Hamburg. Am 4. Januar 2011 wurde das Mädchen vor dem CCH ausgesetzt. So geht es der heute Fünfjährigen nach ihrem dramatischen Start ins Leben.
Tayler, Yagmur, Chantal: Wenn Mitarbeiter der Hamburger Behörden zuletzt zu Kinderschicksalen befragt wurden, dann hatten ihre Antworten ungeheure Tragik. Mit einer Ausnahme. Sorina Weiland, Sprecherin des Bezirksamts Mitte, freut sich hörbar zu sagen, dass es der als Kofferbaby Marie bekannt gewordenen kleinen Hamburgerin „prächtig geht, sie sich gut entwickelt, auch weil sie eine sehr liebevolle Familie hat“. Dabei hatte das Mädchen, das dieser Tage im Kreis dieser liebevollen Familie seinen fünften Geburtstag feiert, einen überaus dramatischen Start ins Leben.
Die Nabelschnur war nur mit einem Faden abgebunden
Es ist der 4. Januar 2011 und eiskalt. Am Lieferanteneingang des Radisson-Blu-Hotels am Dammtor findet ein Fußgänger um 17.20 Uhr einen schwarzen Koffer. Er gibt einem Pförtner Bescheid, der das Gepäckstück nach einem flüchtigen Blick ins Innere holt, in die Ecke des Büros stellt und dann ignoriert – bis er wiederholt leises Wimmern hört.
Als er den Koffer erneut öffnet, die Kleidung durchwühlt, findet er das Neugeborene. Marie, wie sie später von einer Krankenschwester genannt wird, ist mit 2200 Gramm stark untergewichtig, 44 Zentimeter klein, und die Nabelschnur ist nur mit einem Faden abgebunden. Der Pförtner alarmiert Polizei und Rettungskräfte.
Während Marie im Altonaer Kinderkrankenhaus aufgepäppelt wird, macht sich die Mordkommission an die Arbeit: Spurensuche am Tatort, Auswertung der Überwachungskameras am Dammtor-Bahnhof, Befragung der Zeugen. Das Jugendamt des Bezirksamts Hamburg-Mitte entzieht den unbekannten leiblichen Eltern das Sorgerecht. Eine Mitarbeiterin übernimmt die Vormundschaft für Marie und findet wenige Tage später eine Pflegefamilie. Marie zieht zu ihr ins Umland.
Fast zeitgleich veröffentlicht die Polizei ein Bild von einem jungen Mann, der am Tattag einen baugleichen Koffer durch den Dammtor-Bahnhof trägt. Die Qualität der Aufnahme ist ausgezeichnet, und die Ermittler sind guten Mutes, nun die leiblichen Eltern zu finden.
Frühestens am 9. Juni 2031 wird die Akte vernichtet
Es dauert zwei Monate, bis ein verwertbarer Hinweis eingeht. Eine Nachbarin hat den Mann erkannt. Nach DNA-Test und Befragung stellt sich heraus: Der damals 20-Jährige aus Hamburg ist unschuldig. Die Staatsanwaltschaft stellt die Ermittlungen am 9. Juni 2011 ein. Sprecherin Nana Frombach: „Das kommt häufiger vor, wenn es keine weiteren Hinweise gibt.“ Da der Tatvorwurf versuchter Totschlag lautet, wird die Akte noch bis zum 9. Juni 2031 bei der Staatsanwaltschaft aufbewahrt. Frombach: „Dann entscheiden wir über die Vernichtung.“
Marie, die auch zu ihrem Schutz nicht mehr Marie genannt wird, wird dann 20 Jahre alt sein. Ob ihre leiblichen Eltern noch ermittelt werden können oder nicht, ihre echten Eltern hat sie gefunden. Es sind die Pflegeeltern, die sie vor fünf Jahren aufgenommen und mittlerweile adoptiert haben. Weiland: „Unter Berücksichtigung des schweren Starts ist für das Mädchen letztendlich alles optimal gelaufen. Wir sind zufrieden.“