Bergedorf/Reitbrook. Ernst blickt Ralf L. in die Kamera. Ein eisgrauer Bart, auf dem Kopf ein heller Strohhut. So kannten die Nachbarn in Reitbrook den Künstler. Das Foto entstand wenige Wochen vor seinem Tod.
Das Foto entstand wenige Wochen vor seinem Tod. Es war ein erschütterndes menschliches Drama, das sich am 22. November des vergangenen Jahres in der ländlichen Idylle am Reitbrooker Hinterdeich abspielte. An jenem milden Herbsttag, dem Totensonntag 2009, setzte Bernd L. dem Leben seines Zwillingsbruders Ralf ein Ende – mit Auspuffgasen. Zuvor hatte der 67-Jährige mehrmals vergeblich versucht, sich selbst umzubringen.
In dem Mehrfamilienhaus in Reitbrook, wo die beiden Brüder gemeinsam wohnten und arbeiteten, hatte die Verzweiflung schon lange vor der eigentlichen Tat Einzug gehalten. Die Brüder lebten weitgehend zurückgezogen von der Außenwelt, hielten fest zusammen. Sie waren ein Herz und eine Seele. Doch beide litten schon seit Jahren unter Depressionen. 1994 war Bernd L. zu seinem Bruder nach Reitbrook gezogen, um die Trennung von seiner Frau zu verarbeiten. In der Unterstützung seines Zwillingsbruders fand er Halt.
Ralf litt schlimmer unter der grausamen Krankheit. Von den Grafiken und Bildern, die beide in ihrem mit Staffeleien, Farbtöpfen und Regalen voll gestellten Atelier fertigten, ließ sich mehr schlecht als recht leben. Teile des Hauses mussten verkauft werden. Eine fällige Dachsanierung sollte 60.000 Euro kosten. Permanente Schlaflosigkeit und ein schlimmes Ohrenpfeifen (Tinnitus) machten Ralf L. das Leben zur Qual. Nachdem er auch noch einen Herzinfarkt und mehrere Schlaganfälle erlitten hatte, verließ ihn vollends der Lebensmut. Noch im Krankenhaus versuchte Ralf L., sich das Leben zu nehmen. Er wurde gerettet.
Was vier Tage vor der Tat und in den Stunden danach in dem Reitbrooker Haus geschah, haben die Ermittler auch anhand der Aussagen von Bernd L. rekonstruiert.
Am 19. November fand Bernd L. seinen Bruder blutend vor der Tür des Ateliers vor. Er hatte sich selbst mit einem Messer Wunden zugefügt. Ralf L. bettelte, sein Bruder möge keinen Notarzt holen und ihn sterben lassen – und Bernd gehorchte. Doch als er abends zurückkehrte, fand er seinen Bruder nicht wie erwartet tot vor. Auch am nächsten Morgen lebte der 67-Jährige noch: Ralf L. saß auf dem Sofa, hatte sich mit dem Messer nun sogar dreimal in die Brust gestochen. Doch noch immer wollte der Tod nicht kommen.
Zwei Tage wachte Bernd L. an der Seite seines Bruders
In seiner Qual bat Ralf L. seinen Bruder, nicht mehr zu gehen, sondern ihm in den letzten Stunden beizustehen. Und der blieb. Bis zum frühen Nachmittag des 22. November, zwei lange Tage lang, wachte er an der Seite seines Zwillingsbruders. Und noch immer gab dessen Körper nicht auf. Schließlich soll Bernd L. vorgeschlagen haben, der Qual seines Bruders mit Hilfe von Auspuffgasen ein Ende zu bereiten.
Ralf L. stimmte zu. So parkte Bernd L. seinen Volvo vor der Tür und leitete über einen abgedichteten Staubsaugerschlauch die Auspuffgase bis zu dem Sofa, auf dem sein Bruder lag. Er stülpte ihm eine Plastiktüte über den Kopf, um die Abgaskonzentration zu erhöhen. 20 Minuten später war sein Bruder tot. Am nächsten Morgen rief Bernd L. einen Bestatter zu sich – und auf dessen Anraten auch die Polizei.
Am Montag, 9 Uhr, muss sich Bernd L. nun für seine Tat vorm Amtsgericht Bergedorf verantworten. Der Vorwurf lautet „Tötung auf Verlangen“. Dem Reitbrooker droht eine Freiheitsstrafe zwischen sechs Monaten und fünf Jahren. Nur ein Verhandlungstag ist angesetzt, denn Bernd L. ist geständig. Auch Bergedorfer Polizisten, die den Tatort begutachteten, werden als Zeugen aussagen.