jahresende sogar mit mehr als 200.000 Antragstellern. So viele wie seit Anfang der 90er-Jahre nicht mehr. Die Kommunen wissen nicht, wohin mit ihnen, die Flüchtlingsheime sind überfüllt.

Seine Flucht beginnt im Januar im Süden Bagdads

Flüchtlinge wie Maikel Yousif stellen Deutschland auf die Probe. Jeden Tag kommen schlechte Nachrichten aus dem Irak, von Enthauptungen und Vergewaltigungen. Aber reicht das im Einzelfall, wie Yousif einer ist, um auf ein dauerhaftes Bleiberecht zu hoffen? Yousif sagt, dass er Christ sei und mit seiner Familie aus Todesangst vor dem islamistischen Terror geflohen. Doch das ist nicht konkret nachprüfbar. Konkrete Zahlen dagegen gibt es über die Aufnahme von Flüchtlingen: Ein Asylberechtigter bekommt eine monatliche Unterstützung von 391 Euro. Bei 200.000 Flüchtlingen wäre das im Jahr eine Summe von 938.400.000 Euro. Dazu kommen die Kosten für Miete und Heizung.

Maikel Yousif erzählt seine Geschichte. Seine Stimme klingt bestimmt und fest. Seine Flucht beginnt im Januar 2014 im Irak, in Dora, einem Bezirk im Süden Bagdads, kurz nach Neujahr. An einem kalten Vormittag, 10 Uhr, kommt Yousifs Bruder Marc zu Besuch, er hat heute frei. Yousif und er stehen im Vorgarten, mit dem Rücken zur Straße.

Ein Dutzend Menschen laufen entlang, als ein Auto direkt vor ihrem Haus hält. Ein dunkelroter Opel Omega. Drei Vermummte steigen aus, jeder von ihnen hält eine AK 47 in der Hand, sie schießen fünf junge Männer nieder: vier Muslime, einen Christen. Drei von ihnen sacken direkt auf dem Gehweg zusammen, zwei taumeln noch ein paar Schritte und fallen in den Vorgarten. Yousif und sein Bruder erstarren. Sie sehen, wie das Blut aus den Körpern fließt und den Sand rot färbt. Einer der Vermummten brüllt, dass sie in fünf Sekunden auch dran seien. Yousif und sein Bruder rennen schreiend ins Haus, verriegeln die Tür. Ihr Vater versucht, sie zu beruhigen.

40.000 US-Dollar für drei Visa für Spanien

Es war das zweite Mal innerhalb einer Woche, dass die Vermummten nach Bagdad-Dora gekommen sind. Ein paar Tage zuvor hatten sie einen Nachbarn erschossen, einen Christen.

Yousif und seine Eltern haben Angst. Sie sind Christen, und sie leben in einem Land, in dem islamistische Terroristen Christen foltern und enthaupten. Ihr Ziel ist es, alle Ungläubigen aus dem Irak zu vertreiben. Ungläubig sind alle, die sich ihnen nicht unterwerfen wollen. 150.000 Christen lebten einmal in Bagdad-Dora, heute sind es nur noch ein paar Tausend. Um zu fliehen, verkaufen Yousifs Eltern ihr Haus an einen Nachbarn und zahlen einem Unterhändler 40.000 US-Dollar für drei Visa für Spanien. Der Unterhändler sagt ihnen, damit können sie nach Deutschland. In das Land, in dem Yousifs Schwester seit zwei Jahren lebt, geduldet und mit Arbeitserlaubnis. Sie halten das für eine gute Idee.

Yousif und seine Eltern fliehen, ohne etwas mitzunehmen. Das restliche Geld vom Hausverkauf haben sie gegen Bus- und Flugtickets getauscht. Sie fahren in die Türkei und fliegen von dort nach Spanien, in eine Stadt, an deren Namen sie sich nicht mehr erinnern, und dann weiter nach Deutschland. Für Yousifs Bruder Marc, seine Frau und seine zwei Töchter, hat das Geld nicht gereicht.

„Yousif, hier, das ist für Sie.“ Yousif dreht sich um und sieht einen Mann, 1,60 Meter groß, hohe Stirn, graumeliertes Haar. Herr Knorr* von der Ausländerbehörde geht über den Gang zwischen seinem Büro und dem Wartezimmer, das Linoleum quietscht unter seinen Schuhsohlen. Knorr ist Yousifs Sachbearbeiter. Zurzeit bearbeitet er knapp 100 Anträge.

„Wenn Sie mich nicht überzeugen, werden Sie ausgewiesen“

Er allein muss entscheiden, was mit ihnen passiert. Herr Knorr übergibt Yousif einen Zettel für seine nächste Anhörung. „E 332/01: 13.08.2014 um 11 Uhr, Zimmer 109“, steht auf dem Zettel. Wer sich auskennt, weiß, was das bedeutet. Yousif aber muss nachfragen. „In fünf Tagen, am 13. August, entscheidet sich, ob Sie bleiben“, sagt Herr Knorr. Er redet langsam und mit sehr einfachen Worten. Doch das ist ziemlich schwierig bei so einem Thema.

„Mhh?“. Yousif schaut verständnislos. „Kommenden Mittwoch, 13.8., entscheide ich, ob Sie bleiben, Herr Yousif.“ Jeder Fall wird individuell bearbeitet. Yousif schüttelt den Kopf. Er kann nur wenige Wörter Deutsch: nicht gut, kaputt, ja, Hotel, tschüs. Eigentlich fallen ihm Formulare leichter als Gespräche. Wenn er Formulare bekommt, bringt er sie zu einem Pastor seiner Christengemeinde am U-Bahnhof Mundsburg. Er hilft ihm, alles zu übersetzen. Aber gerade ist der Pastor sehr weit weg.

„Wenn Sie mich nicht überzeugen, werde ich am 13. beantragen, dass Sie ausgewiesen werden“, sagt Herr Knorr. Sie müssen dann zurück nach Spanien. Ihre Mutter auch. Spanien.“ „Mut-ter?“ „Ja, auch. Am 13. ist dann auch ein Übersetzer dabei. Arabisch-Übersetzer. Ich werde bis dahin alles genau prüfen.“

Die Akte von Yousifs Vater liege noch nicht auf seinem Tisch, sagt Herr Knorr. Aber wahrscheinlich dürfe Yousifs Vater bleiben, denn er sei zu krank, um auszureisen. Yousifs Vater hat Leberkrebs, eine kaputte Niere, einen Herzfehler und eine verengte Halsschlagader. „Familientrennung“ ist so ein Wort, das oft aus Knorrs Mund kommt. Familientrennung. Yousif stiert an Herrn Knorr vorbei, zum Fenster des Wartezimmers heraus. Es wirkt, als würde er überlegen, wie er Deutschland doch noch überzeugen kann. Er muss Argumente sammeln.

20 Quadratmeter zum Leben für drei Personen

Ein Deutschkurs und ein Schulabschluss wären keine guten Argumente. Yousif weiß das aus Gesprächen mit anderen Flüchtlingen. Eine Hochzeit mit einer Deutschen wäre ein gutes Argument, ist aber nicht so einfach. Yousifs kranker Vater wäre ein sehr gutes Argument, er kann nicht allein in Deutschland bleiben.

Yousif bleiben noch fünf Tage Zeit. Wenn Yousif seine Sorgen für einen Moment vergessen will, raucht er Shisha vor seinem neuen Zuhause. Seit 86 Tagen wohnt er mit seinen Eltern in einem Flüchtlingswohnheim in Hamburg-Hamm, einem ehemaligen Hotel, das die Stadt angemietet hat. 20 Quadratmeter für drei Personen. Er nennt den kleinen Platz vor dem Hotel „sein Wohnzimmer“.

Drinnen riecht es nach Chai, dem würzigen Tee. Saad, Yousifs Mutter, sucht auf seinem Handy nach Fotos. „Das war unser Haus, unser Garten und das hier unser Auto“, sagt Saad. Sie spricht Arabisch, eine Nachbarin übersetzt ins Englische. „Und jetzt haben wir nur diese Fotos, diese paar Pixel Erinnerung.“ Ihre Augen werden klein. Sie ist eine warmherzige, 1,50 Meter große Frau. Ob sie bleiben wollen? „Ja, wo sollen wir sonst hin?“, sagt sie. „Hier bekommen wir ein Bett, Essen und Medizin.“ Saads Mann, Marcus, nickt, er spricht nicht viel. Wenn er spricht, hat er Schmerzen.

Der 13. August ist ein diesiger Tag. Yousif ist schon früh in der Behörde, sein Termin wird vorgezogen. Rechts neben ihm nimmt Ali Platz. Ali ist aus dem Irak und übersetzt für die Behörde.

„Regeln sind Regeln“

„Sagen Sie Herrn Yousif, dass er nach Spanien muss.“ Ali übersetzt die Worte ins Arabische. Yousif senkt den Kopf. Herr Knorr sagt: „Regeln sind Regeln. Ich kann nichts dafür. Mir sind die Hände gebunden. Sie kennen doch die Drittstaatenregelung.“ Er erklärt dann, dass Yousif und seine Mutter nach Spanien zurückmüssten, weil sie dort als erstes eingereist sind. Die Dublin-III-Verordnung der EU regelt, dass Flüchtlinge nur in dem europäischen Land Asyl bekommen können, in dem sie zuerst registriert werden.

Zu Yousifs Anwalt wird Herr Knorr später am Telefon sagen, dass es eine schwierige Entscheidung war: „Er hatte die Möglichkeit, mich zu überzeugen. Er hat meine Fragen nicht richtig beantwortet. Es ist einfach doof gelaufen.“ Es klingt, als wollte Deutschland sich nicht überzeugen lassen. Oder als täte es einfach nur seine Pflicht. Nur jeder dritte Flüchtling darf in Deutschland bleiben.

Drei Tage später sitzt Yousif mit ein paar Freunden in einer Shisha-Bar am Hamburger Hauptbahnhof. Sie überlegen, was für ihn das Beste wäre. Sein Kumpel Allah schlägt vor unterzutauchen. Das gefällt Yousif. Alles ist besser, als nach Spanien geschickt zu werden.

„Am besten nehme ich mir gleich ein Messer“

Yousif hat Angst vor Spanien. Im Flüchtlingsheim erzählt man sich von irakischen Asylbewerbern, die nach wenigen Tagen zurück in den Irak geschickt wurden. Er tippt auf seinem Handy. Er liest eine Nachricht aus Bagdad, legt den Shisha-Schlauch auf den Tisch, pustet so langsam den Dampf aus, dass er kaum zu sehen ist, steht auf und stürzt zur Tür.

Er hat rote Augen, als er zurückkommt. In der Nachricht stand, dass sein bester Freund Abraham am Vortag erschossen wurde. Allah und die anderen gucken zu Boden. Sie versuchen sich auszudenken, was sie sagen könnten. Yousif sagt: „Am besten nehme ich mir gleich ein Messer und steche mich ab.“

In den Wochen danach kommt Yousif nicht zur Ruhe. Er denkt ständig darüber nach, was er tun soll: sich nach Madrid abschieben lassen, untertauchen oder sich das Leben nehmen? Am 2. Oktober um 4 Uhr morgens stirbt Yousifs Vater im Krankenhaus, drei Wochen nach seiner Operation. Yousif und seine Mutter beerdigen ihn in Hamburg-Ohlsdorf.

Am 28. Oktober bekommen sie ihre letzte Vorladung von Herrn Knorr. Yousif sagt, sein Anwalt sei aus dem Fall ausgestiegen, weil er nichts mehr tun könne. Am 5. November um 10 Uhr haben Maikel Yousif und seine Mutter ihren letzten Termin in der Ausländerbehörde – um ihre Flugtickets nach Madrid abzuholen.

*Name von der Redaktion geändert