Hamburg. Überlebende Zwillingsschwester und Vater sprechen über das schreckliche Zugunglück in Hamburg-Allermöhe, Trauer und die Gefahr des „Zug-Surfens“.

  • Schwestern drehten TikTok-Videos von gefährlichen Aktionen – eine bezahlte mit dem Leben.
  • Überlebender Zwilling konnte nicht zur Beerdigung der eigenen Schwester
  • Nach tödlichem Videodreh für TikTok: Eltern verschwiegen Tod der Schwester zunächst.

Jeder Schritt ist mühsam. Langsam bewegt sich Maria durch den Raum, nimmt vorsichtig in einem Sessel Platz. Sie hat Schmerzen, das sieht man der 18-Jährigen an. Ihre Gesundheit ist ruiniert. Maria spricht von „Folgen, an denen ich mein Leben lang zu tragen habe“. Doch Maria hat noch viel mehr eingebüßt als ihre körperliche Unversehrtheit. Die Hamburgerin verlor jenen geliebten Menschen, der ihr so nah war wie wohl sonst niemand: ihre Zwillingsschwester.

Sandra starb am Rande der Gleise in Hamburg-Allermöhe. Auch Maria wurde dort schwer verletzt. Maria und Sandra sind jene jungen Frauen, die Anfang des Jahres in die Schlagzeilen gerieten. „Zwillinge von Zug erfasst“, hieß es beispielsweise. Hinter solchen Überschriften stand das Entsetzen über den dramatischen Tod einer 18-Jährigen und die schwerste gesundheitliche Schädigung ihrer Schwester, die erst im Koma lag und zweieinhalb Monate im Krankenhaus behandelt werden musste.

Riskante TikTok-Videos von waghalsigen Szenen – Überlebende: „Scheiße, was wir gemacht haben“

Es schwang aber auch die Frage mit, ob die beiden Schülerinnen sich womöglich absichtlich in Gefahr gebracht haben – um in sozialen Medien Aufmerksamkeit und Zustimmung zu bekommen, also Likes. Es wäre eine Währung, die heute für manche unbegrenzt wertvoll ist und für die sie sehr viel tun würden. Unter Umständen sogar ihr Leben aufs Spiel setzen.

Maria Waller weiß heute, dass sie extrem leichtsinnig gewesen ist. Dass sie immer wieder das Schicksal herausgefordert hat, als sie und ihre Schwester vor einigen Monate damit begannen, sich hinten an Züge zu hängen oder erst im letzten Moment von den Gleisen zu springen, wenn eine Bahn heranrast. Der Kick war, von den waghalsigen Szenen kleine Videos zu drehen, die sie auf der Internetplattform TikTok posteten. Heute sagt Maria mit Nachdruck, dass das „Scheiße war, was wir gemacht haben“.

Tödlicher TikTok-Videodreh: Überlebender Zwilling konnte nicht zur Beerdigung der eigenen Schwester

Jetzt möchte Maria ganz eindringlich vor dem sogenannten „Zug-Surfen“ warnen. „Die Leute wissen nicht, wie gefährlich das ist“, sagt sie. „Die Leute wissen nicht, wie schlimm das enden kann.“ Für sie endete es erst im Koma, dann im Rollstuhl und jetzt im Wohnzimmersessel, aus dem sie sich nur mit Mühe wieder heraushieven kann, um ein paar Schritte zu gehen. Für ihre Zwillingsschwester endete es auf dem Friedhof.

Vor einigen Wochen fand die Beerdigung der 18-Jährigen statt, im kleinen Kreis. Maria hat bei dem Begräbnis nicht dabei sein können. Da lag sie noch im Krankenhaus, war diverse Male operiert worden. In dem großen Lehnsessel, dem einzigen Sitzmöbel, in dem sie mit ihren noch lange nicht ausgeheilten Verletzungen halbwegs bequem sitzen kann, scheint Maria geradezu zu versinken, eine blasse, zarte Person mit langen dunklen Haaren.

Tödliches Unglück in Hamburg-Allermöhe – Überlebende Zwillingsschwester: „Habe viel Glück gehabt“

Das Abendblatt hat Maria Waller und ihren Vater Matthias in deren Wohnung im Hamburger Süden getroffen. Maria, Sandra und Matthias Waller heißen eigentlich anders, doch sie möchten ihre echten Namen nicht in den Medien lesen. Was sie aber mit aller Deutlichkeit und Dringlichkeit an die Öffentlichkeit bringen möchten, ist ein Appell: „Begebt euch nicht in Gefahr! Zug-Surfen ist unglaublich gefährlich! Ebenso ist es lebensgefährlich, euch in die Gleise zu begeben. Fangt damit gar nicht erst an!“

Und Maria sagt: „Ich weiß inzwischen, dass 98 Prozent derer, die von einem Zug getroffen werden, sterben und nur zwei Prozent überleben. Ich habe viel Glück gehabt.“ Glück, das überschattet ist von Schmerzen, von Verlust, von unendlicher Trauer um die Zwillingsschwester, die eben nicht überlebt hat. Sandra starb noch am Unfallort.

Schwestern drehten TikTok-Videos von gefährlichen Aktionen – eine bezahlte mit dem Leben

Es ist nicht sehr lange her, da haben die Zwillinge Maria und Sandra bei ihrem „Zug-Surfen“ den Kick gesucht. Das Gefühl, etwas Cooles zu erleben, das auch noch Aufmerksamkeit bringt – vielleicht sogar Bewunderung. Maria Waller sagt, ihre lebensgefährlichen Abenteuer hätten „Spaß gemacht“. Wenn sie beispielsweise hinten auf dem Puffer stehen und ein „180-Grad-Panorama genießen“ konnten. „Das gab ein Gefühl von Freiheit“.

Vielleicht haben sie und ihre Zwillingsschwester auch geglaubt, sie seien unbesiegbar, als gelten für sie naturwissenschaftliche Regeln nicht. Zum Beispiel die, dass Züge in einem Tempo unterwegs sein können, das es nahezu unmöglich macht, sich rechtzeitig mit einem Sprung zur Seite zu retten. All dies spielte für die Schwestern damals keine Rolle.

„Wir haben die Gefahren nicht bedacht“, sagt Maria. Wichtig waren der Kick und die Handy-Filmchen, die sie und ihre Schwester von halsbrecherischen Aktionen drehten und auf TikTok hochluden. Die Zustimmung im Internet tat ihnen gut. „Da kriegt man Likes“, sagt die 18-Jährige. „Da ist man jemand.“ Und ohne die „Daumen hoch“ und ohne die Herzchen? Ist man dann niemand? Die Frage steht unausgesprochen im Raum.

In Hamburg-Allermöhe verunglückte Zwillinge: Follower warnten sie vor den Gefahren

Vielleicht ist das, was die junge Frau als Nächstes erzählt, zumindest teilweise eine Antwort: Es gab nämlich auch ganz andere Reaktionen als Anerkennung und Likes, schildert Maria. Manche Kontakte warnten vor den Gefahren, in etwa so: „Hört auf damit! Das ist Wahnsinn!“ Es meldeten sich aber auch Follower, die die Zwillingsschwestern anstachelten, sich in noch gefährlichere Situationen zu begeben.

Es gab Vorschläge, zum Beispiel auf das Dach eines Zuges zu klettern und von dort zu filmen. „Das wollten wir nicht“, sagt Maria. „Wir hatten Angst vor einem Stromschlag aus den Oberleitungen.“ Eine andere Idee, erst im letzten Moment von den Gleisen zu hechten, wenn der Zug ganz nah ist, wollten sie aber ausprobieren. Es wurde ihnen zum Verhängnis.

Vater der verunglückten Zwillinge unter Schock

Matthias Waller erinnert sich mit Schaudern an den 17. Januar, als es spätabends an der Tür klingelte. Als er öffnete und vier Menschen dort standen, zwei von ihnen in Polizeiuniform, glaubte der 63-Jährige zunächst, es handele sich um einen Besuch wie früher.

Da waren seine Töchter von der Bundespolizei auf den Gleisen erwischt worden. Also, erzählt der Rentner, habe er sinngemäß gefragt: „Haben die beiden wieder was angestellt?“ Die Antwort der Beamten: „Diesmal ist es schlimmer. Es gab einen Unfall.“

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Die nächsten Worte, die Waller hörte, haben sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Dass es Sandra „nicht geschafft hat“ und Maria im Krankenhaus liegt. Bis heute, gut drei Monate nach dieser furchtbaren Botschaft, wartet Matthias Waller darauf, dass er weinen kann. Wie er da auf seinem Sofa sitzt und die Hände knetet, wirkt der frühere Busfahrer pragmatisch und resigniert zugleich.

„Erst habe ich nicht glauben wollen, was mir da gesagt wurde“, erzählt er. Seitdem stehe er offenbar unter Schock. „Ich rechne damit, dass irgendwann der Zusammenbruch kommt. Jedenfalls sagen die Ärzte, dass das zu erwarten ist.“ Noch habe er aber keine Zeit zu trauern, stehe „permanent unter Strom“. Tausend Dinge, um die er sich kümmern muss.

Nach tödlichem Videodreh für TikTok: Tod der Schwester zunächst verschwiegen

Doch etwas lähmt und bremst ihn, eine Leere, die ihn zu überwältigen droht: „Im Leben ist nichts mehr wie vorher“, sagt Waller. „Meine Ehefrau hat das Ganze extrem mitgenommen.“ Der Tod von Sandra sei für seine Familie „eine Katastrophe. Es fehlt jemand!“ Die eine Tochter durch ein Unglück getötet, die andere durch denselben Unfall schwerst verletzt, an Körper und an der Seele: Es ist für die Mutter und den Vater kaum zu ertragen.

Waller erzählt, wie sie Maria im Krankenhaus besuchten und die Tochter immer wieder nach ihrer Zwillingsschwester fragte. Erst wurde ihr weisgemacht, Sandra sei zu Hause. Es erschien den Betreuenden besser, der jungen Frau auf der Intensivstation die furchtbare Wahrheit vorerst zu verschweigen – um sie zu schonen.

„Nach einigen Tagen hieß es aber, ich solle ihr erzählen, dass ihre Schwester tot ist“, erzählt Matthias Waller. „Ich sagte, dass ich das nicht schaffe.“ Also waren sie schließlich zu viert im Krankenzimmer bei Maria; eine Krankenschwester, ein Arzt, eine Seelsorgerin und der Vater.

18-Jährige trauert um tote Schwester: „Sie fehlt immer und überall“

Die Krankenschwester sprach die traurige Nachricht aus. „Sie hat soooo geweint“, sagt Matthias Waller über Maria. Und die Tochter nickt und schluckt schwer. „Wir haben immer alles zusammen gemacht“, sagt sie über sich und ihre Zwillingsschwester. Sandra, die wenige Minuten Ältere, habe sich „immer um mich gekümmert. Wir waren ein tolles Team, haben zusammen gelacht. Sie fehlt immer und überall.“

Für Maria sind die Ereignisse des 17. Januar, die ihr Leben in ein Vorher und ein Nachher teilen, reduziert auf einzelne Sequenzen, die sie unterschiedlich intensiv erinnert. Passiert ist offenbar Folgendes: Die Schwestern fahren nach Nettelnburg, wollen für TikTok einen weiteren Spot auf den Gleisen drehen, gehen auf den Schienen Richtung Allermöhe. Es ist ein Verkehrsknotenpunkt, an dem mehrere Züge unterwegs sind, die S-Bahnen und die Regionalbahn.

Zwillingsschwester erinnert sich an das furchtbare Zugunglück in Hamburg-Allermöhe

Die S-Bahn haben sie aus dem Gleisbett gefilmt und wollten sich von dort im letzten Moment durch einen Notausstieg auf sicheres Terrain retten. Doch genau dort habe ein großer Hund gestanden, erzählt Maria, „er knurrte und fletschte die Zähne“. Einen anderen Fluchtweg gab es nicht. In diesem Moment näherte sich die Regionalbahn in hohem Tempo. Ihre Schwester habe noch gerufen, erinnert sich Maria. „Vorsicht, da kommt ein Zug!“

Die 18-jährigen Zwillingsschwestern waren Mitte Januar auf Bahnschienen in Hamburg-Allermöhe von einem Regionalzug erfasst worden. Eine der beiden starb noch vor Ort.
Die 18-jährigen Zwillingsschwestern waren Mitte Januar auf Bahnschienen in Hamburg-Allermöhe von einem Regionalzug erfasst worden. Eine der beiden starb noch vor Ort. © dpa | Carsten Neff

Doch es war zu spät. „Plötzlich hat es geknallt“, erzählt die 18-Jährige. „Es tat weh, ich wurde ohnmächtig.“ Als sie wenig später wieder zu sich kam, „war alles voll Blut. Ich konnte nicht aufstehen. Ich habe um Hilfe geschrien.“ Sie weiß noch, dass jemand plötzlich bei ihr war und die Feuerwehr gerufen hat. „Und mein Bein war weggeknickt. Ich hatte solche Schmerzen!“ Ihre Sorge galt aber vor allem ihrer Schwester.

Tödlicher TikTok-Dreh: Überlebende Zwillingsschwester musste mehrfach operiert werden

„Ich fragte, was mit ihr ist. Man sagte mir, man hätte sie nicht gefunden. Das war wohl im Guten gemeint. Ich sollte mit der Wahrheit erst mal nicht belastet werden.“ Priorität hatte, zunächst die schweren körperlichen Schäden zu behandeln, die Maria erlitten hat. Die 18-Jährige hatte massive Verletzungen am linken Bein, von der Hacke bis zum Becken, manche Knochen waren mehrfach gebrochen, die Muskulatur geschädigt. „Und die Ärzte haben mir gesagt, dass ich fast verblutet wäre.“

Die Schülerin wurde mehrfach operiert, blieb bis Gründonnerstag in der Klinik. TikTok hat sie mittlerweile deinstalliert, aus voller Überzeugung. Doch das neue Leben, das sie sich fest vorgenommen hat, beginnt mit Hindernissen. „Sie wurde mit einem Taxi einfach vor der Tür abgesetzt, zusammen mit ihrem Rollstuhl“, erzählt ihr Vater. Irgendwie ist es gelungen, dass die junge Frau es die Treppe des Mehrfamilienhauses hinauf in die Wohnung schaffte. Nun wartet sie darauf, dass sie einen Reha-Platz bekommt.

Nach zwei Absagen hofft die Familie jetzt auf eine weitere Klinik. Wie es danach weitergeht, wenn Maria hoffentlich irgendwann wieder richtig gehen kann, wird sich zeigen. Matthias Waller ist sicher: „Meine Tochter schafft das. Sie ist eine Kämpferin.“

Rechtsmediziner Klaus Püschel warnt vor Gefährlichkeit des sogenannten Zug-Surfens

In Deutschland ereignen sich im Schienenverkehr pro Jahr nach offiziellen Angaben insgesamt etwa 1000 Unfälle mit tödlichem Ausgang und Suizide. Im Bereich Hamburg waren es im Zeitraum von 2009 bis 2018 knapp 20 tödliche Ereignisse pro Jahr. Dabei handelte es sich in der Regel in etwa drei Vierteln der Fälle um Suizide, rund 25 Prozent sind Unfälle.

Für Rechtsmediziner Klaus Püschel, der die Familie von Maria und Sandra Waller mit Rat und Tat unterstützt, ist die Warnung vor der Gefährlichkeit des sogenannten Zug-Surfens ein wichtiges Anliegen. Der erfahrene Experte, bis 2020 Direktor des Instituts für Rechtsmedizin und heute Seniorprofessor am UKE, hat die Arbeitsgemeinschaft „Bahntod“ gegründet. „Wir versuchen, durch die Analyse von Todesfällen im Bereich von Schienenanlagen, Gefahrenquellen zu ergründen und auszuschalten.“

Erschüttert haben Püschel unter anderem die Fälle des sogenannten S-Bahn-Surfens, bei dem es immer wieder zu tödlichen Unfällen vor allem von Jugendlichen kam. Im Laufe der Zeit starben in Hamburg fünf Menschen unter 18 Jahren, nachdem sie aus den Fenstern einer S-Bahn nach außen geklettert waren und dort „mitsurfen“ wollten. Als Folge wurden die Züge so verändert, dass ein Herausklettern durch das Fenster nicht mehr möglich ist.

Aber auch das Mitfahren beispielsweise auf den Puffern sei lebensgefährlich, betont Püschel. „Die Jugendlichen bedenken meist nicht, dass extreme Kräfte herrschen und die Fähigkeiten eines Menschen nicht einmal annähernd ausreichen, um sich etwa bei Schlingerbewegungen festzuhalten. Wer oben auf dem Dach steht, schafft es nicht immer, sich rechtzeitig bei Hindernissen wegzuducken. Und wer vor einem heranrasenden Zug aus dem Gleisbett springen will, unterschätzt meist die Geschwindigkeit, mit der sich die Züge nähern.“ Püschel warnt ausdrücklich vor jeder Art von Abenteuerspielen in Gleisanlagen. Über Maria sagt er: „Sie hat großes Glück, dass sie überlebt hat.“