Mehr als 50 Abendblatt-Reporter waren an den G20-Tagen und -Nächten auf den Straßen. Zehn berichten von ihrem besonderen Erlebnis.

Christoph Heinemann,
Polizeireporter:

Noch sieht alles beherrschbar aus. Ein Feuer auf der Kreuzung Neuer Pferdemarkt. Flaschenwürfe auf Polizisten. Ein Kollege sagt am Telefon, er stehe vor der Roten Flora. „Wir kommen eben rüber“, sage ich. Seine Warnung, lieber außen herumzugehen, nehme ich nicht ernst. Wir drücken uns an den Hauswänden entlang. Blicken um die Ecke. Auf einmal das ganze Panorama der Gewalt: Stichflammen, aufgegrabene Straßen, Schwarzvermummte mit tiefroten, starrenden Augen. Der Weg über das Schulterblatt ist ein Spießrutenlauf. Durch Gaffer, Böllerknall, Schwarzen Block, lodernde Flammen, die unter Drogerieartikeln aus dem Budni noch höher schießen. Noch ein Knall, kurz Panik, Sprint mit einigen Hundert anderen bis zur Piazza. Ich will nicht noch zwischen den Irren und Schaulustigen sein, wenn die Kavallerie der Polizei anrückt. Banger Blick zurück. Sie kommen bestimmt gleich, oder? Kommen sie nicht. Noch für Stunden nicht. Wir retten uns in die Wohnung einer Freundin, 50 Meter neben der Roten Flora. Schauen danach auf dem Handy Fernsehen, wo sie von „Bürgerkrieg“ sprechen. Als das Tränengas hereindringt, schließen wir die Fenster. Eine Holzpalette blockiert die Tür von innen. Stunden vergehen. Dann ein zaghafter Blick nach draußen. Kein Mob mehr, nur Trümmer, müde aussehende Polizei. Das Ende einer Schlacht, die es nie gegeben haben sollte.


Marc Hasse, Landespolitik:

Im Kopf noch die TV-Bilder von brennenden Barrikaden und plündernden Autonomen, hatte es am Sonnabend etwas Surreales, inmitten von bunten Luftballons und Nächstenliebe-Plakaten die Demo „Hamburg zeigt Haltung“ zu begleiten. Dann stieß ich auf diese fröhlichen vier Jungs aus Eimsbüttel: Robert, Johann, Bill und Johannes, zwölf Jahre alt. „Ganz Hamburg hasst Gewalt“, hatten sie auf ihr Papp-Plakat geschrieben, spontan am Morgen vor der Kundgebung, die sie zwar ohnehin besuchen wollten, aber ursprünglich ohne ein solches Statement. „Den Gewalttätigen im Schanzenviertel ging es einfach nur um Krawall“, sagte Robert. Das mochten er und seine Freunde nicht so stehen lassen. Ein tröstliches Zeichen: Wenn schon so junge Menschen sich stark machen für ein friedliches, demokratisches Verhalten, kann es um unseren Zusammenhalt nicht schlecht bestellt sein.


Matthias Popien,
Norddeutschland-Korrespondent:

Wie fast jeden Sonnabend will ich auf dem Wochenmarkt einkaufen. Aber die Große Bergstraße in Ottensen ist nahezu leer. Rund 20 Händler bieten dort normalerweise ihre Waren an, heute sind es aus Furcht vor Randalierern nur zwei: der Käsemann und der Schlachter. Dem Schlachter sagen die Kunden: „Sie sind ja mutig.“ Der mit Humor gesegnete Mann entgegnet: „Vielleicht auch nur verrückt.“ Ich kaufe Aufschnitt – und stelle fest, dass ich nur noch einen Zehn-Euro-Schein im Portemonnaie habe. Zu wenig. Ich lasse Schein und Aufschnitt beim Schlachter, um Geld abzuheben. Aber wo? Die Banken sind alle demoliert oder haben geschlossen, auch die Post an der Altonaer Poststraße. Vielleicht im Mercado? Ich radle hin. Es hat gar nicht erst aufgemacht. In ganz Ottensen gibt’s heute kein Geld. Zurück zum Schlachter. Der reicht nicht nur den Aufschnitt rüber, sondern auch meinen Zehn-Euro-Schein. Und dann fragt er: „Soll ich Ihnen Geld leihen?“


Insa Gall, Ressortleiterin Lokales:
Wenn der amerikanische Präsident direkt in der Nachbarschaft wohnt, ist das eine coole Sache. Eigentlich. Heißt dieser Präsident Donald Trump, sind die Gefühle dagegen sehr gemischt. So richtig freut sich bei uns auf der Uhlenhorst niemand über den Gast, den wir nicht hergebeten haben. Aber insgeheim sind wir doch ein bisschen aufgekratzt. „Vorhin ist wieder der Trump vorbeigekommen“, erzählen wir einander wie beiläufig. Aber dann gehen wir doch mal eben zum Gästehaus des Senats und gucken, ob man Trumps Frau Melania im Garten sehen kann. Wollten ja eh spazieren gehen, sagen wir uns. Die halbe Nacht dröhnen die Hubschrauber in der Luft. Eine Polizistin, die bei uns um die Ecke die Absperrung bewacht, zeigt den Kindern ihre Handschellen und erzählt, dass sie und ihre Kollegen möglichst wenig trinken, um im Einsatz nicht auf Toilette zu müssen. Staunen bei den Kindern. Die sind ohnehin die einzigen, die ihre Aufregung offen zeigen. Sie haben mit eigenen Augen gesehen, wie die Trumps am Schwanenwik gelandet sind. Und wundern sich, warum das Präsidentenhaar auch im Wind des Hubschraubers makellos sitzt. „Ist das festgetackert?“


Oliver Schirg, Landespolitik:
Plötzlich war das Tränengas da. Ich hatte am Grünen Jäger über mehrere Stunden berichtet, wie Teile des Schanzenviertels zum rechtsfreien Raum geworden waren. Aus Sorge vor Flaschen, die aus der Dunkelheit auf Polizisten geworfen wurden, hatte ich mich in einen Hauseingang zurückgezogen. Doch die Wolke kam rasch näher. Wahrscheinlich habe ich das Ganze unterschätzt und gehofft, es werde schon nicht so schlimm. Als mich das Tränengas erreichte, fingen zuerst die Augen an zu brennen. Schmerzhaft, aber nicht wild. Doch dann bekam ich keine Luft mehr – und das machte mir dann doch Angst. Ich stürzte zur Haustür und klopfte an die Fensterscheibe. Glücklicherweise hatten Bewohner des Hauses wohl damit gerechnet, dass ihre Hilfe nötigt wird. Während ich in den Hausflur trat, überkam mich ein Hustenanfall. Die Atemnot hielt an. Eine Bewohnerin reichte mir eine Flasche Wasser. Langsam ließ die Atemnot nach. Lediglich die Augen schmerzten noch eine Weile.


Daniel Herder, Polizeireporter:

Nach zwei Krawall-Demos und 50 gelaufenen Kilometern ist Tobi (34) mal ein echter Lichtblick. Der junge Mann aus Bad Segeberg steht während der Demo „Grenzenlose Solidarität statt G20“ an der Helgoländer Allee vor einer Polizeikette. In die Höhe hält er ein Pappschild mit der Aufschrift: „Tina, willst du mich heiraten?“. In der Stadt, sagt Tobi, herrsche gerade so viel negative Energie, da wolle er ein „anderes Zeichen“ setzen. Der Informatiker hofft, dass der Antrag seine Tina auf einem medialen Kanal erreicht. Bitteschön!


Michael Rauhe, Fotograf:
Der eigentliche Termin für das „Familienfoto“ der G20-Teilnehmer und ihrer Partner vor der Elbphilharmonie am Freitagnachmittag dauerte nur zehn Minuten. Insgesamt brauchten wir Kameraleute und Fotografen dafür aber siebeneinhalb Stunden. Schlimmer noch als der Zeitaufwand war für mich die Bedrückung angesichts des enormen Sicherheitsapparats. Dieses Riesenaufgebot an Polizei, diese Masse an Staatsmacht, die dort eingesetzt wurde, war irgendwie verstörend. Vor dem Fototermin mussten wir in einer Häuserschlucht in der HafenCity auf engstem Raum drei Stunden ausharren – ohne Getränke, ohne die Möglichkeit, auf Toilette zu gehen, bewacht von sechs BKA-Beamten. Hinterher mussten wir weitere drei Stunden warten, bis wir die Sperrzone wegen der angespannten Verkehrslage auf den Straßen wieder verlassen konnten.


Joachim Mischke, Chefreporter Kultur:

Nachdem ich morgens beim Joggen durch Ottensen frontal gegen den Schwarzen Block gelaufen war, der gerade Autos auf der Elbchaussee abfackelte, war die Lust eher gering, es am Abend, nach Beethoven in der Elbphilharmonie, auf offener Straße nach Hause zu versuchen. Die Fahrt mit dem Besucher-Schiff zum Cruise Center klappte noch, ebenso die U-4-Etappe bis Jungfernstieg. Aber umsteigen? Keine Chance. Keine Bahnen, keine Busse, erst recht keine Taxen. Gestrandet in der City. Wir steuerten die Abendblatt-Redaktion am Großen Bur­stah an. Dort machten sich bald die letzten per Rad auf ihre Heimwege in andere Stadtteile. Wir blieben, während alle Taxi-Zentralen zwar Mitleid hatten, aber keine Wagen. Büroschlaf aus Notwehr auf Sitzmöbeln, bis kurz vor 4 Uhr, als sich ein freies Taxi fand. Notwehr auch deswegen, weil kein Hotel in der Nähe noch ein Zimmer hatte. Dafür aber hatte die Nachtschicht im Steigenberger einen herzensguten Preis im Angebot: 519 Euro, „ohne Frühstück“. Sonst ja sofort, liebes Steigenberger. Aber so? So nicht ...


Peter Wenig, Autor:

Flink klettert die junge Frau auf den Baum gegenüber der Gefangenensammelstelle (Gesa) in Harburg. Gelernt ist gelernt, sie gehört zur Umweltschutz-Organisation Robin Wood. Diesmal ist sie allerdings in politischer Mission unterwegs. Sie hängt ein Transparent mit der Aufschrift „Politisches Engagement kann zu Repressionen führen“ zwischen die Äste, dann ruft sie über ein mitgebrachtes Megaphon zur Solidarität mit den Festgenommenen auf. Leider pfeift die Flüstertüte fürchterlich. Die Polizisten verfolgen die Versuche amüsiert – und klatschen Beifall, als man etwas versteht. Wäre die Stimmung doch nur immer so entspannt gewesen.


Andreas Dey, Landespolitik:
Freitagabend, Rückkehr aus dem Medienzentrum. S-Bahn vom Hauptbahnhof fährt zum Glück normal. Gegenüber ein junger Mann, T-Shirt, Jeans, Turnschuhe. Er kratzt sich nervös. Auf dem Schoß ein grüner Stoffbeutel, darin ein schwarzes Kleidungsstück. Kopfkino an: Wo kommt der her? Was hat er da im Beutel? Hat der etwa auch ...? Eigentlich sieht er so friedlich aus. Mein Vorurteil ärgert mich. Ich habe auch einen schwarzen Kapuzenpulli. Liegt im Schrank.