Hamburg. Noch vor der offiziellen Eröffnung bringt die Choreografin Sasha Waltz vom Neujahrstag an die Foyers und den Saal in Bewegung.
Ihre Hände fliegen durch die Luft. Sie bewegen sich bis in die Fingerspitzen, streichen über eine Wand, zeigen, reiben, gestikulieren, ruhen kurz auf Holz, eine Atempause, öffnen sich dann zum Fenster, Handflächen nach oben, recken sich gegen die Decke. Wenn Sasha Waltz spricht, dann tut sie es mit dem ganzen Körper. Nicht zappelig, aber beständig, sie wirkt konzentriert und gleichzeitig durchlässig. Der dunkelrote Lippenstift sorgt im Grau-Schwarz ihres Outfits für Nachdrücklichkeit. Mit energischen Schritten bewegt sich die Choreografin, die zu den weltweit renommiertesten ihrer Zunft gehört, durch die Foyers und Hinterzimmer der Elbphilharmonie, als sei sie längst Teil dieses Gebäudes. Was womöglich gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt ist.
Interaktiv: Im Flug die Elbphilharmonie erobern
Vom Neujahrstag an wird Sasha Waltz mit ihrer Kompagnie und hochkarätigen Musikern wie der Geigerin Carolin Widmann und dem Cellisten Michael Rauter die Elbphilharmonie weiträumig erkunden. Eine Eröffnung vor der Eröffnung gewissermaßen, eine Einweihung im Wortsinn, die durchaus einen spirituellen Aspekt haben darf.
„Man hat starke körperliche Empfindungen“
„Wenn man sich lange darin aufhält, dringt die Atmosphäre dieses Gebäudes physisch in einen ein. (...) Und wenn du nicht die richtige Tür nimmst, dann kommst du nicht mehr heraus.“ Diese ein wenig unheilvollen Sätze, die so auch die Elbphilharmonie meinen könnten, hat Sasha Waltz schon 1999 gesagt, als sie das Jüdische Museum in Berlin lange vor seiner Eröffnung choreografisch auslotete. Nun sitzt sie in ihrer Hamburger Garderobe im zehnten Stockwerk des Herzog-de-Meuron-Baus, einem noch sehr leeren, fast asketisch anmutenden Raum mit wahrhaft atemberaubendem Blick über die Elbe. Sie lässt ein neues Umfeld auf sich wirken, um es in der anschließenden Probe erneut in Bewegung zu übersetzen.
„Die vielen Blickmöglichkeiten“ des Baus haben auch sie fasziniert, „die Nähe zum Wasser, das aufsteigende Gefühl, die spürbare Dramatik, man hat starke körperliche Empfindungen, sehr gewaltig, aber nicht pompös“, sagt Sasha Waltz, die sich so an ihren Tisch gesetzt hat, dass sie jederzeit Schiffsverkehr und Hafenindustrie im Visier hat. „Es ist auch hier wie in einem Dampfer“, findet sie, „aber man fühlt sich dabei trotzdem nicht klein.“
Sie schwärmt von den Materialien
Sie, die gern gemeinsam mit der belgischen Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker und dem US-Amerikaner William Forsythe genannt wird, die in Berlin 2019 (gemeinsam mit Johannes Öhman und übrigens keineswegs unumstritten) die Intendanz des Staatsballetts übernehmen wird, ist eine Arbeiterin – und ein sinnlicher Mensch. Sie schwärmt von den Materialien: „Ich mag die Texturen der Elbphilharmonie, es sind einfach sehr schöne Oberflächen, so ein Treppengeländer wirkt manchmal wie ein Handschmeichler.“
Sasha Waltz, die in der „Welt“ einmal etwas despektierlich „Weltmeister im Warmtanzen von kulturell hochmögenden Baustellen“ genannt wurde, hat mit ihrer Reihe „Dialoge“ Erfahrung darin, Räume künstlerisch zu vermessen, sich an die Schnittstelle von Architektur, Tanz und Musik zu begeben. In Rom, in Venedig, in Kalkutta, in Berlin. Jetzt also Hamburg. In kaum mehr als zweieinhalb Wochen Probenzeit hat Sasha Waltz eine Art Parcours erarbeitet, der über sieben Stockwerke durch die Foyers und in den Großen Saal führen soll.
Bis zu zwölf Tänzergruppen parallel
Bis zu zwölf Tänzergruppen bewegen sich parallel, der Fokus ist nicht gebündelt wie in einem normalen Bühnenraum, dafür muss auch das Publikum permanent in Bewegung bleiben. Für rund 500 Zuschauer hatte das Team die Vorstellungsabende anfangs konzipiert, „aber wir stecken ja noch mitten in den Proben, wir werden hier noch aufstocken“. Eine tänzerische Erkundung sei dabei immer eine Begegnung, sagt Sasha Waltz und lächelt leicht. Der Zuschauer schaut zu, natürlich. Aber er wird eben auch gesehen.
Eine der größten Herausforderungen sei die Komplexität der Elbphilharmonie, die sich nicht auf den ersten Blick erschließe: „Ich empfinde es hier einerseits als sehr organisch, aber es ist trotzdem nicht sofort leicht, sich zurechtzufinden. Es gibt keine abgeschlossenen Räume, alles fließt ineinander.“ Es gehört zum Konzept der Architekten, dass der Besucher (anders als zum Beispiel in den großen Theatern der Stadt) keine Tür öffnen muss, um bis zum Saal zu gelangen.
Das Herzstück der Musik, die Sasha Waltz und das Vocalconsort Berlin nutzen, bildet das titelgebende Chorwerk „Figure Humaine“ von Francis Poulenc. Dazu kommen unter anderem Kompositionen von Karlheinz Stockhausen, Sofia Gubaidulina sowie von Jörg Widmann und Wolfgang Rihm, die auch im großen Eröffnungsreigen eine zentrale Rolle spielen werden. „Rihm hat explizit für einen Raum, für eine Entfernung geschrieben“, sagt Sasha Waltz, „das nehmen wir wahr.“
Die ausgesprochen kurze Probenzeit sei vom ersten Moment an so intensiv gewesen wie sonst nur Endproben, gesteht sie, und ein bisschen sieht man ihr die Erschöpfung an. „Man fängt bei null an“, nichts kann vorher an anderer Stelle vorgeprobt werden, der Raum bleibt die Hauptfigur. „Ich möchte der Umgebung eine spezielle Aufmerksamkeit geben, die Wahrnehmung für Details und Blickrichtungen erhöhen.“ Im Saal selbst darf es nichts Musikalisches geben, das Recht der ersten Nacht hat hier natürlich die „eigentliche“ Eröffnung am 11. Januar. „Wir arbeiten also auch mit der Stille, mit Geräuschen. Es finden viele Dinge gleichzeitig statt.“
Mit Brahms und Plastikplanen
Ganz neu ist ihr der Spiel-Platz nicht, eine erste Begegnung gab es schon zwischen Künstlerin und Konzerthaus: Vor mehr als vier Jahren eröffneten Sasha Waltz & Guests das Hamburger Theaterfestival mit dem „Human Requiem“. Noch war kein Run auf Elbphilharmonie-Tickets, noch wurde von der „teuren Hamburger Lachnummer“ geschrieben, noch war Baustelle auf der HafenCity-Landspitze.
Darin wandelte das gediegene Publikum auf Rollrasen und Rindenmulch, für die Choreografie zeichnete 2012 Waltz’ Ehemann Jochen Sandig verantwortlich. Diesmal, im „Figure Humaine“, übernimmt er die Dramaturgie. Schon damals war bei den Besuchern, die den Instrumentenlastenaufzug nehmen mussten (nehmen durften!), eine zarte Überwältigung, eine Ergriffenheit auszumachen, ja, fast: ein Ankommen. Mit Brahms, trotz Sperrholzwänden und Plastikplanen. Einen Saal, einen Termin, eine Saisonplanung gab es da noch gar nicht.
„Wir brauchen diese geistige Kraft“
Jetzt ist das architektonische Kunstwerk vollbracht und findet seinen „Widerhall auch in der Künstlerin“, wie Sasha Waltz es selbst beschreibt.
„Schönheit ist erstrebenswert“, sagt sie dann und lässt den Blick kurz auf dem Hafenpanorama ruhen. „Gerade in einer Welt, die geprägt ist von Lüge, Gewalt und Krieg. Wir brauchen diese geistige Kraft. Man muss dem etwas entgegensetzen.“ Der Himmel draußen zeigt seine Schattierungen von Grau. Sasha Waltz’ Hände liegen einen Moment lang ganz ruhig in ihrem Schoß.