Hamburg. „Bestimmte Tiergruppen fehlen“: Biochemiker kritisiert Umwelt-Gutachten für Bau von Hamburgs neuen Stadtteil. Es zeige gravierende Fehler.

Mit der Planung des umstrittenen neuen Stadtteils Oberbillwerder hat sich Paul Scherer intensiv auseinandergesetzt. Der promovierte Biochemiker hat sich die derzeit im Bergedorfer Rathaus ausliegenden Bebauungspläne genau angeschaut, ist vor allem die den Naturschutz betreffenden Fachgutachten durchgegangen. Der Bergedorfer hat gravierende Fehler entdeckt. Sie würden seiner Meinung nach eine weitere Klage gegen das Mammut-Projekt rechtfertigen, betont der emeritierte Professor und Forscher.

In den Naturschutz-Gutachten würden „bestimmte Tiergruppen fehlen“, hat er festgestellt. „Vor allem im Wasser vorkommende Insekten wie Libellen und Wasserkäfer werden nicht berücksichtigt.“ Auch gebe es „Ungereimtheiten bei der Zahl der Tiere“, die in den Gutachten nach Zählungen aufgelistet worden sind. Zu Bodeninsekten wie Laufkäfern seien überhaupt keine Gutachten erstellt worden. „Auch eine Kartierung zu Land-Mollusken wie beispielsweise der geschützten Weinbergschnecke, die mehrfach in Oberbillwerder beobachtet wurde, fehlt“, sagt der Wissenschaftler. „Doch was man nicht zählt, kann auch nicht geschützt werden.“

Oberbillwerder: Kritik an Umwelt-Gutachten für Bau von Hamburgs neuen Stadtteil

Scherer, der früher in Billwerder gewohnt hat, ist seit mehr als 30 Jahren Mitglied des Vereins Dorfgemeinschaft Billwärder an der Bille, dessen vorrangiger Zweck die Förderung des Landschafts-, Umwelt- und Naturschutzes ist. Aus diesem Grund richtet sich der Verein gegen die geplante massive Versiegelung von Flächen für den Bau des Stadtteils.

Eine Visualisierung des für Hamburgs 105. Stadtteil Oberbillwerder geplanten Grünzugs.
Eine Visualisierung des für Hamburgs 105. Stadtteil Oberbillwerder geplanten Grünzugs. © Thomas Voigt | Atelier LOIDL Landschaftsarchitekten Berlin GmbH

Die Gutachten müssen nach Meinung von Scherer und seinen Mitstreitern vervollständigt werden, was den Bau des neuen Stadtteils abermals verzögern dürfte. „Auch wenn das einen großen Aufwand bedeutet und teuer ist, sollte alles wissenschaftlich und gesetzeskonform korrekt durchgeführt werden. Es kann durchaus sein, dass unser Verein wegen der fehlenden oder unvollständigen Gutachten zum ‚Schutzgut Tiere-Pflanzen‘, nach Ansicht der Dorfgemeinschaft ein erneuter Formfehler, Klage einreicht“, sagt Scherer.

Oberverwaltungsgericht Hamburg: Erste Klage des Vereins hatte bereits Erfolg

Denn natürlich seien auch Libellen, Schnecken, Laufkäfer und die weiteren nicht beachteten Tiergruppen wichtig, betont der Bergedorfer: „Nahrungsketten sind in einem Ökosystem wie Lieferketten und dürfen nicht unterbrochen werden, denn sonst geht das eingespielte natürliche Gleichgewicht verloren. Dann sterben dort bestimmte Tierarten zwangsläufig aus.“

Die erste Klage des Vereins hatte bereits Erfolg: Die Dorfgemeinschaft klagte vor dem Oberverwaltungsgericht Hamburg gegen eine sogenannte vorgezogene Umweltausgleichsmaßnahme für die in den Wiesenbiotopen von Billwerder zahlreich vorkommenden, aber im restlichen Hamburg extrem seltenen Brutgebiete der Feldlerche. Um Platz für die Vögel zu schaffen, sollten auf einem Nachbargelände 96 Pappeln gekappt und gefällt werden. Doch die Bäume dienen bis zu neun verschiedenen seltenen Fledermausarten als Rückzugsmöglichkeiten.

Dorfgemeinschaft konsterniert: Umweltbehörde setzt auf Ausnahmegenehmigung

„Die Sache ruht aber nicht, denn die Umweltbehörde versucht das Gerichtsurteil des Oberverwaltungsgerichts durch eine artenschutzrechtliche Ausnahmegenehmigung zu umgehen“, sagt Scherer. Die Behörde beharre darauf, die Feldlerchenpaare in das Luftlinie etwa 20 Kilometer entfernte Ausgleichsgebiet Hahnöfersand ziehen zu lassen. Dass sich die Feldlerchen von selbst nach Hahnöfersand begeben, war dem Gericht in erster Instanz allerdings unrealistisch vorgekommen, weshalb der Klage stattgegeben worden war. „Unsere Dorfgemeinschaft ist konsterniert über dieses noch unmöglichere Manöver, Naturschutzgesetze auszuhebeln“, sagt Scherer. Er und seine Mitstreiter wundern sich, dass dafür ausgerechnet Grünen-Politiker Jens Kerstan als Chef der Umweltbehörde verantwortlich ist.

Sandaufschüttung
Für den Bau von Oberbillwerder wird, wie hier beim Quartier Weidenbaumsweg, massiv Sand aufgeschüttet, um das Areal um etwa 1,5 bis zwei Meter zu erhöhen. © Paul Scherer | Paul Scherer

„Unklare Planungsunterlagen“ ließen aber auch viele andere Fragen offen, betont der Wissenschaftler: So sorgt er sich etwa in Zeiten zunehmender Starkregenereignisse aufgrund der Klimaerwärmung um die Entwässerung Oberbillwerders und den Fluss des Wassers „in die tiefer liegenden Nachbargebiete“. Messergebnisse von Starkregen wie am Himmelfahrtstag 2018, als sich in Lohbrügge an einem Tag etwa 110 Liter Wasser pro Quadratmeter abregneten, oder am 27. Juni, als in Bergedorf bis zu 70 Liter pro Quadratmeter festgestellt wurden, würden „aufgrund ihrer statistisch unsicheren Werte“ leider nicht in die aktuelle Bauplanung einbezogen.

Paul Scherer: Künftige Höhenunterschiede werden bei Starkregen Probleme verursachen

Dass mit Zehntausenden Lkw-Fahrten – bis zu 180 am Tag – Sand nach Oberbillwerder transportiert werden soll, um die dortigen Feuchtwiesen auf etwa 1,5 bis zwei Meter zu erhöhen, hält Scherer für sehr fragwürdig: „Man wohnt entweder unten oder oben, wobei bekanntlich Wasser von oben nach unten läuft. Das wird großen Ärger verursachen.“

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Befremdlich fand Scherer ein sogenanntes Animal-Aided Design („tierunterstütztes Entwerfen“), das im Auftrag der stadteigenen Bauleitung IBA Hamburg von einem Berliner „Planungsbüro zur Förderung der urbanen Biodiversität und der Stadtnatur“ erstellt worden ist – ein 286-seitiges Exposé . Das Büro beschäftigt sich nach eigener Auskunft mit dem systematischen Einbeziehen wild lebender Tiere in Prozesse der Projektplanung in Architektur und Landschaftsarchitektur, erforscht „die Rolle von Tieren bei der Gestaltung von urbanen Räumen“, wie es auf seiner Website informiert.  

Exposee eines Planungsbüros setzt auf „selektierten und reduzierten Tierartenverschnitt“

Für ihn sehe das Ganze auf den ersten Blick „ungewöhnlich, seltsam und nach Disneyland aus“, sagt Scherer. „Dort wird mit stilisierten Worten und Bildanimationen die Mission verfolgt, ersatzweise für die Trabantenstadt Oberbillwerder einen selektierten und reduzierten Tierartenverschnitt zu ermöglichen, der sich dann dort bitte ansiedeln soll.“ Das Ganze mute analog zu einem Weinverschnitt wie ein „Öko-Cuvee Oberbillwerder“ an.

Denn, so ist im Exposé zu lesen, es sei „eine finale Auswahl an Zielarten getroffen“ worden. Die sogenannten Zielarten seien „verschnitten und aufgearbeitet“ worden. „Das sollen die rund 15.000 Neu-Bewohner von Oberbillwerder dann als Ersatz für das zwangsläufig eliminierte Feuchtbiotop Oberbillwerder erhalten.“ So ein Exposé „kostet sicherlich 100.000 Euro“, kritisiert der Bergedorfer.