Hamburg. Ada-Verena Gass beschäftigt sich intensiv mit dem plattdeutschen Werk der Mutter von Wolfgang Borchert. Im Mai gibt sie eine Lesung.

Wolfgang Borchert wurde durch sein Kriegsheimkehrerdrama „Draußen vor der Tür“ weltberühmt. Er starb 1947 an den Folgen einer Lebererkrankung. Die 14 Appelle („Sag nein!“), die der Eppendorfer kurz vor seinem Tod niederschrieb und „Dann gibt es nur eins!“ betitelte, wurden zum vielzitierten Motto der Friedensbewegung.

Der Schriftsteller wäre am 20. Mai 100 Jahre alt geworden. Seine Mutter, Hertha Borchert, wurde in Altengamme geboren und wuchs in Kirchwerder auf. Sie war ebenfalls Schriftstellerin, schrieb Erzählungen und den Roman „Barber Wulfen“ in niederdeutscher Sprache. „Ohne seine schreibende Mutter wäre Wolfgang Borchert vielleicht nie Schriftsteller geworden“, sagt Ada-Verena Gass.

Die 76-Jährige hat sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte ausgiebig mit der Familie Borchert beschäftigt. Am Sonnabend, 8. Mai, berichtet sie im Winsener Heimatmuseum 90 Minuten lang über die Geschichte der bedeutenden Familie, „mit O-Tönen aus den Aufzeichnungen von Hertha Borchert“. Das Plattdeutsch von Hertha Borchert sei schwer zu lesen und zu verstehen, enthalte auch alte Vierländer Wörter, die heute kaum noch jemand kenne. „Deshalb übersetze ich es in leichter verständliches Platt.“

Wolfgang Borchert und Mutter Hertha: Parallelen hervorheben

Ada-Verena Gass wird Parallelen in den Werken von Mutter und Sohn hervorheben, Auszüge aus Werken von beiden vortragen. „Mir geht es um den Einfluss von Herthas Plattdeutsch auf Wolfgangs Werk – seine Formen und Redewendungen, seine Klarheit, Authentizität und Emotionalität“, sagt sie. In einigen Texten des berühmten Sohnes gebe es „große Ähnlichkeit im Ausdruck der Empathie“. Seine Werksprache müsse mit der Erziehung durch seine Mutter zusammenhängen: „Sie fing an, zu schreiben, als Wolfgang sechs Jahre alt war. Er las gern ihre Geschichten.“

Ada-Verena Gass forschte in Archiven nach Texten von Hertha Borchert, las deren Bücher und alte Artikel aus Hamburger Zeitungen, in denen Borcherts plattdeutsche Kurzgeschichten veröffentlicht wurden. Auch die unveröffentlichte Biografie „Vergangenes Leben“ (1968-1970), die sich in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg befindet, ist der 76-Jährigen bekannt.

Hertha Borchert und die "Invasion der Wollhandkrabben"

Sie lebt am Kirchwerder Elbdeich, „im Einzugsbereich der Erzählungen“, sagt Ada-Verena Gass. Sie ist von den Geschichten fasziniert: „In dem Band ,Wullhandkrabben un anner Geschichten’ geht es etwa um die Invasion der Wollhandkrabben, die vor rund 100 Jahren aus China nach Kirchwerder kamen.“

Seit 1990 lebt die Journalistin und frühere NDR-Radiomoderatorin in den Vierlanden. In dem Laden von Magda Lahann am Süderquerweg kam sie erstmals mit Hertha Borcherts Werk in Berührung, entdeckte sie „Barber Wulfen“ und den „Wullhandkrabben“-Band. Seitdem ist die Journalistin von Hertha Borchert und deren Werk fasziniert. „Bei ihr geht es vor allem um Kirchwerder und um die Vierlande“, sagt sie. „Ich war damals von meiner neuen Heimat angetan und hielt plötzlich diese Bücher von einer Autorin aus den Vierlanden in der Hand. Das passte natürlich.“

Hertha Borcherts Geschichten sind Zeitdokumente

Ada-Verena Gass möchte, dass die alten Beschreibungen der Vierlande nicht in Vergessenheit geraten. Es gehe weniger um Brauchtümer, betont sie: „Ihre Figuren werden in allen Facetten beschrieben. Wahrscheinlich haben sie tatsächlich existiert und wurden von Hertha Borchert nur anders benannt. Auch die Geschichten basieren vermutlich auf wahren Begebenheiten.“ Die Empfindungen der Menschen würden wie in moderner Literatur geschildert. Für Ada-Verena Gass sind die plattdeutschen Geschichten „Zeitdokumente, exakte Beschreibungen der damaligen Welt – der Welt, wie sie sich in den Vierlanden widergespiegelt hat“.

Hertha Borchert wurde 1895 geboren und starb 1985. Ihr Vater leitete die Schule Kirchwerder bei der Kirche (heutige Stadtteilschule). Ihr späterer Ehemann Fritz Borchert arbeitete dort als junger Lehrer. Das Paar heiratete 1914 und Hertha Borchert folgte ihrem Mann nach Eppendorf. „Dorthin war er als Lehrer von Kirchwerder aus versetzt worden. Herthas Vater wollte bei dem unverheirateten Paar klare Verhältnisse schaffen.“ Sonst wäre Wolfgang Borchert, der 1921 das Licht der Welt erblickte und als einer der bedeutendsten Schriftsteller der sogenannten „Trümmerlitaratur“ gilt, womöglich ein Vierländer Jung geworden.

Hertha Borcherts erste Lesung im Eppendorfer Volksheim

Dass sie als junge Frau keine humanistische Bildung erfahren hatte und nur einen Volksschulabschluss vorweisen konnte, habe Hertha Borchert beschäftigt, sagt Ada-Verena Gass. Sohn Wolfgang wuchs wiederum in Künstlerkreisen auf, in die ein Freund ihres Mannes das junge Paar einbezog. Durch Ehemann Fritz lernte sie die Klassiker der Literatur kennen. „Ihre erste Lesung hatte sie im Eppendorfer Volksheim, heute Alma Hoppes Lustspielhaus.“

Ada-Verena Gass lebte von 1990 bis 2002 in einer Dachwohnung auf Hof Eggers in der Ohe. „Hertha Borchert soll auch einmal auf dem Hof gewesen sein. Das habe ich damals, als ich dort wohnte, aber noch nicht gewusst, sondern erst Jahre später von Altbauer Georg Eggers erfahren.“

Die Lesung im Museum im Marstall in Winsen (Schloßplatz 11) geht am 8. Mai um 16.30 Uhr los. Weitere Infos gibt es im Internet unter www.hum-winsen.de und per Telefon: 04171/34 19.