Hamburg. Es wird wohl sein letztes Konzert, sein letztes Weihnachten sein: Wie sich ein Bergedorfer (56) auf seinen frühen Tod vorbereitet.
Es muss irgendetwas mit seiner Lieblingsfarbe Gelb sein, das steht fest. „Aber soll ich meinen kompletten Namen oder nur Ralfi draufschreiben lassen?“ Grübelnd sitzt der 56-Jährige vor dem Computer – und sucht sich eine Urne aus. Ralf Lüdeke hat die unheilbare, neurologische Krankheit ALS (Amyothrophe Lateralsklerose), die zu Muskellähmung führt. Was das heißt, braucht er sich nicht bunt ausmalen, denn „ich habe schon viele ALSler versorgt, auch ganz junge Menschen“, sagt der Mann im roten Pulli, der im Rollstuhl sitzt und so gern lacht.
„Seelenpflege“ gehört dazu. Das weiß der Sohn einer Kinderkrankenschwester und eines Baggerfahrers. Als Narkosegehilfe arbeitete er in zwei Bundeswehrkrankenhäusern, bevor er eine Ausbildung zum Krankenpfleger machte und in Hamburg seit 2011 als Intensivfachpfleger gearbeitet hat, zuletzt im Reinbeker St. Adolf-Stift. Wir treffen uns in seinem Zimmer im Hospiz am Deich, wo er seit Ende August betreut wird, zum Interview. Das Haus wurde erst im April 2023 in Allermöhe eröffnet und zählt seither 170 Verstorbene.
ALS-Krankheit: Interview mit einem Sterbenden im Hospiz am Deich
„Ich fühle mich hier wohl, nicht einfach zum Sterben abgestellt“, sagt Ralf Lüdeke. Er könnte den Bleibe-Durchschnitt von 30 Tagen toppen: „Ich dachte zwar auch schon, ich würde meinen Geburtstag am 16. August nicht überleben, aber vielleicht bleiben mir doch noch ein paar Monate, wenn die Luft nicht noch dazukommt. Immerhin kriege ich bald eine Hustenmaschine, die den Sabber von tief unten absaugt.“ Auf keinen Fall glaube er an weitere drei bis fünf Jahre, die ihm ein Oberarzt prognostizierte.
Wie hast du vor einem Jahr die Nachricht von der Krankheit aufgenommen? Ralf Lüdeke
Ralf Lüdeke: Naja, ich hatte ein bisschen was geahnt, als zwei Finger wegknickten und mein Hausarzt mich zum Neurologen schickte. Ich dachte: Oh, Schiete, warum ausgerechnet ich und ausgerechnet das? Ein Schlaganfall oder ein Herzinfarkt wären irgendwie greifbarer gewesen. Dann bin ich erst mal in ein tiefes Loch gefallen, habe nichts mehr gegessen, nur noch geraucht und Kaffee getrunken.
Wer war bei dir?
Einen Partner hatte ich derzeit nicht, bin seit 2013 Single und habe das Leben reichlich genossen. Meine sehr guten Freunde haben mich täglich in meiner Lohbrügger Wohnung besucht, mit mir geheult und es geschafft, mich nach fünf Wochen aus dem depressiven Loch herauszumanövrieren.
Was hat dich am meisten gestresst?
Ich wollte nicht länger nur Trübsal blasen, sondern alles klären, also Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht, den Autoverkauf und vor allem im März den Umzug in eine barrierefreie DRK-Wohnanlage am Wiesnerring. Leider musste ich meine acht Siamkatzen weggeben. Eigentlich hatte ich auch in Bergedorf bleiben wollen, als ich mein Brot nicht mehr backen konnte, nicht alleine kochen oder duschen. Doch ein Pflegedienst für täglich zwölf Stunden war nicht zu finden, wegen Personalmangels.
Was war dein schönstes Alter?
Ab 30 war ich nicht mehr so verspielt, da wurde das Leben interessanter. Mit Büchern, Konzerten und Freunden, mit denen ich nach Ägypten und Marokko gereist bin. Ich habe weniger gearbeitet und alles genossen.
Was für ein Mensch wärst du wohl mit 80 Jahren?
Ich wollte nach der Rente aufs Dorf ziehen und einen Hund haben. Wahrscheinlich wäre ich gediegener als heute, aber immer noch zu Musicals unterwegs, beim Stadtbummel oder shoppen. Ich habe immer gern neue Leute getroffen und andere Ansichten kennengelernt.
Fühlt sich das Leben seit der Diagnose intensiver an?
Vielleicht ja, weil man ja in der kurzen Zeit noch die besten Sachen machen will. Aber es wird beschwerlicher. Spätestens im November wird wohl auch der linke Arm schlappmachen. Es geht schnell. Aber es wird genossen, was das Zeug hält. Das DRK begleitete mich noch am 8. Oktober zu einem Janet-Jackson-Konzert in Berlin. Da habe ich kräftig mit dem Oberkörper gerockt. Danach allerdings war ich zwei Tage lang groggy. Im Winter würde ich gern noch das Hamburger Michael-Jackson-Musical erleben. Auch das neue Einkaufszentrum in der Hafencity. Und ein Kumpel will mir unbedingt noch einen Weihnachtsbaum aufstellen.
Der italienische Journalist Tiziano Terzani hat vor einem Tod 2004 ein Buch geschrieben mit dem Titel „Das Ende ist mein Anfang“. Was hast du dir noch vorgenommen?
Ach, mein Leben war eigentlich gut, und ich war sehr oft auf der Überholspur unterwegs. Jetzt werde ich ruhiger, sind die Messen gesungen. Jedenfalls höre ich jetzt nicht mehr auf zu rauchen. Aber ich bin ja auch Pflanzenheilkundler und Aromatologe, daher pansche ich jetzt gemeinsam mit einer Ehrenamtlichen ein Erkältungsbalsam mit Lavendel und Mandarine. Auch wollen wir ein Lymphöl herstellen, das sind Zeder, Grapefruit und Wacholder in einer Mischung aus Sesam- und Mandelöl.
Du willst unbedingt alles noch selbst machen und entscheiden, oder?
Klar, ich übe schon mit meinem Sprachcomputer, mit dem ich per Augensteuerung kommunizieren kann, sobald die Schluck- und Sprechbeschwerden kommen. Ansonsten habe ich alles erledigt und bin ziemlich im Reinen mit mir. Jetzt muss noch meine Wohnung am Wiesnerring aufgelöst werden. Das sind immerhin 600 Euro Miete, und es führt ja doch kein Weg zurück. Mein älterer Bruder klärt dann den restlichen Finanz- und Papierkram mit Sterbeurkunde und so. Er kommt mich regelmäßig besuchen, aber das mit der Krankheit ist nicht so seine Sache.
Was ärgert dich am meisten?
Ach, gefühlt habe ich täglich einen Widerspruch an die Knappschaft Bahn/See geschrieben. Erst haben sie eine Reha abgelehnt, dann die Fahrtkosten zur Uni-Klinik und die Orthese für mein Bein. Seit März schon bitte ich um einen Rollstuhl mit 50 Kilometern Reichweite, dann könnte ich vielleicht auch mal mit dem Bus nach Bergedorf kommen.
Der Jurist und Philosoph Michel de Montaigne (1533-1592) soll gesagt haben: „Leben heißt sterben lernen“. Ist da was dran?
Das ist ein schönes Zitat. Erst muss man ja sprechen und laufen lernen. Und vielleicht wird man als alter Mensch wieder zum Kind.
Hast du eine Vorstellung von deinen letzten Tagen?
Mal sehen, ob ich dann herumplärre oder grantig werde. Auf jeden Fall habe ich eine knallharte Patientenverfügung, nichts mit künstlicher Beatmung oder Ernährung. Außerdem möchte ich nicht an vielen Schläuchen hängen, habe den Ärzten genau gesagt, welche Medikamente ich mir am Schluss wünsche. Und ich hoffe, dass es akzeptiert wird, wenn ich mich nicht mehr waschen lassen will oder nicht die Zähne putzen.
Und mal abgesehen von dem Medizinischen?
Wenn ich in die ewigen Jagdgründe gehe, werden sieben gute Freunde bei mir hier im Zimmer sitzen und bei der Verabschiedung meine Hand halten. Wäre schön, wenn jemand ein Fenster öffnet, damit die Seele in den Himmel fliegen kann. Danach möchte ich verbrannt werden und im Ewigkeitsforst im Sachsenwald in Ruhe unter einem Baum liegen. Vielleicht steht dann nur Ralfi auf dem Schild.
Tschüs, Ralf Lüdeke – und vielen Dank für das Gespräch!
Ja, mach‘s gut und pass auf dich auf!
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Bergedorfs Volkshochschule bietet im Körberhaus zwei Seminare an, die sich dem Thema Tod widmen. Über den „Umgang mit dem Tod in einer Gesellschaft des langen Lebens“ sprechen Doris Kreinhöfer und Susanne Kutz: „Der Tod ist die größte Verunsicherung – auch wenn es um den erwartbaren Tod alter Eltern geht. Wie begleiten, wie mit den widersprüchlichen Gefühlen rund um Sterben, Tod und Trauer umgehen?“ Das Seminar bietet kreative Übungen und praktische Hilfestellungen samt Hintergrundwissen, das sprech- und handlungsfähig mache. Beginn ist am Donnerstag, 14. November, zwischen 18 und 21 Uhr. Es folgen zwei weitere Termine. Eine Anmeldung für 44 Euro ist telefonisch möglich unter: 040/609 29 55 55.
Am selben Donnerstag, 18 bis 19.30 Uhr, bietet auch der ehemalige Amtsrichter Klaus-Ulrich Tempke einen Vortrag an, dem zwei Termine folgen. Es geht um das gesamte Erbrecht, also um Testament und Vermächtnis, um Erbvertrag und Erbschaftssteuer, um das Pflichtteilsrecht, die Vor- und Nacherbschaft sowie die Testamentsvollstreckung. Interessierte melden sich bei der VHS für 30 Euro an.