Hamburg freut sich auf die Eröffnung der Elbphilharmonie-Plaza am 4. November. Was das Konzerthaus für die Stadt bedeuten könnte.

Als auf der Facebook-Seite von Olaf Scholz am 6. Juli ein Foto auftauchte, dass Hamburgs Ersten Bürgermeister im Gegenlicht auf dem Paillettendach der Elbphilharmonie zeigte, hatte diese ­Pose auch etwas von Caspar David Friedrichs rätselhaftem „Wanderer über dem Nebelmeer“. Man sah jemanden, ohne ihm anzusehen, was er dachte.

Erstes Konzert am 11. Januar

„Gute Aussichten“ stand unter diesem Foto; das war, wie so oft bei dem Realpolitiker Scholz, mehr als nur symbolisch gemeint. Wenn in wenigen ­Wochen, nach nordkoreanisch anmutender Geheimhaltungspolitik in ­Sachen Akustik, am 11. Januar 2017 das erste Konzert im Großen Saal gespielt sein wird, wird die „Musikstadt Hamburg“ ein neues Epizentrum eröffnet haben. Und die Hansestadt ein neues, für alle begehbares Wahrzeichen. Und das Gebäude dürfte wochenlang rappelvoll sein, Tag für Tag, Abend für Abend. Es wird Touristen anziehen wie das Licht die Motten, wie der Kiez am ­Wochenende die angeschickerten Junggesellinnen in ihren brüllrosa T-Shirts.

Tausende von Schau- und Hörlustigen werden besichtigen und bestaunen wollen, wo das viele Steuergeld geblieben ist, über das sie so viel gehört ­haben, und ob es sich nun wirklich gelohnt hat. Als der NDR kürzlich extrem günstige Konzertkarten auf den aus­gehungerten Markt warf, bildeten sich in Fußgängerzonen Schlangen, wie früher im Osten, wenn es angeblich drei ­lädierte Bananen gab. Käuferschlangen! Für Klassikkonzerte! Wer diese Vision für Brahms’ Geburtsstadt vor einigen Jahren prophezeit hätte, wäre schneller beim Arzt gelandet, als er „Helmut Schmidt“ hätte stammeln können.

"Neue Räume schaffen neue Inhalte"

Doch nur, weil es jetzt diese neue, unfassbar attraktiv designte Spielstätte gibt und sie ihren Betrieb aufnimmt, wird noch längst nicht klar sein, wofür sie da ist. Was sie leisten kann oder muss, wie, mit wem und bis wann. ­Warum sie mehr sein soll als irgendeine hübsch konstruierte Bühne, auf der ­Musikerinnen und Musiker irgendetwas Nettes spielen. Das Potenzial zu bislang ungeahnter kultureller Größe will, endlich, genutzt sein. Es wird eine riskante Operation am offenen Herzen werden, vor einem Millionenpublikum, das aus Klassik-Gourmets besteht, denen man nichts vormachen sollte, vor allem aber aus Neulingen, die geschickt und nachhaltig zum Wiederkommen verführt werden müssen. Einmal-Publikum füllt lediglich die Kasse, erst mit Stammgästen wird der Kulturauftrag erfüllt.

Zu den Klassikern der Hamburger Konzerthaus-Debatte gehört ein 14 Jahre alter Satz des damaligen Laeiszhallen-Chefs Benedikt Stampa. „Neue Räume schaffen neue Inhalte.“ So visionär war das damals, so einfach ist es heute und dennoch nach wie vor so schwierig. In der mehrjährigen Warteschleife, die Generalintendant Christoph Lieben-Seutter durchlitt, während der Bau auf dem Kaispeicher A stockte oder stillstand, ist viel passiert, um die Gretchenfrage „Was bedeutet ein neues Konzerthaus für Hamburg?“ zu beantworten.

Er hat Klassik an Orte gebracht, an denen sie bislang nicht war

Viele neue Konzertformate hat der Hausherr in den Jahren ohne neues Haus ausprobiert, die wenigsten davon waren maßgeschneidert oder echte Premieren. Doch für Hamburg, das jahrzehntelang selbstgenügsam vor sich hin döste, waren sie neu. Das genügte vielen oft schon. Von nun an darf und wird es nicht mehr genügen.

Lieben-Seutter hat Klassik an Orte gebracht, an denen sie bislang nicht war, hat Allianzen schmieden können und Kompromisse eingehen müssen. An ihm kam niemand aus der Veranstalterszene vorbei, der mitverdienen will in der Elbphilharmonie. Alle wollen, natürlich wollen sie alle. Er hat viel Spiel-Geld eingesammelt, Geld auch von Gönnern, deren Geduld beim Thema Glamour-Rendite strapaziert wurde.

Mit jeder Preisexplosion wurden die Erwartungen größer

Selbst die Kulturpolitik, die im vergangenen Jahrtausend das Weiterdenken in Sachen ­Musikstadt-Profilierung großflächig eingestellt hatte, kam in der unberechenbar abenteuerlichen Frühphase des Jahrhundertprojekts nicht umhin, tatsächlich größer denken zu wollen. Einfach war das nicht. Viele mussten über lange Strecken zum Jagen getragen werden. Die Spannung stieg im Laufe der Jahre; mit jeder Preisexplosion, jeder Verzögerung wurden auch die Erwartungen an den Neubau immer größer.

Wenn der absehbare Hype der ersten zwei, drei Spielzeiten verklungen sein wird, wird das NDR Elbphilharmonie Orchester immer noch Residenzorchester sein. Ob es bis dahin den angestrebten Qualitätsaufschwung geschafft haben wird und mit dem architektonischen und akustischen Niveau seiner Spielstätte mithalten kann, hängt schon jetzt sehr vom jetzigen Chefdirigenten Thomas Hengelbrock ab, der dank dieser Erlebnis-Immobilie Höhenluft wittert wie nie zuvor in seiner Karriere.

Laeiszhalle ibleibt ein ­Juwel – nur nicht für alles

Er will schaffen, was vor ihm Simon Rattle in Birmingham oder Esa-Pekka Salonen in Los Angeles gelungen ist: sich mit und in einem frisch gebauten Saal ­rasant in die Weltklasse-Liga hochzuspielen. Doch nicht nur auf Hengelbrocks Verführungsgeschick kommt es an, sondern auch auf die Person auf dem Posten neben ihm, der sehr bald neu zu vergeben ist: Andrea Zietzschmann, als Klangkörpermanagerin des NDR die dramaturgische Cheftrainerin des ­Orchesters, hat zum Herbst 2017 einen neuen Job angenommen – Intendantin der Berliner Philharmoniker.

Ein „neues Konzerthaus“ für Hamburg bedeutet allerdings auch, dass es von nun an ganz offiziell ein „altes Konzerthaus“ in dieser Stadt geben wird. Die Laeiszhalle. Über 100 Jahre alt, historisch wertvoll, mit einer beispiellosen Patina, ebenfalls nur durch private Vorkämpfer-Arbeit und privates Geld möglich geworden. Dass diese in Ehren ­ergraute Seniorin eine scharfe Schwester bekommen hat, macht sie für viele zur alten, trutschigen Mamsell.

Eine gefährliche Schieflage der Argumentation, denn die Akustik im Schuhschachtelsaal am Johannes-Brahms-Platz wird durch den Star mit der Weinberg-Form in der HafenCity keinen Deut schlechter. Die Laeiszhalle ist und bleibt ein ­Juwel. Nur eben nicht für alles. Das war noch nie so, wurde aber jahrzehntelang ignoriert, aus Mangel an Alternativen und erst recht an kreativen Ideen. Und dass der enorme Run auf Elbphilharmonie-Tickets momentan sogar den Absatz von Laeiszhallen-Karten mitsteigert, ist ein mehr als erfreulicher Effekt. Er zeigt: Hier geht noch einiges.

Pflege und Liebe für Laeiszhalle 

Die 866-Millionen-Euro-Ergänzung gibt es nun, die weiteren Ideen werden hoffentlich in der nächsten Spielzeit sichtbarer und forciert werden. Nicht nur, weil die Laeiszhalle im Finanzierungskonstrukt der HamburgMusik gGmbH ein wichtiger Aktivposten ist, den die Betreibergesellschaft braucht, um sich – und damit die Stadt – nicht in die Miesen zu reiten. Die Laeiszhalle wird noch mehr liebevolle Pflege und programmatische Fürsorge benötigen. Eine Grundrenovierung, vielleicht sogar eine Verkleinerung der Sitzezahl zur Veredelung des Raums sollte kein Ding der kulturpolitischen Unmöglichkeit sein. Überstrapaziert, weil es seit dem Verlust des Conventgartens durch alliierte Bomben nichts anderes mehr gab, wurde diese Spielstätte lange genug.

Durch die beiden Säle der Elbphilharmonie wird sich die Anzahl potenzieller Klassik-Sitzplätze in Hamburg in etwa verdoppeln. Das heißt nicht automatisch, dass jeden Abend doppelt so viele Konzerte stattfinden müssen. Doch die, die stattfinden, müssen eine andere Qualität haben als in vorelbphilharmonischen Zeiten. Masse allein wäre zu wenig. Wer Weitblick will, darf, wie Olaf Scholz es vormachte, keine Angst vor Höhen haben.