Hamburg. Der Kirchenkreis Hamburg-Ost sucht Opfer von sexuellem Missbrauch. Das Thema bewegt auch auf Gemeindeebene.

Missbrauch und Kirche – dieses Thema ist unerwartet nah herangekommen an die Vier- und Marschländer Kirchengemeinden. Der evangelische Kirchenkreis Hamburg-Ost sucht Betroffene und Zeugen in Fällen schweren sexuellen Missbrauchs. Die Taten sollen sich Anfang der 2000er-Jahre im Zeltlager Groß Wittfeitzen ereignet haben. Ein damaliger Teamer aus den Vier- und Marschländer Kirchengemeinden soll einen neun Jahre alten Jungen sexuell missbraucht haben.

Der Kirchenkreis ist vor einer Woche an die Öffentlichkeit gegangen. Das Opfer hatte vor etwa vier Jahren Anzeige erstattet, war 2019 an die Kirche herangetreten. Die Staatsanwaltschaft hatte das Ermittlungsverfahren 2021 mangels Beweisen eingestellt. Pröpstin Ulrike Murmann vermutet aber, dass es mehrere Betroffene gibt. Tatsächlich habe es bereits Reaktionen auf den Aufruf gegeben, bestätigte Remmer Koch, Pressesprecher des Kirchenkreises Hamburg-Ost. Über Art und Inhalt könne keine Auskunft gegeben werden.

Missbrauchsvorwurf: Wie gehen Mitarbeiter mit dem Thema um?

Der Schock über den Missbrauchsfall ist auf Gemeindeebene zu spüren, das Thema Tagesgespräch. Zwar soll und will man sich von offizieller Stelle nicht zu dem konkreten Vorfall äußern. Dennoch müssen die Mitarbeiter mit der Situation umgehen. Wie gelingt ihnen das?

In den Kirchengemeinden wird jedes Jahr für die Teilnahme von Kindern am Zeltlager Groß Wittfeitzen geworben. Das Grundstück liegt im niedersächsischen Wendland zwischen Lüchow und Dannenberg. 1973 hat es die Kirchengemeinde Curslack erworben. Jedes Jahr machen dort etwa 200 Kinder im Alter von acht bis 13 Jahren Ferien.

Sexueller Missbrauch in der Kirche: Manche Teamer sind völlig aufgelöst

Neuengammes Diakon Martin Tonne (51) hat in den vergangenen Tagen Teamer von damals und heute am Telefon. Viele seien völlig aufgelöst. Für manche sei eine heile Welt kaputtgegangen. „Eine damalige Teamerin hat geweint und gefragt ,Wieso habe ich davon nichts bemerkt?‘“, sagt Martin Tonne. Neuengamme hat sofort reagiert, bietet Treffen und Gesprächsrunden an für damalige und aktuelle Teamer.

Curslacks Pastor Alexander Braun (44) hat Anrufe von Eltern bekommen, die ihr Kind in diesem Jahr erstmals im Zeltlager angemeldet hatten. Bei aller Besorgtheit erfahre er bei den Gesprächen viel Zuspruch für die Reaktion der Kirche, offen mit dem Thema Missbrauch umzugehen. „Die sagen nicht: ,Was ist den bei euch los, dass sowas passieren konnte‘, sondern zeigen klar: ,Wir finden es gut, dass ihr als Kirche es aufarbeitet, euch der Sache stellt.‘“

Missbrauchsvorwürfe: „Viel Zuspruch, dass wir Unterstützung anbieten“

Auch Kjeld Brysinski (39), Vorstandsvorsitzender des Zeltlagerverbands, erlebt dies: „Es ist eine große Schockiertheit zu spüren. Aber es gibt sehr viel Zuspruch, dass wir Unterstützung anbieten.“ Kirchwerders Pastor Nils Kiesbye (50) ergänzt: „Wir stellen uns der Verantwortung. Es ist unser aller Interesse, dass Eltern ihre Kinder unbesorgt in das Zeltlager schicken können.“ Alle sind sich einig: Man werde transparent aufarbeiten, sich fragen, was anders werden müsse. Vertrauen und Transparenz – das sind Schlüsselwörter, die an diesem Nachmittag im Gespräch mit Vertretern des Pfarrsprengels Vierlanden häufig fallen.

Nils Kiesbye bekräftigt, man beschäftige sich ja nicht erst mit dem Thema, seit der Kirchenkreis aktuell an die Öffentlichkeit gegangen sei. Schon seit Jahren würden umfassende Schutzkonzepte entwickelt, die missbräuchliche Strukturen verhindern sollen. Vieles davon sei schon längst umgesetzt, wird jetzt aber auch noch zusätzlich in ein übergeordnetes Schutzkonzept aller zehn Zeltlagergemeinden eingebettet.

Seit Jahren werden potenzielle Teamer geschult – ob die Zertifikate nun Juleika (Jugendgruppenleiterkarte) oder Teamercard heißen: Ihnen ist gemein, dass die nicht einfach so „ersessen“ werden können. Die Teilnehmer müssten aktiv und überzeugend zeigen, dass sie geeignet sind, Kinder und Jugendliche zu betreuen, versichert Kjeld Brysinski. Nicht jeder erhalte die Berechtigung.

Das gesamte System Kirche soll sensibilisiert sein

Verlangt werde heute von Mitarbeitern ein erweitertes Führungszeugnis, eine Selbstverpflichtungserklärung, die Unterschrift unter einen Verhaltenskodex, die Unterstützung eines Leitbildes, eines Schutzkonzepts. Und das erfasse das gesamte System. Ob Friedhofsgärtner, Sekretariat, Pastor oder Teamer. Alle sollen sensibilisiert sein im Umgang mit Menschen. Alle sollen Wertschätzung verinnerlichen, auf ihre Sprache achten, das Maß an Nähe und Distanz bedenken. Struktur scheint das Zauberwort bei alledem. Kjeld Brysinski sagt: „Täter suchen sich geplant chaotische Strukturen.“ Soll heißen: Wer pädophile Neigungen hat, wird sich Orte und Gelegenheiten suchen, die nicht gut strukturiert und durchdacht sind – und dort fündig werden. Deswegen sei ein Konzept, seien Strukturen, an die sich jeder halten müsse, so wichtig.

„Ehrenamtliche haben wie Pastoren eine gewisse Professionalität entwickelt. Wir sprechen miteinander, kritisieren uns auch, weisen darauf hin, wenn uns Fehler auffallen“, sagt Nils Kiesbye. Offen sein. Hinsehen. Nicht wegschauen. Dies sei mitnichten auf Jugendfreizeiten begrenzt, sagt Neuengammes Pastorin Doris Spinger (57). Auch in der Seniorenarbeit sei diese Sensibilität wichtig: Wie geht man mit den alten Menschen um? Was brauchen sie? Wo beginnen Grenzüberschreitungen? Die vom Kirchenkreis geschilderten Übergriffe des Teamers auf einen Jungen vor gut 20 Jahren – nachts im Zelt und unter der Dusche – seien heute so nicht mehr denkbar. Die Strukturen seien heute andere: Stets seien ein weiblicher und männlicher Betreuer zu zweit unterwegs, die sich gegenseitig aber auch den Schützlingen achtsam begegneten.

100-prozentige Sicherheit gibt es nicht

Und noch etwas habe sich grundlegend geändert: Heute werde das, was Kinder erzählen, etwa zum Thema Nähe und Distanz, viel aufmerksamer wahrgenommen. „Sie werden mehr beteiligt“, sagt Doris Spinger.

Nils Kiesbye erinnert sich an eine Episode aus seiner Schulzeit. Ein Schulkollege habe gern einen Literaturkreis besucht, sich dann aber plötzlich zurückgezogen. Der Grund: Der Lehrer habe ihm häufiger die Hand aufs Bein gelegt. Doch nicht etwa der tatschende Lehrer musste Konsequenzen ziehen, sondern der Jugendliche -- ohne dass die Gründe weiter hinterfragt wurden. So ein Umgang gehöre der Vergangenheit an.

Potenziellen Tätern keine Einfalltore mehr bieten

Martin Tonne bestätigt das. Im jüngsten Jugendkreis unter den Zwölf- und 13-Jährigen sei der Missbrauchsfall im Zeltlager Thema gewesen. „Ich habe ihnen gesagt, dass es nicht in Ordnung ist, wenn sie jemand anfasst“, sagt Martin Tonne. Doch er musste gar nicht weiter überzeugen: „Das war denen völlig klar.“ Dabei helfe im Zeltlager auch eine Mail-Box. Das ist ein Kasten, in den Kinder einen Zettel werfen können, wenn sie etwas bedrückt. Niemand müsse allein mit Sorgen oder gar Übergriffen klarkommen, allein Konsequenzen ziehen. Alexander Braun ergänzt: „Zudem gibt heute eine kirchlich unabhängige Meldestelle. Es ist wichtig, dies zu haben, außerhalb der Kirche.“

100-prozentige Sicherheit gibt es nicht. Das ist allen klar. Doch sie wollen die Strukturen so aufbauen, dass es für potenzielle Täter keine Einfalltore mehr gibt. Umarmungen können so eine Situation sein, für Menschen, die das übergriffig ausnutzen wollen. Also nicht mehr umarmen? „Nicht jeder mag umarmt werden. Nähe kann ja auch anders aufgebaut werden, muss nicht körperlich sein“, sagt Martin Tonne. Man könne ein Kind auch einfach fragen, ob es in den Arm genommen werden möchte, um es zu trösten. Miteinander reden, aufeinander hören. Alexander Braun sagt: „Auch wir als Kirche sind ein lernendes System.“