Hamburg. Im Sommer kühl, im Winter warm und aus nachwachsendem Rohstoff. Reetdächer haben Vorteile, die Arbeit ist etwas für Spezialisten.
Dachdecken mit Reet gehört zu den ältesten Handwerkstechniken beim Hausbau – doch immer weniger angehende Dachdecker entscheiden sich zum Erlernen des historischen Berufes. Nach Angaben des Zentralverbands des Deutschen Dachdeckerhandwerks und Deutschlands einziger Ausbildungsstätte für Reetdachdecker in Lübeck entschieden sich im vergangenen Jahr nur sechs von fast 2000 Auszubildenden eine Spezialisierung einzuschlagen.
Auch in den Vier- und Marschlanden, in denen reetgedeckte Katen und Bauernhäuser die Landschaft maßgeblich prägen, gibt es nur noch einen Betrieb, der sich auf Reetdächer spezialisiert hat: Die Firma Werner Putfarcken Reetdach aus Kirchwerder. Seit 1967 war Firmengründer Werner Putfarcken (†) im Reetdachberuf tätig.
Der jüngste Dachdecker kommt aus Uganda und hat in Ostfriesland gelernt
1989 stieß dann Fred Rensner zu dem Betrieb. Der gebürtige Niedersachse wurde in der Vierländer Firma heimisch. Seit 2004 ist der heute 55-Jährige Geschäftsführer des Traditionsbetriebs, wird dabei mittlerweile von Nico Born unterstützt.
Den Nachwuchsmangel in seiner Branche kann auch Fred Rensner bestätigen. Trotzdem sieht er sein sechsköpfiges Firmenteam derzeit gut aufgestellt. Jüngster im Team ist John Bosko-Awas. Der 24-Jährige kam vor fünf Jahren aus Uganda nach Deutschland, absolvierte in Nordfriesland eine Ausbildung zum Dachdecker mit der Fachrichtung Reet. „Mir macht die handwerkliche Arbeit mit guten Leuten großen Spaß“, sagt der 24-Jährige.
Auch Quereinsteiger aus dem Handwerk haben eine Chance
Längst nicht jeder im Team ist gelernter Dachdecker, sondern auch Quereinsteiger aus anderen Handwerksberufen. Ein Heizungsbauer und ein Zimmermann wurden integriert.
Gut eineinhalb Jahre würde es aber dauern, bis jemand das Reetdachdecken erlernt habe, schätzt Nico Born. „Man braucht Erfahrung und ein gutes Auge, sonst wird das Dach nicht gerade“, sagt der Dachdecker.
Auf körperliche Arbeit und Dreck haben viele keine Lust mehr
Bis heute erfolgt ihre Arbeit ausschließlich von Hand – und das bedeutet harte körperliche Arbeit. „Darauf haben viele einfach keinen Bock mehr“, glaubt Fred Rensner. Zudem dürfe man keine Höhenangst haben und auch keine Angst vor Dreck.
Denn besonders der Abriss von alten Reetdächern sei eine schmutzige Angelegenheit. Dafür riecht es beim Neueindecken nach frischer Einstreu einer Pferdebox.
Hauskäufer ersetzt charakterloses Blechdach durch traditionelles Reet
So auch in Drage, wo derzeit vom Dach eines Bauernhauses ein beständiges Klopfen zu hören ist, kurze Halme rieseln herab: Auf der niedersächsischen Elbseite hat die Firma Werner Putfarcken derzeit ihre größte Baustelle: Das um 1800 erbaute Gebäude trug damals ein Reetdach, doch war zuletzt mit einem charakterlosen Blechdach abgedeckt. Der neue Besitzer will nun das ursprüngliche Erscheinungsbild wieder herstellen.
Seit Ende April sind Fred Rensner und sein Team damit beschäftigt, das 1000 Quadratmeter große Dach einzudecken. „Das ist schon ein besonderer Auftrag, sonst haben wir es meist mit Ausbesserungen oder dem Teilaustausch eines Daches von bis zu 250 Quadratmetern zu tun“, erklärt Firmenchef Rensner. Das Haupteinsatzgebiet liege in den Vier- und Marschlanden, man sei aber auch im Umkreis von 100 Kilometern, etwa am Schaalsee, Ratzeburg oder Zarrentin tätig.
Pro Quadratmeter wird mit einer Stunde Arbeitszeit gerechnet
In Drage ist bereits ein Großteil der Arbeit geschafft: Ende August soll das Dach fertig eingedeckt sein. Mehr als 10.000 Bund Reet und gut 1000 Arbeitsstunden werden Fred Rensner und seine Mitarbeiter hineingesteckt haben. „Pro Quadratmeter rechnet man etwa zehn bis zwölf Bund und etwa eine Stunde Arbeitszeit“, erklärt der Chef.
Von früh um 6.30 Uhr bis in den Nachmittag wird gearbeitet – es sei denn, die Männer werden von einem heftigen Regenschauer ausgebremst. Dann heißt es erstmal runter vom Dach.
Gut eingedecktes Reetdach hält 40 bis 50 Jahre
„Dann kann es schon mal passieren, dass wir die Arbeit zwei Stunden unterbrechen oder auch ganz abbrechen müssen“, sagt Fred Rensner. Nicht etwa, weil die Männer wasserscheu wären, sondern das Reet darf beim Decken nicht klatschnass werden, sonst könnte es irgendwann schimmeln. Ein gut eingedecktes Reetdach könne hingegen etwa 40 bis 50 Jahre halten, so Fred Rensner.
Für jede neue Lage werden die Bündel zunächst nebeneinander gelegt und dann mit verzinktem Schachtdraht, der quer über das Dach läuft, fixiert. Die Bunde werden mit der Zange aufgekniffen, gleichmäßig verteilt und mit dem Klopfer gefestigt. Mit dem Dahlstecker wird das Reet nach unten, mit dem Vorstecker zur Seite gehalten.
Wer mit Reet arbeitet, braucht ein geschultes Auge
Und dann kommen ein dünnerer, nichtrostender Draht und zwei Nadeln zum Einsatz: Mit der gebogenen Nadel wird der Draht durch das Reet hindurchgestochen, um eine Dachlatte geführt, mit der geraden Nadel wieder hervorgeholt festgezurrt und verknotet. Das markante Klopfgeräusch beim Reetdachdecken wird dann durch das Klopfbrett erzeugt. Denn die Halme werden nicht geschnitten, sondern mit dem rechteckigen Metalbrett hochgeklopft und so in Dachneigung gebracht.
Mit der geraden Nadel wird immer wieder durch das Reet zur Dachlatte hindurch gestochen, um die Tiefe des verlegten Reets zu überprüfen. Denn die Dachstärke muss gehalten werden: „Sie ist unten an der Traufe 35 Zentimeter stark, läuft nach oben auf 30 Zentimeter aus“, erklärt Fred Rensner. Ein geschultes Auge sieht schon beim Einstecken der Nadel, ob die Stärke passt – ansonsten wird der Zollstock zur Hilfe genommen, der immer griffbereit in der Tasche der Zunfthose steckt.
Auch der Chef lebt am liebsten unter Reet
Die Technik ist aufwendig, doch das fertige Dach bietet neben seinem optischen Charme auch praktische Vorteile: Schilf ist ein nachwachsender Baustoff. „Früher schnitten sich die Vier- und Marschländer das Schilf für ihr Dach noch selbst an den Gräben oder in der Reit“, berichtet Fred Rensner. Heute kommt es aus Österreich, Rumänien, Umgarn, China oder Polen.
Ein Reetdach sorge für ein ganz besonderes Klima im Haus, betont der 55-Jährige. „Im Sommer hält es schön kühl, im Winter schön warm“, sagt er. Ganz klar, dass der gebürtige Niedersachse heute nicht nur gern in den Vierlanden zu Hause ist – sondern auch unter Reet.