Reporterin Pia Fox möchte eigentlich nur ihren kleinen Flitzer „Tommy“ reparieren lassen. Doch in der Werkstatt ist es totenstill.

Die meisten Fälle passieren im Haushalt. Jedenfalls denkt Pia das sofort, als sie in den Schuppen tritt. „Hanno hinter dem Katzhagen“ ist ein Geheimtipp in Uetersen. Er sollte sich mal Pias Smart angucken, der neuerdings an Asthma leidet. Hanno repariert preiswert alles, was Lärm macht, am liebsten Autos und Motorräder. Jetzt liegt er Pia zu Füßen – unter einer Leiter, von der er wohl gestürzt ist. Seine blauen Augen starren glanzlos an die Schuppendecke, wo er offenbar irgendwas anbringen wollte. Seine hübschen, muskulösen Arme liegen ausgestreckt über dem Kopf. Am linken Handgelenk steht grün-schwarz in schnörkeliger Tätowierung: „Forever Leia“. Am rechten ein rotes „Carpe Diem“. Das dürfte sich erledigt haben. Hanno ist der dritte Tote, ihren Opa eingeschlossen, den Pia sieht.

Pia Fox ist Reporterin für das Hamburger Abendblatt

Pia ist Reporterin für die Regionalausgabe des Hamburger Abendblatts im Kreis Pinneberg, Ressort Kultur und Familie – Horoskope schreibt sie aber auch. Dabei hilft ihr manchmal Bille, Vermieterin, Tierärztin, beste Freundin seit über 40 Jahren. Die hat viel Ahnung von Astrologie. Was das heute für ein Tag werden würde, hat Bille Pia leider nicht erzählt …

Jetzt kommt die ethische Frage. Also, sie ist Lokalreporterin. Dies hier ist ein zweifellos lokaler Todesfall mit Betonung auf Fall. Darf sie Hanno deshalb fotografieren? Eher nicht! Das wäre taktlos und geschmacklos …

Etwas später steht ein Unfallwagen mit Blaulicht im Hof. Vorsichtshalber: So sicher war Pia nun auch wieder nicht, dass mit Hanno alles zu Ende ist. Als sie über seinem Gesicht den Reißverschluss zuziehen, weiß sie, dass sie für ihr kleines Auto eine andere Werkstatt suchen muss.

„Wass denn nu einglich passiert? Isser dot oder wat?“

Auf dem Nachbargrundstück reckt sich einer über den Zaun, ein Mann mit schmalen hellen Augen, die dem Rettungswagen hinterherschauen. Pia grüßt und fragt mit beruflicher und privater Neugier: „Kannten Sie den Hanno gut?“

Was hat es mit diesem Tattoo auf sich?
Was hat es mit diesem Tattoo auf sich? © Martens | Ute Martens

Manchmal wünscht sich Pia, in Berlin zu leben. Hier im Norden quatscht man nicht gern. Der Nachbar guckt zunächst nur ablehnend. Dann fragt er doch: „Wass denn nu einglich passiert? Isser dot oder wat?“

Und als Pia Auskunft gegeben hat: „Hanno hatte Sinn für Bikes. Für Fraun nich. Die Leia, die Zippe, hat ihn kaputtgemacht. Hatter das Saufen angefang. Wer säuft un denn auffe Leiter klettert, der is selbschuld!“

„Eine Frau namens Leia?“, konzentriert sich Pia auf das Wesentliche.

„Jo. Erst ganz große Liebe, ne? Zusamm aufm Bike in schwarzm Leder, ne? Sonne Heimliche, keiner weiß, woher un wohin. Dann issie wech mit einma un bleibt wech. Neeneenee!“, knurrt er bereits über die Schulter und verschwindet in seinem Haus.

Exklusives Interview mit der Braut

Am nächsten Vormittag fährt Pia mit ihrem asthmatischen Smart (Tommy) nach Hamburg. Zwar schreibt sie nur für die Pinneberg-Ausgabe, aber in diesem Fall ist sie einfach etwas ihrer Zeit voraus: Die Person, die sie interviewen soll, Anni Wegner, wird demnächst Pinnebergerin. Sie heiratet Ende August in der Klosterkirche in Uetersen Sven von Geyger, den begehrtesten Junggesellen im Landkreis, altes Holsteiner Adelsgeschlecht, richtig betuchte Eltern. Und ein hübsches Gesicht hat der junge Mann obendrein!

Tommy kann man überall parken, sogar in Hamburg. Anni wohnt einstweilen in Ottensen, fast noch Altona, teilt sich eine kleine Wohnung mit ihrer Schwester Greta. Beide Mädchen höchstens Ende zwanzig und schön wie die Lichtengel, umwallt von einer Gloriole weißblonder Locken. Der Ton zwischen ihnen ist allerdings wenig engelhaft, eher kurz und schnippisch. Nein, Greta will nicht mit aufs Bild. Sie muss sowieso weg – Peng! ist die Tür zu.

Zwischen den Schwester ist es nicht ganz einfach

Rundherum gepackte und gestapelte Umzugskisten, leere Regale. Pia bekommt Kaffee und stellt ihre Fragen – altmodischerweise noch mit Notizblock.

Wo hat Anni ihren Sven kennengelernt? Da stößt man gleich auf den wunden Punkt. Er war eigentlich ganz kurz Gretas Freund. Hat sich aber umverliebt, als er der Schwester begegnete. Jetzt ist Greta so beleidigt, dass sie nicht mal an der Hochzeit teilnimmt. Anni schüttelt den Kopf. Die will jetzt nach Köln ziehen. Wie kann man nach Köln ziehen?

Pia denkt, dass sie es versteht. Das sagt sie natürlich nicht. Sie bekommt das Hochzeitskleid auf dem Bügel gezeigt – weiße Spitze mit Spaghettiträgern und Bolerojäckchen, Anni beschreibt den Brautstrauß, die Frisur, die sie tragen will und das 4-Zimmer-Apartment, in dem sie anschließend wohnen werden: zwei Badezimmer, Riesenloggia, Blick über die Marsch bis zur Elbe … Später wollen sie in ein modernisiertes Reetdach-Anwesen am Deich ziehen, das Svens Eltern gehört. Hochzeitsreise: Südfrankreich.

Verband am Unterarm macht die Journalistin neugierig

Anni ist wirklich wunderschön und perfekt, Pia macht eine Menge Fotos von der strahlenden Braut. So was von Glück. Um den linken Unterarm trägt sie einen Verband. Was ist da passiert?

„Ein Ekzem“, sagt Anni. „Wird bis zur Hochzeit hoffentlich abgeheilt sein.“ Aber ihr Gesicht verdüstert sich.

Auf der Straße gegenüber sitzt die blonde Greta vor einem kleinen Café und trinkt Cappuccino. Pia fragt, ob sie sich dazusetzen darf, einen Moment? Sie nimmt auch einen Cappuccino.

„Was wollen Sie denn von mir!“, patzt Greta sie an. „Ich bin doch nur die Verliererin!“

Pia lächelt so nett sie kann. Manchmal reden Leute von selbst, wenn man sie freundlich anschaut. Greta schubst ihre Tasse hin und her und grummelt: „Die ist nicht echt, meine Schwester. War sie noch nie. Hat immer ein heimliches Leben gehabt. Manchmal ist sie los mit ner schwarzen Perücke auf dem Kopf, und da war gerade nicht Fasching! Ich würde dem armen Sven gern alles erzählen, nur, um ihn zu warnen. Nicht, um ihn wieder zu bekommen – das wird nie wieder was, ist schon klar.“

„Was ‚alles‘ erzählen?“

Greta guckt Pia finster an. „Das ist es ja. Ich hab keine Ahnung. Ich spüre es nur …“

Die Polizei hat noch einige Fragen an Pia

Am späten Nachmittag kommt Pia nach Hause. Tills Auto steht vor dem Carport, deswegen geht sie nicht nach oben in ihre Wohnung, sondern um das kleine Haus herum zu Billes Terrasse.

Till ist Billes Bruder. Er ist Polizist in Pinneberg. Pia kann ihn sehr gut leiden, manchmal flirten sie ein bisschen. Till ist groß und eher weniger schlank, er trägt einen Vollbart und hat schöne Zähne. Einen Hund hat er übrigens auch, Alfredo, der darf aber nicht mit zu seiner Schwester, weil Mrs. Ming es missbilligen würde. Jetzt krault er Ming, (die laut und stoßweise schnurrt) und freut sich, dass Pia auf die Terrasse kommt.

Bille will ihr Kaffee eingießen, aber Pia sagt, noch einen Tropfen an diesem Nachmittag und sie steht nachts im Bett.

„Du hast doch den Hanno Schnoor entdeckt, Pia?“, fragt Till. „Ich wollte dich deswegen sprechen, deshalb bin ich eigentlich hier. Beschreib mir bitte mal, wie du das erlebt hast. Du wirst morgen leider zu uns kommen müssen und alles noch mal zu Protokoll geben. Aber erzähl es mir schon mal, ja?“

„Er ist ermordet worden?!“

Pia schildert also, wie sie den Autoschrauber gefunden hat. „Wieso, Till? Habt ihr Zweifel daran, dass es ein Unfall war?“

„Zweifel ist gar kein Ausdruck. Pia, der Mann ist von einem harten Gegenstand am Hinterkopf getroffen worden, das war die Todesursache. Danach wurde er in seinem Schuppen auf den Boden gelegt und vermutlich dann die Leiter vor ihn gestellt.“

„Er ist ermordet worden?!“

„Mit allergrößter Wahrscheinlichkeit. Und er war blöderweise ein Eigenbrötler. Kaum einer hat ihn gekannt, keiner weiß was über ihn. Eigentlich hatte er nur eine Bezugsperson hier, seinen besten Freund, das war Conny Welk.“

„Conny? Der von Welks Tattoo- und Piercing-Stübchen im Großen Sand?“

„Kennst du den, Pia?“

„Nö. Bloß seinen Schriftzug über dem Laden.“

„Der ist wegen Corona fast pleitegegangen. Wir haben ihn übrigens bis jetzt leider nicht erreicht.“

Wer ist die mysteriöse Leia?

Pia denkt nach. „Und Schnoors Nachbar, links von ihm der? Ist ja der einzige, rechts wohnt keiner. Der schien irgendwie wütend zu sein wegen einer Frau, warte mal: Leia hieß die. Ihr Name stand – nein, steht ja noch in seinem Handgelenk in Schnörkelschrift, grün-schwarz. Der Nachbar hat gemeint, diese Leia hätte Hanno zum Säufer gemacht, glaube ich …“

„Der Nachbar war heute auch nicht da, den wollten wir noch befragen. Leia? Wegen ihr hat Schnoor das Saufen angefangen?“

„Ihretwegen“, verbessert Pia, der es weh tut, wenn Worte gequält werden.

Till merkt das gar nicht. Er murmelt: „Also, was Hanno Schnoor angeht, der war zum Zeitpunkt seines Todes völlig nüchtern.“ Dann denkt er schweigend ganz intensiv nach, das kann man an seinen Augen sehen. Pia, Bille und Mrs. Ming schweigen auch. Bille hört auf, Kekse zu kauen. Ming hat das Schnurren eingestellt.

„Leia!“, sagt Till schließlich. Er greift sich noch einen Keks und trinkt einen Schluck kalten Kaffee. „Jetzt weiß ich! Im Schlafzimmer von dem Hanno klebten überall Filmplakate, Raumschiffe und so. Sagt mal, hieß die ,Star Wars’-Prinzessin nicht Leia?“

Muss man für Tee nach England oder Nordfriesland fahren?

Am nächsten Vormittag bringt Pia die schönen Fotos von Anni Wegner, demnächst Frau von Geyger, und ihr ‚Ich-bin-so-glücklich-Interview‘ in die Abendblatt-Redaktion in der Lindenstraße. Dann schlendert sie über die Dingstätte zur Elmshorner Straße, da ist die Polizeistation. Sie gibt noch mal alles zu Protokoll, einem Kollegen von Till, denn er selbst ist nicht da. Sie hat jedoch Glück und begegnet ihm, als sie unten im Haus aus dem Fahrstuhl kommt.

„Pia! Komm sofort mit mir – komm, wir setzen uns – wir müssen – ich muss in Ruhe mit dir reden, Mädchen. Hier, komm hier lang, wir setzen uns ins Cero Café! Wir trinken einen Kaffee und …“

Da protestiert Pia: „Nicht schon wieder! Ich hatte gestern schon so viel Kaffee! Ich mag doch gar keinen. Ich bin Teetrinker!“

„Dann trinkst du eben Tee.“

„Nein. Bestimmt nicht! In Deutschland kann keiner Tee kochen. Du kriegst einen Teebeutel und ein Henkelglas mit warmem Wasser, das ist schrecklich. In England – oder notfalls noch in Nordfriesland …“

Till sieht sie traurig über seinem braunen Bart an. „Pia, muss ich mit dir nach England oder Nordfriesland fahren, damit du mit mir redest?“

Welche Rolle spielt der grimmige Nachbar?

Sie einigen sich schließlich. Er bestellt Latte Macchiato für sich und einen Cognac für Pia. „Jetzt fängst du also auch schon das Saufen an, am helllichten Tag. Pass auf, folgendes ist inzwischen passiert: Wir wollten den Tätowierer befragen, den einzigen Freund von Hanno Schnoor. Aber der ist vor einigen Tagen nachts von einem Auto über den Haufen gefahren worden, zwischen Tornesch und Uetersen, im Wischmöhlenweg. Fahrerflucht.“

„Um Himmels willen! Tot?“

„Nein, glücklicherweise lebt er noch – aber er ist momentan im künstlichen Koma. Wir können ihn nicht befragen.“

Pia trinkt den Cognac, den kann sie gut brauchen auf den Schreck.

„Und der grimmige Nachbar? Habt ihr den befragt?“

„Ja, gestern Abend. Er kannte Schnoor so ein bisschen, hat erlebt, wie diese Leia ihn besuchte und mit ihm nachts Motorrad gefahren ist – hat sie nie aus der Nähe gesehen, sie war sehr scheu. Soll immer nur nachts da gewesen sein. Und Schnoor hat sich dann bei ihm ausgeheult, als sie plötzlich wegblieb. Der Nachbar weiß nicht mehr, und ich glaube – nein, eifersüchtig wirkt der nicht. Nur wütend auf die Frau. Pia, du hast den Mann gefunden, denk doch bitte eben mal ganz scharf nach, ob dir noch irgendwas einfällt …“

Pia wird wohl vom Cognac. Sie denkt keineswegs scharf nach. Ihrer Erfahrung nach ist es in solchen Fällen viel wirksamer, wenn sie schräg dran vorbei denkt. Sie beobachtet die Vorbeigehenden im Sonnenschein, wie schön, jetzt alle ohne die Masken der letzten Monate. In Zukunft trägt man hoffentlich nur noch zum Fasching Masken …

… und da kommt eine Erinnerung hoch, ein leises Echo: ‚ Manchmal ist sie los mit einer schwarzen Perücke auf dem Kopf, und da war gerade nicht Fasching!‘ und: ‚Die ist nicht echt, meine Schwester. War sie noch nie. Hat immer ein heimliches Leben gehabt …‘

„Forever Han Solo.“

Anni Wegner, die schöne Braut. Übermorgen ist der Bericht über ihre bevorstehende Hochzeit in der Regionalausgabe, das Interview. Da steht nicht drin, dass Anni diesen tollen Sven von Geyger ihrer Schwester gemopst hat. So einen Fang macht man nicht alle Tage. Und wenn man ein heimliches Verhältnis hatte mit einem merkwürdigen Handwerker, der leider zufällig ganz in der Nähe wohnt wie das neue Glück – wenn man den nur mit schwarzer Perücke besucht hat, langes schwarzes Haar wie Prinzessin Leia Organa aus den „Star Wars“-Filmen, für die er so schwärmt – dann muss man fürchten, dass der Schwierigkeiten macht, dass der alles zerstört, die Superhochzeit, das Reetdach-Anwesen, die Hochzeitsreise nach Südfrankreich. Vielleicht hat er ja davon erfahren und mit Schwierigkeiten gedroht? Er muss irgendwie weg – am besten ein Unfall. Der einzige, der noch davon weiß, ist sein Freund Conny, der Tätowierer. Der muss leider auch weg …

Pia holt tief Luft. „Till – ich gebe dir gleich mal die Adresse von einer Frau in Hamburg, in Ottensen. Die ist zwar blond, aber nicht immer. Du solltest sie erwischen, bevor sie nachdenken und sich Ausreden einfallen lassen kann, denn die ist ein raffiniertes Luder. Ihr müsst dem Mädchen den Verband vom linken Unterarm abwickeln. Da ist ein Tattoo – entweder ist es noch da, oder sie hat versucht, es zu entfernen, und dann ist dort eine Wunde. Da stand nämlich ursprünglich, wahrscheinlich in grün-schwarz: „Forever Han Solo.“