Bergedorf. Ob aus Russland oder der Ukraine: Auf der Judomatte sind alle gleich. David und Victor sind sogar Freunde geworden.
Knapp sechs Stunden führt der Weg von Moskau durch endlose Wälder und Felder über eine von zahllosen Löchern und Rissen durchsetzte Betonpiste Richtung Nordosten zur 400.000-Einwohner-Stadt Iwanowo. Hier lebt ein Teil von Victors Familie. „Dort wohnt die Schwester meiner Oma, die wir zuletzt im Sommer 2019 besucht haben“, schildert der Zwölfjährige vom Bergedorfer Hansa-Gymnasium. Es war eine andere Zeit: Von Corona noch keine Spur und erst recht nicht von dem Krieg, den seine Heimat jetzt mit der Ukraine begonnen hat.
Seine Heimat? So einfach lässt sich das nicht sagen. Victor ist in Deutschland geboren. Seine Familie lebt schon lange in Bergedorf. Der Vater Kasache, die Mutter Usbekin, ist Russland für ihn nicht mehr als eine Erinnerung. Eine schöne Erinnerung! „Russland ist kein schlechtes Land“, betont er. „Klar, die Straßen sind nicht so gut, aber es gibt schöne Plätze dort.“ Ganz besonders begeistert hat ihn das Einkaufszentrum von Iwanowo. „Da gibt es Kinos, Spielautomaten und eine tolle 3D-Simulation, in die man einsteigen kann“, schildert er. So etwas Fortschrittliches hätte er in Bergedorf auch gern.
Vor sechs Jahren aus Dnipro nach Bergedorf übergesiedelt
In Deutschland wird sein Leben vom Judosport bestimmt. Erste Erfolge haben sich schon eingestellt. Anfang Dezember war Victor Fünfter der norddeutschen Meisterschaften in Lutten (Niedersachsen). Dreimal pro Woche ist Kindertraining für die Unter-15-Jährigen bei der Judo-Gemeinschaft Sachsenwald in der TSG Bergedorf. „Wir haben hier Jugendliche aus vielen verschiedenen Ländern, aus Russland, der Ukraine, Kasachstan, Moldawien, Usbekistan“, zählt der Trainer Siegfried Urschel auf. „Sobald jemand seinen Judo-Anzug angezogen hat, ist es vollkommen egal, woher er kommt.“
Beim Training im Dojo des TSG-Sportforums hat Victor auch David kennengelernt. Der 13-Jährige stammt aus der Ukraine. Vor sechs Jahren ist die Familie aus Dnjepropetrowsk nach Bergedorf übergesiedelt. „Allerdings erinnere ich mich kaum noch an meine Zeit dort“, gibt David zu. Das änderte sich, als die Familie im vergangenen Sommer mal wieder in Dnepropetrowsk – oder Dnipro, wie sich die Stadt heute nennt – zu Besuch war. „Wir waren zwei Wochen lang bei Oma und Opa, da sind schon einige Erinnerungen an damals wieder hochgekommen“, sagt er.
Viele sind aus Dnipro geflohen, Davids Großeltern nicht
Raketenstadt wurde Dnepropetrowsk in der Sowjetunion genannt. Eine Tradition, auf die sie in der Eine-Million-Einwohner-Stadt, die etwa sechs Autostunden südöstlich von Kiew liegt, sehr stolz sind. Es gibt sogar ein Raketenmuseum. Die dreistufige Dnepr-Rakete bildete nicht nur den Rückhalt des sowjetischen Interkontinental-Programms, sie absolvierte auch über 20 erfolgreiche Flüge in der Raumfahrt. Die Dnepr-Rakete brachte Satelliten für Japan und Südkorea ins All sowie für eine amerikanische Firma ein Modul für die internationale Raumstation ISS.
Es ist eine bittere Ironie, dass sich die Tradition nun gegen die Stadt und das ganze Land gewendet hat, dass die Ukraine jeden Tag aufs Neue unter dem Beschuss russischer Raketen erzittert. Viele sind aus Dnipro geflohen, Davids Großeltern nicht. „Sie leben etwas außerhalb der Stadt. Es ist ein ganz altes Haus“, schildert er. „Wir haben telefoniert. Es geht ihnen gut.“
Es gelingt nur selten, den strengen Coach zufriedenzustellen
Für den Siebtklässler der Gesamtschule Lohbrügge, das ist zu spüren, sind die Ukraine und der Krieg, der dort tobt, ganz weit weg. Was zählt, ist das Hier und Jetzt. Was zählt, ist Judo. Bei den norddeutschen Titelkämpfen Anfang Dezember in Lutten wurde David Vize-Meister eine Gewichtsklasse unterhalb der von Viktor. Im Training üben die beiden Jungs oft miteinander, allerdings gelingt es ihnen nur selten, ihren strengen Coach zufrieden zu stellen.
„Es sind halt Jungs, die sind häufig abgelenkt“, muss Siegfried Urschel oft darum kämpfen, die Konzentration in der Gruppe hochzuhalten. „Judo ist ein Sport, bei dem man seine Techniken sehr genau durchführen muss“, erläutert er. „Wenn sich da Fehler einschleichen, kriegt man die nie wieder raus.“
Corona hat die Judo-Abteilung der TSG Bergedorf in eine schwere Krise gestürzt
Immer wieder ruft Urschel daher seine Jungs im Verlauf des Trainings lautstark zu Ordnung. „Zu streng darf ich aber auch nicht sein“, weiß er. „Sonst verliere ich sie spätestens, wenn sie 16 sind. Wir sind eine Randsportart. Da tut jeder, der aufhört, weh.“ Urschel hat jahrzehntelange Erfahrung: 20 Jahre lang war er Judo-Trainer bei Paloma, jetzt trainiert er schon seit zwölf Jahren den Nachwuchsbereich der JGS. Corona hat die Judo-Abteilung der TSG Bergedorf in eine schwere Krise gestürzt. Tummelten sich früher 25 Jugendliche in der U15-Trainingsgruppe, so sind es nun nur noch knapp die Hälfte. „Wir müssen um jedes einzelne Kind kämpfen“, ist sich Siegfried Urschel bewusst.
Bei David war es der Zufall, der ihn vor vier Jahren zum Judosport brachte. „Meine Mutter wollte, dass mein 14-jähriger Bruder Denis und ich einen Kampfsport machen“, erzählt er. „Also wollten wir uns zuerst beim Boxen anmelden. Doch da haut man sich ja immer auf den Kopf, und mein Bruder hat eine Sehschwäche.“ So kamen sie zum Judo, dem „sanften Weg“, der so sanft manchmal gar nicht ist. Doch kleinere Schmerzen haben die Jungs gelernt zu tolerieren.
„Mein Vater schaut die Nachrichten ausschließlich auf Russisch“
Im Training sprechen die Kinder Deutsch miteinander, obwohl sich viele genauso mühelos auf Russisch verständigen könnten. „Mein Vater schaut die Nachrichten ausschließlich auf Russisch“, schildert Victor. Dass die Kinder zweisprachig aufwachsen, ist von den Eltern gewollt. Für die Trainingsgruppe bringt es einen unschätzbaren Vorteil mit sich.
„Wenn ein neues Kind hinzukommt, das noch nicht so gut Deutsch spricht, können die Jungs übersetzen“, sagt Urschel. Ein Umstand, der noch wichtig werden könnte, wenn es demnächst eine Flüchtlingswelle aus der Ukraine gibt. Für Victor und David ist jedenfalls eines klar: Kein Krieg der Welt wird ihrer Freundschaft etwas anhaben können.