Hamburg. Die Demo beginnt friedlich. Doch als die Polizei Vermummte aus dem Schwarzen Block stoppt, kommt es zu den befürchteten Krawallen.
Die Uhr zeigt 18.01, als Andreas Beuth am Donnerstag auf dem Fischmarkt die Hymne „You’ll Never Walk Alone“ anstimmt. Der Anwalt der Roten Flora will mit diesem Lied eines am Morgen verstorbenen Freundes gedenken, der im März 2013 aus der Gruppe der Lampedusa-Flüchtlinge nach Hamburg gekommen war.
Ist der so melancholische Song, inbrünstig gesungen bei vielen Heimspielen des FC St. Pauli, das Signal für eine am Ende doch weitgehend friedliche Demonstration? Oder doch der Auftakt für die befürchtete Nacht voller Gewalt? Schon das Motto der Anti-G20-Demo „Welcome to Hell“ lässt jedenfalls nichts Gutes erahnen.
Polizei: "Alle Befürchtungen sind eingetreten"
Zwei Stunden später ist klar: Es gibt genau die Eskalation, die viele befürchtet hatten. Vermummte Mitglieder des Schwarzen Blocks schleudern Flaschen, Böller, sogar Fahrräder und Ziegelsteine gegen Polizeibeamte. Die Polizei setzt Wasserwerfer, Pfefferspray und Schlagstöcke ein, Sanitäter müssen Verletzte auf beiden Seiten behandeln.
„Alle Befürchtungen sind eingetreten. Die Stimmung war hoch aggressiv, Tausende Schaulustige, die sich solidarisiert haben. Es war für die Einsatzkräfte eine nicht mehr zu beherrschende Situation“, bilanziert Polizeisprecher Timo Zill, der von mindestens 74 verletzten Beamten sprach, darunter drei Schwerverletzte. Das Lager der G20-Gegner wirft der Polizei eine „Eskalation mit Ansage“ vor und spricht von „Dutzenden“ Verletzten in ihren Reihen, ebenfalls einige davon schwer.
Dabei gleicht die Stimmung zu Beginn der Kundgebung um 16 Uhr noch einer entspannten Party. Viele Demonstranten dösen im Schatten, ein etwa zehnjähriger Junge hält einen Zeichenblock mit drei Affen hoch, untertitelt mit Trump, Putin und Erdogan. Die Anmelder hatten dazu aufgerufen, sich nicht zu betrinken. Man wünsche sich Genossen und Genossinen „mit einem klaren Kopf an unserer Seite“ und habe „kein Verständnis für den Konsum von Alkohol und Drogen“.
Kundgebung zunächst friedlich
Und zunächst verläuft die Kundgebung friedlich: Ein Mitglied der Lampedusa-Flüchtlingsgruppe attackiert den G20-Gipfel, erklärt, dass in Hamburg nicht die Demokratie, sondern das Kapital regiere. Anschließend treten Gruppen wie die Hamburger Punker Goldene Zitronen auf. Auch die Polizisten wirken noch sehr entspannt. „Die Demonstranten haben es selbst in der Hand. Wir wollen keine Eskalation“, sagt Polizeisprecher Timo Zill.
Die Veranstalter von „Welcome to Hell“ hatten vor Beginn der Kundgebung erklärt, dass man die komplette Route von neun Kilometern über Max-Brauer-Allee, Schlump, Grindelallee, Dammtor bis zum Millerntorplatz laufen wolle. Zill erklärt, dass man damit kein Problem habe, wenn die geschätzt 12.000 Demonstranten friedlich blieben. Nur hält diese Hoffnung nicht lange.
Die Krawallnacht in Bildern:
"Welcome to Hell" – die Krawallnacht in Hamburg
Als das letzte Lied des Musikprogramms „Die Eskalation“ der Band Neonschwarz aus den Lautsprechern wummert, taucht am Donnerstag gegen 18.45 Uhr der gefürchtete Schwarze Block am Fischmarkt auf. Zunächst nur etwa 300, dann mehr als 1000 Mitglieder der militanten Szene. Andreas Blechschmidt, ebenfalls für die Rote Flora aktiv und Demo-Anmelder neben Anwalt Andreas Beuth, dankt den Demonstranten für die Teilnahme und kündigt an, dass sich nunmehr der Marsch in Bewegung setzen würde: „Bitte macht den Weg frei für den Lautsprecherwagen.“ Während der Schwarze Block sich an die Spitze der Bewegung setzt, ziehen etliche Hundertschaften der Polizei mit mehreren Wasserwerfern und einem Räumpanzer auf.
Die Polizisten stoppen den Zug um 19.05 Uhr nach 250 Metern in der Nähe der Landungsbrücken, da Teilnehmer rechtswidrig ihr Gesicht vermummt hatten. Über Lautsprecher ruft die Polizei die Passanten auf, sich von der Straße zu entfernen. Dann folgt der Appell an die Demonstranten: „Legen Sie die Vermummung ab. Es gilt zero Toleranz.“
Schwarzer Block bleibt weitgehend vermummt
Die Demonstranten kontern: „Haut ab, das ist unsere Stadt, befreit die Stadt von diesem Scheiß-G20.“ Der Schwarze Block kommt der Aufforderung nur teilweise nach, viele bleiben vermummt. Der Veranstalter bittet per Lautsprecherdurchsage um Geduld, sie verhandelt mit der Polizei.
Um 19.45 ruft dann der Vorsprecher des Schwarzen Blocks: „Hört auf, uns zu provozieren“. Dann gerät die Situation außer Kontrolle. Nach Darstellung von Demonstranten seien die Polizisten plötzlich mit Schlagstöcken in die Mitte des Zuges hereingesprescht. Die Polizei spricht wiederum von Böllern und Flaschen, mit denen sie beworfen worden sei. „Wir haben versucht, den Schwarzen Block zu separieren“, sagt Sprecher Zill.
Binnen weniger Minuten entbrennt eine Schlacht auf offener Straße: Demonstranten werfen sogar Fahrräder, Rauchbomben und Ziegelsteine gegen Polizeibeamte. Selbst Zill gerät während eines Interviews ins Visier von Angreifern, muss in einem Rettungswagen fliehen. Der Veranstalter erklärt schließlich die Demo für beendet, spricht von einem „Untergang der Demokratie“.
Panikartige Szenen nach erstem Zusammenstoß
Direkt nach dem ersten Zusammenstoß fliehen viele Demonstranten – auch aus dem Schwarzen Block – auf den erhöhten Gehweg. Dort kommt es zu panikartigen Szenen. Unbeteiligte Zuschauer werden über die angrenzende Mauer gedrückt und stürzen. Behelmte Beamte der Polizei stürmen mit Schlagstöcken ebenfalls auf den Gehweg. Böller knallen wie Donnerschläge durch die Luft.
In der Folge kommt es im Bereich der Hafenstraße und am Nobistor immer wieder zu Scharmützeln unter kreisenden Hubschraubern. Autonome blockieren die Kreuzung am Fischmarkt, mit dem Ziel, eine neue Demonstration Richtung Hafentraße zu starten.
Am Pferdemarkt werden Polizeiautos mit Flaschen beworfen. Vermummte setzen Barrikaden und Autos auf St. Pauli und in Altona in Brand. Am Amtsgericht Altona, bei Banken in Othmarschen und bei Ikea in Altona werden Scheiben eingeschlagen. Diensthundeführer, die die Wohnung des Innensenators Andy Grote auf St. Pauli schützen sollten, werden attackiert.
Bei einem spontanen Demonstrationszug ziehen gegen 23 Uhr 7000 Menschen über die Altonaer Straße in Richtung Schanzenviertel. Am Neuen Pferdemarkt geht die Polizei mit Wasserwerfern vor. An der Roten Flora im Schanzenviertel brennen Barrikaden bis weit nach Mitternacht. Selbst an der Osterstraße in Eimsbüttel werden die Scheiben eines Reisebüros zerstört. Es beginnt eine Nacht, in der die Gewalt erneut zu eskalieren droht.
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