Hamburg. Christoph Lieben-Seutter, Intendant der Elbphilharmonie, über Planungsunsicherheiten und sein Vertrauen in die Treue der Abonnenten.
Dieser verdammte Konjunktiv ist immer noch da. Es könnte, müsste, würde vielleicht bald wieder losgehen, seit mittlerweile einem Jahr wartet und plant Generalintendant Christoph Lieben-Seutter nun schon auf den Zeitpunkt hin, an dem Elbphilharmonie und Laeiszhalle wieder tun dürfen, wofür sie gebaut wurden: regelmäßig Konzerte für leibhaftig anwesende Menschen genau so anbieten, wie sie geplant waren. Und obwohl sichtbar so gut wie nichts passiert, ist hinter den Kulissen des ruhiggestellten Konzerthauses am Elbufer enorm viel zu tun.
Hamburger Abendblatt: Als wir im vergangenen April über Zukunftsszenarien sprachen, nannten Sie als Worst Case: „Irgendwann im nächsten Jahr“. Tja. Und jetzt?
Christoph Lieben-Seutter: Da sind wir … Wie immer. Das kennen wir von der Baugeschichte. Ich nehme an, im Laufe des Jahres geht’s los.
Sie könnten ja womöglich theoretisch am 22. März wieder aufmachen dürfen.
Lieben-Seutter: Das wird nicht klappen, weil zuerst die Stadt Hamburg entsprechende Entscheidungen treffen muss, die wir nicht vor dem 22. erwarten. Dabei geht es um die Bewertung der von der Bundesregierung beschlossenen Rahmenbedingungen wie gleichbleibende Inzidenzzahlen oder Schnell- und Selbsttestkonzepte für das Publikum.
Elbphilharmonie nach Corona-Lockdown: 14 Tage Vorlauf
Sie wissen also nicht, wie Sie vor einem Konzert kontrollieren sollen?
Lieben-Seutter: Nicht nur das. Wir wissen auch noch nicht, wie viele Personen wir einlassen dürften.
Wann könnten Sie idealerweise ein Konzert anbieten?
Lieben-Seutter: Wenn diese Entscheidungen getroffen sind, brauchen wir etwa 14 Tage Vorlauf bis zum ersten Konzert. Wir müssen das Vorderhauspersonal rekrutieren und dem Publikum ein paar Tage Zeit für den Kartenkauf geben. Und Künstler braucht es natürlich auch. Aber das ist die Seite, die bereits organisiert ist, weil wir spielbereit sind. Monat für Monat passen wir den Spielplan so an, dass wir unter Corona-Bedingungen spielen könnten. Das machen wir seit November, immer wieder für die Tonne.
Also realistisch um Ostern herum?
Lieben-Seutter: Wohl eher nach Ostern, wobei mich die Entwicklung der Inzidenzzahlen gerade nicht sehr hoffnungsfroh macht.
Und die Idee, Konzerte nur für Geimpfte zu geben?
Lieben-Seutter: Das ist keine Frage von Konzerten. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Frage, ab wann Geimpfte wieder zur Normalität zurückkehren können.
In der vergangenen Woche präsentierte Kultur-Staatsministerin Grütters ein Gutachten des Umweltbundesamts, da heißt es unter anderem über Säle mit „ausreichend leistungsfähiger Lüftung“, das Publikum solle mit medizinischen Masken und ausreichend Abstand im Schachbrettmuster sitzen. „Dann wären Veranstaltungen mit 2 bis 2,5 Stunden Dauer selbst bei einer Inzidenz um 50 möglich – egal, ob im Kino, Theater oder Konzerthaus.“ Ein Freifahrtschein für Sie?
Lieben-Seutter: Nein, das ist keine Neuigkeit, wir wissen schon seit Herbst, dass ein Konzertsaal mit entsprechenden Voraussetzungen ein sicheres Erlebnis ist, aber die Entscheidung über die Öffnungsszenarien treffen andere.
"Mit der Elbphilharmonie das Publikum für das ach so altmodische Konzert verdreifacht"
Wissen Sie, wie viel Publikum Sie jetzt in den Großen Saal lassen dürften, wenn Sie könnten?
Lieben-Seutter: Noch nicht. Es würde aber Sinn machen, da weiterzumachen, wo wir im Oktober aufgehört haben, also etwa mit 30 Prozent der Kapazität. Mittelfristig rechnen wir mit dem Schachbrett, also 50 Prozent. Damit planen wir die ersten Monate der nächsten Saison.
Wir stecken seit einem Jahr in diesem Elend. Genügt es oder besser: ist es angemessen, einfach so weiterzumachen wie bisher, wenn es wieder geht, eben nur mit anderen Namen auf dem Programm? Muss man das Thema Konzert als Genre nicht grundsätzlich neu denken? Der Berliner Kulturmanager Folkert Uhde hat kürzlich angemahnt: „Wir müssen davon wegkommen, dass Orte klassischer Musik ausschließlich museal anmutende Abspielstationen sind … Orchester, Konzerthäuser und Opernhäuser könnten viel experimentierfreudiger sein.“
Lieben-Seutter: Mit der Eröffnung der Elbphilharmonie haben wir in Hamburg das Publikum für das ach so altmodische Konzert mal eben verdreifacht. Das muss man also nicht gleich neu erfinden, aber wir nehmen aus der Corona-Zeit doch ein paar Ideen mit. Zum Beispiel kommen zwei Kurzkonzerte an einem Abend sehr gut an. Generell gehe ich davon aus, dass Konzerte nach Corona so aussehen werden wie vor der Pandemie.
Ihnen ist also kein grundsätzlich neues Format hinzugewachsen?
Lieben-Seutter: Nein. Durch die Verlagerung der Kommunikation und der Darbietungen ins Digitale ist allerdings eine Zusatzebene entstanden, die auch bleiben wird. Die Künstler werden kommunikativer und nahbarer für das Publikum. Das ist ein großer Vorteil.
Überall heißt es jetzt „support your local dealer“, bei Ihnen dann „listen to your local artist“? Also: Mehr in der Nähe umhören, statt ständig Stars einfliegen zu lassen, lokale Kräfte müssen nun präsenter sein?
Lieben-Seutter: Die lokalen Orchester sind ja sehr präsent. Sicher werden wir verstärkt lokale Künstler zeigen, wenn man das auf Deutschland und angrenzende Länder umdeutet. Interkontinental wird zunächst kaum jemand anreisen, die ersten amerikanischen Orchester erwarten wir nicht vor Mai 2022. Orchester planen bei ihren großen Tourneen mehr und mehr, länger vor Ort zu sein, weniger zu fliegen und stattdessen mit der Bahn zu reisen.
Was machen Sie konkret für diejenigen jungen Künstler, die gerade aus dem Karriere-Startblock raus sind und denen Corona die Beine weggehauen hat? Die Exzellenz wird schon klarkommen, aber dem Mittel- und Unterbau geht es ans Eingemachte.
Lieben-Seutter: Ja, vor allem den Karriereanfängern, das macht uns am meisten Sorgen. Wir haben weiterhin unseren Hilfsfonds, allerdings nur für die Künstler, die bei uns aufgetreten wären. Aber das Wichtigste: Künstler müssen auf die Bühne. Dafür überlegen wir uns neue Plattformen für die nächste Saison.
"Was live auf der Bühne passiert, ist einmalig"
Gibt es konzertante Überlegungen, Aktionen oder Erkenntnisse anderer Konzerthäuser, was Ihre Branche machen kann, soll, muss, wenn einerseits das ältere Publikum nicht so schnell wiederkommt und das jüngere findet: Es gibt Netflix und Streams, ich muss da nicht hin? Wenn Ihnen die Kundschaft jetzt von beiden Seiten wegbricht.
Lieben-Seutter: Damit beschäftigt sich jeder Konzertveranstalter laufend, das ist durch Corona nicht besonders verstärkt. Wir glauben an das Live-Erlebnis. Netflix ist dafür kein Ersatz. Es geht mehr darum, jemandem zu überzeugen, dass nicht nur der Club oder das Rockfestival, sondern auch ein klassisches Konzert spannend sein kann. Es geht nicht darum, die Leute von Netflix wegzubekommen. Das geht uns ja genauso: Den ganzen Tag vor Zoom und abends netflixen, das macht aus uns Gemüse, weil wir soziale Wesen sind. Was live auf der Bühne passiert, ist einmalig, das Gemeinschaftserlebnis, der Energieaustausch, all das spielt eine Riesenrolle. Das ist nicht umzubringen.
Dann werden wir auch wieder Schlangen an den Kassen und vor den Türen erleben?
Lieben-Seutter: Absolut. Es wird nicht an Tag eins von null auf 100 Prozent gehen, aber die Kapazität wird ja auch nicht so sein. Wir haben auf jeden Fall gelernt, extrem flexibel zu sein.
Wie viel von der laufenden Saison müssen Sie realistischerweise noch wegwerfen?
Lieben-Seutter: Wir hangeln uns von Monat zu Monat durch. Zuerst fallen die großen Orchester-Gastspiele weg. Dann bleiben viele Künstler lange in der Hoffnung, dass es doch klappen kann, was aber sehr von der täglichen Pandemie-Situation abhängt. Alles bleibt extrem kurzfristig und volatil. Trotzdem sind wir immer startklar. Wir greifen jedes einzelne Projekt fünfmal an.
Normalerweise hätten Sie die nächste Spielzeit seit etwa anderthalb Jahren durchgeplant. Hat es da jetzt noch viele große Leerstellen?
Lieben-Seutter: Nein, gar nicht. 2021/22 ist fertig geplant. Aber wir geben das Programm noch nicht bekannt, weil wir nicht sicher sind, wie die Rahmenbedingungen sein werden, in welcher Form man Abos anbieten kann, wie viele Plätze verkauft werden können. Der Druck auf die Termine ist extrem hoch. Wir sind ja normalerweise schon zu fast 100 Prozent ausgebucht, dazu kommen dann noch die Nachhol-Anfragen von fast einem Jahr abgesagter Konzerte, bis zu fünf Wartelisten-Einträge auf einzelnen Terminen.
Ihre Abo-Strukturen können Sie jetzt im Prinzip vergessen?
Lieben-Seutter: Nein, warum?
Weil die Kundschaft noch nicht mal weiß, was in zwei Wochen ist. Warum soll sie dann ein Abo kaufen?
Lieben-Seutter: Weil es eine sehr angenehme Art ist, den Konzertbesuch zu organisieren. Man hat eine Vorauswahl. Ich glaube, der Großteil unserer Abonnenten wird das Abo verlängern, allein schon um sich den Platz für die Zukunft zu sichern. Wir werden dank Impfung auch wieder ein Leben haben, wo der tägliche Konzertbesuch möglich ist und das Programm wie geplant stattfinden kann.
Vor elf Monaten sagten Sie mir: „Die Stimmung ist gar nicht schlecht. Weil es außergewöhnliche Zeiten sind und außergewöhnliche Maßnahmen zu treffen sind. Auf eine komische, ja fast perverse Art macht es fast Spaß, diese Situation zu managen.“ Ich nehme an, das hat sich inzwischen gegeben.
Lieben-Seutter: Ja und nein. Trouble zu shooten und im letzten Moment eine kreative Lösung finden zu müssen, ist immer noch eine Herausforderung. Aber es gibt auch Perioden, in denen alle in den Seilen hängen. Es gibt ja genug zu tun hier, alles läuft auf vollen Touren. Wir planen gerade den April und das Musikfest, danach ein erweitertes Sommerprogramm und gleichzeitig die nächsten Spielzeiten. Es ist extrem viel Arbeit.
Elbphilharmonie: Höhere Kartenpreise?
Sie haben deutlich weniger Einnahmen – also wird über höhere Kartenpreise nachgedacht, oder bleibt das tabu?
Lieben-Seutter: Die Preise bei unseren Eigenveranstaltungen sind seit der Eröffnung mehr oder weniger gleich geblieben. Andere haben schon mal erhöht. Das ziehen wir vielleicht mal nach, das wäre dann aber mehr eine Art Inflationsausgleich.
Wie stehen die konzertveranstaltende HamburgMusik (HHM) und die saalvermietende Betriebsgesellschaft finanziell da? Bei unserem letzten Kassensturz vor knapp einem Jahr hatte HHM ein Minus von 120.000 Euro, und Sie haben 1,2 Millionen Euro Miese befürchtet. Ihre Rücklagen betrugen fünf Millionen Euro.
Lieben-Seutter: Da ist inzwischen einiges zusammengekommen. Bei der HamburgMusik hoffen wir auf einen Verlust von weniger als einer Million Euro, bei der Betriebsgesellschaft hingegen wird der Verlust wohl um die 12 Millionen sein. Es gibt aber nach wie vor eine Ausfallshaftung durch die Stadt, das gibt uns natürlich eine unglaubliche Sicherheit.
Wie laufen jetzt die Verhandlungen mit Künstler-Agenturen? Sinken die Gagen, können Sie dort herunterhandeln, für die Stars, aber auch für die anderen?
Lieben-Seutter: Wir merken keinen großen Unterschied, schon allein deswegen, weil ein Anruf aus der Elbphilharmonie immer Top-Priorität hat. Auch bei den Gagen ändert sich nicht viel. Es gibt keinen Grund, sie drücken zu wollen, weil die Künstler ja unsere Partner sind und auch leben müssen. Manchmal gibt es Diskussionen, wenn wir ein Konzert nur mit nur 30 Prozent Auslastung machen können, da erwarten wir natürlich auch ein finanzielles Entgegenkommen von den Künstlern.
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Eine Runde Kaffeesatzlesen, damit wir uns in einigen Monaten wieder korrigieren können: Wann wird es wohl das erste wieder ausverkaufte, auch auf der Bühne dichtgepackte Konzert im Großen Saal geben?
Lieben-Seutter: Das ist die Frage, die einem ständig jeder auf der Straße stellt … Ich kann mir gut vorstellen, dass wir die Saison mit einem Schachbrett eröffnen, zum Teil die Konzerte noch verdoppeln und dass es im Verlauf des Jahres zur vollen Auslastung kommt. Ob das im November sein kann oder es da wieder einen Anstieg der Infektionszahlen gibt, weil der Winter kommt, und dann wird es doch Januar oder erst März, weiß ich nicht.
Und dann endlich auch wieder eine große Mahler-Sinfonie?
Lieben-Seutter: Die gibt’s schon vorher, mit negativem PCR-Test dürfen schon jetzt mehr Musiker auf die Bühne. Die Mitglieder des NDR-Orchesters lassen sich täglich freiwillig schnelltesten, wodurch sich zwar nicht die Abstandsregeln ändern, jedoch das Sicherheitsgefühl und die Laune steigt. PCR-Tests sind aufwendiger, dafür ist dann auch wieder Mahler möglich.