Lohbrügge. An der Leuschnerstraße in Lohbrügge gibt es eine besondere Seniorenwohnanlage. Ihre Bewohner sind alle kreativ – wie Ellen Lotichius.
Wenn auch dem einen die Hände ein wenig zittern beim Töpfern, der andere mit schwindendem Augenlicht malt oder fotografiert, so ist der Kreativität doch keine Grenzen gesetzt: An der Leuschnerstraße 95 gibt es ein ganzes Haus voller alternder Künstler. Manch eine Bewohnerin spielt noch gern Klavier, ein anderer beherrscht die Mandoline und gibt sogar noch Auftritte in der Elbphilharmonie.
Kleine Lebensweisheiten über das Glück im Alltag will die 92-jährige Ellen Lotichius am Mittwoch, 7. September, vorlesen, wenn das 40-jährige Bestehen des Hauses gefeiert wird: Vor genau vier Jahrzehnten gründete die Hansestadt Hamburg aus dem hinterlassenen Vermögen des Museumsdirektors Dr. Georg Poensgen und seiner Frau Emma die Stiftung, deren Zweck die Errichtung und Unterhaltung von Heimen für alte Menschen ist, „insbesondere aus geistigen und künstlerischen Berufen“.
Die Wohnungen sind 56 bis 66 Quadratmeter groß und begehrt
Wer heute eine der 29 Wohnungen in der Service-Wohnanlage mietet, zahlt eine Netto-Kaltmiete von 8,05 Euro – und muss sich zunächst geduldig mit der Warteliste begnügen: Der 56 bis 66 Quadratmeter große Wohnraum ist begehrt.
2015 zog Ellen Lotichius ins Haus der Poensgen-Stiftung, nachdem sie 50 Jahre lang fast gegenüber gelebt hatte, an der Plettenbergstraße. Die Künstler waren ihr nicht unbekannt, schließlich leitete sie fast 20 Jahre lang ehrenamtlich montags den Seniorenkreis: „Wir haben sehr viel Gehirnjogging gemacht und Fragen zu Städten und Pflanzen gestellt“, erinnert die 92-Jährige, die topfit ist – was natürlich auch die neun Enkel und drei Ur-Enkel erfreut.
Zwei Jahrzehnte lang bemalte die 92-jährige Ellen Lotichius Porzellan
Die kennen die Kreativität ihrer Oma vor allem vom Kaffeekränzchen mit Kuchen: Denn zwei Jahrzehnte lang bemalte Ellen Lotichius Porzellan: „Ich war eine sehr gute Kopistin der Dresdner Meißner-Vorlagen und habe 18 Gedecke bemalt“, erzählt sie nicht ohne Stolz.
Nicht nur die Kunst, auch die Musik habe ihr Leben bereichert. „Diese Geige da an der Wand bekam ich mit elf Jahren zu Weihnachten. Später kamen noch Klavier, Flöte und Akkordeon dazu, aber ich war nie wirklich richtig gut.“ Die Stimme indes blieb ihr immer treu – vom ersten Schulchor bis zum Oratorienchor der Bach-Gesellschaft, dann folgte der Chor der Auferstehungskirche und zuletzt der Seniorenchor von St. Petri und Pauli, „aber da habe ich jetzt aufgehört, weil ich Angst habe vor der Treppe hoch zur Empore“, meint Ellen Lotichius, die zudem fast 20 Jahre lang bei der Reihe „Musik und Texte“ vorlas – auch auf Platt.
Als Au-Pair-Mädchen in England – bei der Familie des Bürgermeisters von Guildford
Dass sie Sprachen liebt, mag auch daran liegen, dass sie aus einer Lehrer-Familie stammt: 1929 in Schnelsen aufgewachsen, zog die Familie 1951 nach Bergedorf in ein schönes Haus an der Chrysanderstraße mit 500 Quadratmeter großem Garten gleich an der Bille. „Der Arbeitsweg mit der Dampflok war meinem Vater zu lang, denn er war hier an der Wentorfer Straße Lehrer an der Berufsschule“, erzählt sie.
Da hatte sie bereits ihr Abitur abgelegt und ging als Au-Pair-Mädchen nach England: „Mothers help“ sagte man damals dazu. 15 Monate lang blieb sie bei der Familie des Bürgermeisters in Guildford, zu der sie bis heute Kontakt hält.
Damals hatte das Schall- und Notenarchiv des NDR 40 Mitarbeiter – heute drei
Zurück in Deutschland arbeitete sie zunächst bei der Rentenrechenstelle der Post (für 195 Mark im Monat), dann folgte eine Ausbildung zur Fremdsprachen-Sekretärin. Die erste Anstellung war bei der Esso, in der Sachbearbeitung für Warenzeichen und Patentangelegenheiten. Durch einen glücklichen Zufall lernte sie Dietrich Lotichius kennen, der beim NDR das Archivwesen leitete: „Damals hatte er noch 40 Mitarbeiter im Schall- und Notenarchiv. Heute arbeiten da durch die Digitalisierung nur noch drei.“
Nur zehn Monate nach der Hochzeit 1956 zog das Paar an den Hofweg und bekam Zwillinge. Neun Jahre später folgte ein dritter Sohn, der heute Gymnasiallehrer für Musik und Französisch ist. Mittlerweile sind die Zwillinge, ein Pastor und ein Bio-Chemiker, bereits im Rentenalter.
Die größte Kunst aber ist es wohl, vergnüglich und zufrieden alt zu werden
Schon mit 60 Jahren ging Ellen Lotichius in Rente – nachdem sie zuletzt neun Jahre lang Chefarztsekretärin auf der Inneren des Bethesda-Krankenhauses war. Fortan blieb mehr Muße für die Kunst – und die Jugend: Wie war die Kindheit in der Nazi-Zeit? Wie hast du das Kriegsende erlebt? So was fragten Lohbrügger Gymnasiasten beim „Kollektiven Gedächtnis“ im Haus im Park.
„Man kann immer noch etwas weitergeben“, sagt die 92-Jährige – und bietet deshalb in der Poensgen-Stiftung einmal monatlich eine Lesestunde an: „Da kommen gut ein Dutzend Leute und wir reden ernsthaft über die Texte. Das ist nicht nur so ein Blabla.“ Wobei ihre Lieblingstexte schon die Lustigen sind, etwa die Hühnersuppe für die Seele oder Oma Krögers Bismarckhering.
Die größte Kunst aber ist es wohl, vergnüglich und zufrieden alt zu werden – zumindest, wenn man mit vielen Künstlerköpfen in einem Haus wohnt: „Ich bin dem Herrgott dankbar für die Gabe, dass er mir ein ausgeglichenes Wesen geschenkt hat. Ich komme mit allen gut klar“, sagt die 92-Jährige schmunzelnd.