Billwerder. Die in der Nacht zum Donnerstag in Höhe des S-Bahnhofs Mittlerer Landweg auf die Straße gestürzte Rangierlok ist geborgen. Ein 500-Tonnen-Kran hob die 72 Tonnen schwere Lok auf einen Tieflader. Die Bergungsaktion dauerte bis zum frühen Freitagmorgen.
„Das dauert hier bis weit nach Mitternacht“, flucht ein Arbeiter unterm gelben Bauhelm, der im Flutlicht der Feuerwehr Stahlplatten für den Mittleren Landweg positioniert. Darauf sollen sich die beiden riesigen Telekräne abstützen und die havarierte 72-Tonnen-Lok auf einen Tieflader hieven. Es ist die spektakulärste Bergungsaktion in Bergedorf seit Jahren. Seit mittlerweile 15 Stunden sind mehrere Dutzend Mitarbeiter der privaten Bergungsfirma, von Feuerwehr und Bundespolizei im Einsatz, um zu beheben, was die beiden Unglücksraben am Donnerstagmorgen in Sekunden der Unachtsamkeit angerichtet haben.
3.20 Uhr: Ein Lokführer (49) der Teutoburger Wald-Eisenbahn (TWE) rangiert auf Nebengleisen des Bahnhofs Mittlerer Landweg. Plötzlich merken er und sein 28-jähriger Kollege, der gerade seine Ausbildung zum Wagenmeister und Rangierbegleiter absolviert, dass sie sich auf einem Stumpfgleis befinden. Der mächtige Prellbock kommt immer näher. Geistesgegenwärtig springen beide aus dem Führerhaus. Sekunden später reißt die Lok den Prellbock aus der Verankerung, stürzt die Böschung hinunter und schlägt mit einem lauten Knall auf der Straße auf. Zwei der sechs leeren Güterwaggons entgleisen. Die beiden Angestellten der Privatbahn blicken geschockt auf das Chaos. Der schwere Koloss schlug ein wie eine Bombe. Die Lok zerstörte den Brückenpfeiler, begrub den Prellbock unter sich.
Polizei, Feuerwehr und Bundespolizei sperren die Unglücksstelle großräumig ab. Auch der S-Bahnhof wird gesperrt. Den ganzen Tag über sind Ersatzbusse im Einsatz.
Mit zwei Telekränen und speziellem Bergegeschirr aus Bayern soll der Abtransport der zerstörten Lok gelingen. Ein Riesenaufwand, dessen Kosten sechsstellig sein dürften. Thomas Conrad, Einsatzleiter der Bundespolizei, ist dennoch erleichtert über den „glimpflichen Verlauf“ des Unglücks: „Ein paar Stunden später und die Lok hätte Fußgänger und Autofahrer treffen können.“ Wie es zu dem Unglück kommen konnte, wird noch untersucht.
"Ich dachte es gäbe ein Erbeben"
Ein ohrenbetäubender Knall reißt Gisela Iserloth am Donnerstagmorgen um 3.20 Uhr aus dem Schlaf. „Erst dachte ich, die Erde bebt“, sagt die 66-Jährige, deren kleines Haus direkt hinter dem Kiosk am Bahnhof Mittlerer Landweg steht. Sofort verwirft sie den Gedanken wieder, hält einen „Unfall mit einem schweren Lkw“ für wahrscheinlicher. Schnell schlüpft sie in ihre Kleidung und tritt vor die Tür: „Ja und dann hab’ ich die Lok gesehen“, sagt Gisela Isarloth. „Mein erster Gedanke war: Hoffentlich ist niemandem was passiert.“ Sie greift zum Telefon und alarmiert die Feuerwehr.
Kurze Zeit später treffen Polizei, 40 Feuerwehrleute und Beamte der Bundespolizei an der Unfallstelle ein. Ihnen bietet sich ein Bild der Verwüstung. Die Schnauze der 72 Tonnen schweren Diesellok hat sich direkt neben dem Kiosk in den Asphalt gebohrt. Unter sich hat der Koloss Steinbrocken des zerstörten Brückenpfeilers und den schweren Prellbock aus Eisen begraben, der am Ende des Stumpfgleises verankert war. Er konnte die robuste Rangierlok der Teutoburger Wald-Eisenbahn (TWE), die bereits 43 Dienstjahre auf dem Buckel hat, nicht stoppen und vorm Absturz in sieben Meter Tiefe bewahren.
Die Helfer sperren die Unfallstelle weiträumig ab. Der Bahnhof wird gesperrt, noch bevor die S-Bahn um 5.06 Uhr ihren Betrieb aufnimmt. Die Bundespolizei beginnt mit den Ermittlungen, befragt den Lokführer und seinen Begleiter, untersucht das Gelände. Unterdessen fordern die Helfer einen Telekran und ein spezielles Bergegeschirr aus Bayern an, streuen ausgelaufenen Kraftstoff ab und beginnen, Dieselöl und Schmierstoffe aus der Lok abzupumpen. Der S- und Fernbahnverkehr kann derweil ungehindert den Bahnhof Mittlerer Landweg passieren. Busse der Linie 230 sind verstärkt im Einsatz und schließen die entstandene Lücke im Streckennetz.
Im Laufe des Morgens kommen immer mehr Menschen an die Unfallstelle. Wolfgang Laudon, der 100 Meter entfernt wohnt, hat im Radio von dem Unglück gehört. „Heute Nacht haben wir nichts mitbekommen“, sagt er, „obwohl wir bei offenem Fenster schlafen.“ Auch er ist froh, „dass niemandem etwas passiert ist“. Direkt neben der Stelle, wo die Lok einschlug, befindet sich eine Bushaltestelle. Wenige Stunden später hätten hier Menschen gewartet. Und abends stehen vor dem Kiosk Anwohner und trinken in Ruhe ihr Bier. „Es ist wirklich glimpflich ausgegangen“, sagt Thomas Konrad, Einsatzleiter der Bundespolizei. „Zu einem anderen Zeitpunkt hätte die Lok Fußgänger und Autofahrer treffen können.“
Für die Anwohner bedeutete die spektakuläre Bergungsaktion, die mit einer Sperrung des Mittleren Landwegs verbunden war, erhebliche Einschränkungen. Wer vom südlichen Abschnitt in Richtung Billwerder Billdeich wollte, musste große Umwege fahren.