Bergedorf. Spurensuche in Bergedorfs jüngstem Stadtteil: Existenzängste, Putin-Versteher und ein besonders präsenter AfD-Politiker.
- Familien aus ehemaliger Sowjetunion kommen in den 80er- und 90er-Jahren nach Neuallermöhe
- Putins Angriffskrieg auf die Ukraine teilt viele Familien in Befürworter und Gegner
- Größte Sorge vieler Neuallermöher ist die wachsende Kriminalität in ihrem Stadtteil
Aus der Kita am Fleetplatz in Neuallermöhe werden gerade die ersten Kinder abgeholt und laufen nun um die bunten „Zuckerstangen“ herum, dieses markante Kunstwerk in der Platzmitte. Schülergruppen pilgern Richtung S-Bahn-Station oder zum Edeka-Markt. Die Mehrfamilienhäuser hinter dem Platz stehen direkt an Fleeten und zwischen vielen Bäumen. In den ersten Tagen nach der Europa- und Bezirkswahl zeigt sich Bergedorfs jüngster Stadtteil freundlich und vielfältig. Doch seit eben jener Wahl gilt er auch als AfD-Hochburg. Was ist hier passiert? Eine Spurensuche.
Mit dem Slogan „Wohnen am Wasser“ wurden die Menschen in den 80er- und 90er-Jahren für Neuallermöhe begeistert. Vor allem viele Familien aus der ehemaligen Sowjetunion versuchten hier seinerzeit einen Neuanfang. Das verpasste dem Stadtteil damals den Spitznamen „Klein-Moskau“. Heute wohnen hier Menschen aus 30 Nationen, darunter so viele Familien mit Kindern wie sonst nirgendwo in ganz Hamburg. Doch ausgerechnet Neuallermöhe hat bei den Wahlen vom vergangenen Wochenende den Stempel der Ausländerfeindlichkeit aufgedrückt bekommen.
Europawahl in Hamburg: Neuallermöhe ist plötzlich AfD-Hochburg
Es gibt eine Karte von Hamburg, über die zurzeit viele Menschen reden. Sie zeigt die Ergebnisse der Europawahl in der Hansestadt, jeder Stadtteil ist gemäß der dort stärksten Partei eingefärbt. Viel Grün gibt es im Zentrum der Stadt, ein bisschen Rot, dazu Schwarz an den Rändern. Und einen blauen Fleck: Neuallermöhe im Bezirk Bergedorf. Es ist der einzige Stadtteil in Hamburg, in dem die AfD den Sieg davongetragen hat. Mit 20,9 Prozent. Bei der gleichzeitigen Bezirkswahl hat es zwar nicht zum Spitzenplatz gereicht, die SPD war stärker. Doch die AfD landete auf dem zweiten Platz, und das mit sogar 23,2 Prozent der Stimmen.
Warum ist das so? Neuallermöhe ist ein junger Stadtteil. Nur 13,3 Prozent der Bevölkerung sind laut den Hamburger Stadtteilprofilen des Statistikamts Nord älter als 65 Jahre. Neuallermöhe ist ein multikultureller Stadtteil. 65,9 Prozent der Bevölkerung haben einen Migrationshintergrund. All das sind Gründe, die eigentlich ein Wahlergebnis links der Mitte erwarten lassen. Und tatsächlich: Bei der Europawahl im Jahr 2019 war die SPD mit 22,3 Prozent stärkste Kraft, die Grünen schafften es seinerzeit auf 22,1 Prozent und gewannen ausgerechnet jene Wahllokale in Neuallermöhe-West, die jetzt fest in der Hand der AfD sind. Von grün zu blau.
AfD-Politiker Eugen Seiler holt 8936 Stimmen Wähler – das mit Abstand beste Ergebnis aller Kandidaten
Ein besonderes Schlaglicht auf den Rechtsruck wirft die Personalie Eugen Seiler. Der 40-Jährige erzielte das mit Abstand beste Ergebnis aller Kandidaten, die sich in ganz Bergedorf für einen Sitz in der Bezirksversammlung beworben hatten. Mit 8936 Stimmen zog er als einer von vier Neuallermöher Direktkandidaten ins neue Bezirksparlament ein. Und das, obwohl er in den vergangenen fünf Jahren zwar in der Bezirksversammlung saß, aber praktisch nie das Wort ergriff. Wortgewaltige Politiker wie Jörg Froh (CDU), Lenka Brodbeck (Grüne) und Katja Kramer (SPD) brachten es dagegen nur auf rund 6000 Stimmen – wie manch anderer der Bergedorfer AfD-Bewerber.
Allerdings kokettierte Seiler, der als Strippenzieher im Hintergrund seiner Fraktion gilt, häufig mit seiner kasachischen Herkunft. Und er zieht häufig mit der Handykamera durch Neuallermöhe, ist in den sozialen Medien sehr präsent. Das scheint im Stadtteil zu wirken, ihn zu einer Art Stimme der Menschen, ihrer Ängste und Sorgen zu machen. Auch wenn die AfD keine Lösungen bietet, war Eugen Seiler so offenbar für viele Menschen in seinem Stadtteil und darüber hinaus in ganz Bergedorf wählbar.
Forscher: Flüchtlingswelle macht Russlanddeutsche anfällig für Thesen von Rechtsaußen
Tatsächlich gibt es eine These, die sich auf den Spitznamen „Klein-Moskau“ bezieht. Denn russischstämmige Menschen, vor allem russland-deutsche Spätaussiedler, werden seit Jahren intensiv von der AfD umworben. Lange galten die Aussiedler als treue Stammwähler der CDU. Wegen der christlichen Werte, einer konservativen Grundhaltung und aus Dankbarkeit zu Bundeskanzler Helmut Kohl, der vielen als Türöffner für die Einwanderung nach Deutschland galt.
Doch steigende Zahlen von Geflüchteten im Jahr 2015 brachten die enge Verbindung zwischen Spätaussiedlern und Christdemokraten ins Wanken. In einer Fokusgruppenstudie aus dem Jahr 2017 des Duisburger Politikwissenschaftlers Achim Goerres äußern viele der befragten Russlanddeutschen Zweifel, ob die Partei von Angela Merkel noch die richtige für sie sei. Das verbreitete Gefühl: Während die Spätaussiedler trotz ihrer deutschen Wurzeln jahrelang auf die Einreise warten mussten, wurden die Geflüchteten im Jahr 2015 „einfach durchgewunken“.
„Es gibt das Gefühl, dass den Migranten heute der rote Teppich ausgerollt wird“
„Das hat etwas mit vielen Russlanddeutschen gemacht, bei manchen herrschte damals das Gefühl vor, dass den anderen Migranten der rote Teppich ausgerollt wird“, berichtet auch Oxana Li, Vorsitzende des Hamburger Vereins der Deutschen aus Russland, der in Neuallermöhe seine Ursprünge und bis heute viele Mitglieder hat. „Mit diesen Gefühlen spielt die AfD“, weiß Li, die sich im Namen ihres Vereins gerade deshalb auch scharf von der rechten Partei distanziert.
Tatsächlich deutete das Wahlverhalten der Russlanddeutschen bis zum vergangenen Sonntag keinesfalls auf einen durchschlagenden Erfolg der AfD hin. Bei der Bundestagswahl 2017 erhielt die AfD laut Forscher Achim Goerres 15 Prozent der Stimmen aus der russland-deutschen Community, bundesweit waren es 12,6 Prozent. Und beim Urnengang 2021? Da stimmten laut einer Befragung von Goerres in Duisburg 30 Prozent der befragten Spätaussiedler für die SPD und 28 Prozent für die Grünen. Die AfD landete bei sechs Prozent der Stimmen. Das Ende der Treue zur CDU führte die Russlanddeutschen also keineswegs direkt in die Arme der AfD.
Putins Angriffskrieg auf die Ukraine teilt viele Familien in Befürworter und Gegner
Allerdings: Wie der Soziologe Igor Eidman und der Historiker Jannis Panagiotidis 2019 gegenüber der Deutschen Welle betonten, hat das dichte Zusammenleben mit anderen Menschen mit der gleichen Migrationserfahrung möglicherweise einen Einfluss auf das Wahlverhalten. Wo viele Russlanddeutsche zusammenleben, wird mehr russisches Fernsehen geschaut und werden andere russische Medien konsumiert.
Die Frage nach dem Verhältnis zur alten Heimat vieler Spätaussiedler ist seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine zum Reizthema geworden. Während gerade die Grünen für eine eindeutig pro-ukrainische Politik stehen, plädiert die AfD für eine Annäherung an Putins Regime. „Das russische Fernsehen hat unglaublich viel Hass verbreitet“, sagt auch Oxana Li, die Trennlinie der Befürworter und Gegner verlaufe oft mitten durch die Familien.
Größte Sorge vieler Neuallermöher: die wachsende Kriminalität in ihrem Stadtteil
Die Vereinsvorsitzende glaubt aber nicht, dass sich die Spätaussiedler massenhaft auf die Seite Putins geschlagen und sich deshalb auch der AfD angenähert haben. Schon allein, weil viele der Menschen Wurzeln in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken wie Kasachstan und auch der Ukraine haben. Eine Dimap-Studie von 2023 unter russischstämmigen Menschen in Deutschland ergab, dass nur sechs Prozent angaben, ihr Bild von Putin habe sich durch die Invasion „sehr positiv“ entwickelt. 43 Prozent nannten ihr Bild vom russischen Präsidenten nach Kriegsbeginn dagegen „sehr negativ.“
Tatsächlich spielt in Neuallermöhe eher die Angst vor immer mehr Flüchtlingen eine große Rolle, wie unser Besuch vor Ort zeigt: Viele hätten Angst, dass es hier „immer krimineller wird“, sagt eine Mutter, die samt Kind und Kinderwagen vor dem einsetzenden Regen unter einem Vordach Schutz gesucht hat. Die 29-Jährige ist vor zwei Jahren nach Neuallermöhe gezogen und findet es hier schön für Familien. Die jüngsten Wahlergebnisse kann sie sich nur so erklären, dass die Menschen nicht wüssten, was die AfD „sonst so macht“, überlegt sie und resümiert: „Wenn die AfD in Zukunft noch mehr Stimmen bekäme, wäre vielleicht das Ausländerproblem gelöst, aber es gäbe ganz viele andere Probleme.“
Wirtschaftliche Lage vieler Neuallermöher verschlechtert sich und sorgt für Existenzängste
Er sei „immer vorsichtig mit Nazis“ gewesen, erzählt ein Bewohner von Neuallermöhe-Ost, der aus Polen stammt. „Und auch vorsichtig mit Rot“, ergänzt er – und möchte seinen Namen nicht in der Zeitung lesen, wie so viele Menschen hier im Quartier. Die Wahl vom Sonntag interpretiert er als Strafe für die Politik. Auch er sei unzufrieden mit ihrer offenen Haltung zur Zuwanderung. „Als wir damals herkamen, haben wir uns nicht zurückgelehnt, sondern die Ärmel hochgekrempelt“, sagt der 75-Jährige. Er führte einen kleinen Taxibetrieb und ging erst Ende 2021 in den Ruhestand. Aber nicht alle würden so brav ihre Steuern zahlen: „Die Ausländer sollen mit uns leben, aber sie sollen auch arbeiten.“
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Seit 2015 hätten sich aber seine Lebensumstände nur verschlechtert. Vor allem die Miete werde seit Jahren immer teuer. „Wer kann das noch bezahlen?“, fragt der Rentner, der vor 45 Jahren mit Frau und Baby nach Deutschland kam. Tatsächlich schlug Ina Achilles, Geschäftsführerin des Vereins Sprungbrett, der in Neuallermöhe das Nachbarschaftszentrum KulturA betreibt, gerade erst vor wenigen Wochen Alarm. Immer mehr Familien im Stadtteil wüssten nicht mehr, wie sie den Monat überstehen sollten. Anstatt Erziehungsberatung zu leisten, müssten ihre Mitarbeiterinnen für viele Neuallermöher heute Wege aus der existenziellen Not finden.
Vielleicht entsteht daraus auch das Gefühl einer wachsenden Kriminalität im Stadtteil, das etwa Oliver Grimm beschreibt. Der Mitarbeiter im Team Elbe-Werkstätten am Rahel-Varnhagen-Weg will aber nicht nur kritisieren. Er denkt lieber über Lösungen für den Stadtteil nach. Grimm wohnt eine S-Bahn-Station entfernt am Mittleren Landweg, kommt gern zum Einkaufen nach Neuallermöhe. Der 48-Jährige meint, „ein bisschen mehr Präsenz durch die Polizei oder einen Sicherheitsdienst“ würde der Gegend guttun. Das belege ein Blick auf die westliche Seite des Fleetplatzes an der S-Bahn-Station Allermöhe. In der Haspa-Filiale wurde vor einigen Tagen der SB-Bereich samt Geldautomaten verwüstet. Noch immer ist die eingeschlagene Fensterscheibe nur provisorisch überklebt.