Bergedorf. 1968 revoltieren die Studenten. Und ein Bundestagskandidat namens Helmut Schmidt schreibt ihnen einen Leserbrief in der bz.
Es ist das Jahr der Empörung und des Aufbegehrens. Ein Jahr der Superlative samt Studenten-Revolten, gefährlichen Schüssen, dem Ruf nach politischer Mitbestimmung und der entfesselten Lust auf „freie Liebe“: Längst sind „die 68-er“ zu einem Synonym geworden für ein Lechzen nach Freiheit und Selbstbestimmung, das ganze Generationen geprägt hat – bis heute, wenn es um den Widerstand gegen konservative, autoritäre Strukturen geht.
„US-Bomber schmeißen Napalm-Bomben auf Vietnam“, lautet eine Schlagzeile in der Bergedorfer Zeitung, gefolgt von Berichten über verhungernde Kinder im Biafra-Krieg, von Rassenunruhen in den USA. Das Jahr 1968 wird erschüttert von dramatischen Ereignissen wie der Ermordung von Che Guevara, Martin Luther King und Robert Kennedy.
Die frisch gegründete Bergedorfer APO kämpft gegen den Kapitalismus
Auch das Attentat in New York auf Künstler Andy Warhol und die drei Schüsse auf Studentenführer Rudi Dutschke (verübt am Gründonnerstag auf dem Berliner Kurfürstendamm) sollen brisante Folgen haben – so auch in Bergedorf, wo sich im Frühjahr mehr als 50 junge Gewerkschafter, Schüler und Studenten zur berüchtigten Außerparlamentarischen Opposition, kurz APO Bergedorf, zusammenschließen. Ihr Markenzeichen: freche Flugblätter, sozialistische Parolen, gern auch auf Häuserfassaden – und das Sprengen politischer Auftritte der etablierten Parteien, die sich in ihren Augen alle komplett dem Kapitalismus anbiedern.
Für den 9. Februar 1968 kündigt der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) eine Kundgebung auf der Moorweide an – mit Rudi Dutschke als Hauptredner. Es geht um Proteste gegen die Reformblockaden, gegen die geplante Notstandsverfassung und gegen den Vietnam-Krieg. Beim anschließenden Umzug zum Verlagshaus Axel Springer versuchen Demonstranten, durch Sitzstreiks und Steinwürfe die Auslieferung von Zeitungen zu verhindern. Innensenator Heinz Ruhnau (SPD) hat die Polizisten angewiesen, sich nicht provozieren zu lassen, sondern besonnen zu reagieren.
Doch spätestens bei den folgenden Oster-Unruhen nehmen die Ausschreitungen ein nicht gekanntes Ausmaß an, das in den Krawallen am Karfreitag gipfelt: Am Abend ziehen von der Moorweide rund 2000 Demonstranten mit roten Fahnen, Knallfröschen und Farbtüten zum Springer-Verlagshaus, wo sich aus der Belagerung eine Straßenschlacht entwickelt, auf die Hamburgs Polizei mit Gummiknüppeln und Wasserwerfern reagiert.
Polizei zeigt Demo-Filme in der Hansaschule
Ende November dann zeigt die Polizei ihre Filmaufnahmen von den Demonstrationen öffentlich in der Bergedorfer Hansaschule. Angesichts des geschnittenen Materials sagt ein Schüler: „Das hat doch keinen Sinn, wir kriegen doch nur automatische Antworten. Dann könnten wir ebensogut den Polizeikasper holen.“
Darüber berichtet auch die Bergedorfer Zeitung, die „das Informationsmedium vor Ort war“, erinnert Arne Andersen in seinem Buch „Die Bergedorfer APO. Politischer Protest in der Hamburger Provinz“. Inhaltlich habe sich die Zeitung „zu einem liberalen Sprachrohr entwickelt, das mit Neugier und Offenheit“ über die 68er-Bewegung und die APO Bergedorf berichtet – und zahlreiche Presseerklärungen der Protestler abdruckt – bis hin zu der Überschrift „Ohne Provokation geht es nicht“ am 11. März 1968.
Dabei geht es nirgendwo zimperlich zu, auch nicht beim SPD-Parteitag in Nürnberg: „Bundesminister Wehner verlor bei schweren Tumulten einen Zahn, seine Tabakpfeife und die Brille“, schreiben die Beobachter.
Schon im März gründet sich in Bergedorf der „Politische Arbeitskreis Junger Gewerkschafter“. Zunächst trifft sich die linke Szene samt Hansa- und Luisenschülern 14-tägig im Gewerkschaftshaus, um über die „Mitbestimmung der Arbeitnehmer“ oder auch über die Notstandsgesetze zu diskutieren. Stets mit dabei: Der Kommunist Peter Thormälen und das Bergedorfer SDS-Mitglied Alfred Dreckmann. Um Argumente und Taktik zu besprechen, gründen die beiden im Sommer 1968 das „Demokratischen Zentrum“, eingemietet für monatlich 100 Mark in der ehemaligen Neuengammer Schule bei der Schiefen Brücke am Kirchwerder Landweg. Bei den montäglichen Vollversammlungen geht es in Referaten um das „spätkapitalistische System“, um die „formierte Gesellschaft“ und die „liberale Opposition“.
Auftritte von Helmut Schmidt und Rainer Barzel im Visier
Es folgen zahlreiche Auftritte von Politikern, die die Wut der jungen Bergedorfer zu spüren bekommen. Etwa Helmut Schmidt, der von der SPD zum Bundestagskandidaten für den Wahlkreis Bergedorf nominiert wird und am 14. Juni im Holstenhof spricht. Mit seinem Hinweis „Entscheidungen in einer Demokratie dauern eben länger, als Ihr Bart wächst“ tritt er den Aktivisten entgegen. So auch am 18. Oktober im Bergedorfer Lichtwarkhaus, wo Schmidt sagt: „Ich gestehe Ihnen ausdrücklich das Recht zu, provozieren zu wollen – aber dann müssen Sie nicht den Zorn derjenigen provozieren, die Sie überzeugen wollen, sondern deren Nachdenken.“
Zu einem Tumult samt zerbrochener Scheibe kommt es gar am 8. Oktober, als es Protestlern gelingt, den Auftritt des CDU-Fraktionschefs im Bundestag, Rainer Barzel, in Schröders Hotel in Schwarzenbek zu stoppen. Es kommen – teils im Kultauto, der „Ente“ – gut 200 Aktivisten, darunter Mitglieder vom „Aktionszentrum Unabhängiger und Sozialistischer Schüler“ (AUSS), das sich als Untergruppe der Bergedorfer APO gegründet hat, um gemeinsam das Kommunistische Manifest zu lesen. Für den Protest in Schwarzenbek werben sie mit Flugblättern und dem Hinweis, der führende Politiker sei gegen Lohnerhöhungen, verdiene aber das Siebenfache eines Normalverdieners. Als Rainer Barzel schließlich seine Rede unterbrechen muss, stürmen die Aktivisten den Saal und diskutieren über den Sozialismus.
„Die APO ist kein Radauverein“
Während anschließend in der Bergedorer Zeitung die Rede von einer „kurzen Schlägerei der jugendlichen Heißsporne“ ist, betont hernach ein Leserbriefschreiber: „Die APO ist kein Radauverein und will keine Gewalt, jedenfalls nicht die Mehrzahl der Bergedorfer APO.“ Dem antwortet Helmut Schmidt wiederum mit einem Leserbrief vom 26. Oktober: „Dass die Mehrzahl der APO in Bergedorf keine Gewalt will, hat mich angenehm berührt“, schreibt er „mit vorzüglicher Hochachtung“.
Verwaltung zieht Genehmigung für NPD-Abend im Lichtwarkhaus zurück
Beeindruckt hat das Geschehen in Schwarzenbek offenbar auch Bergedorfs Verwaltung: Die hatte für den 29. Oktober bereits einen NPD-Abend im städtischen Lichtwarkhaus genehmigt. Als die APO ein Flugblatt zur Nazi-Nähe der Partei verteilt und „deutliche Aktionen“ ankündigt (in Lohbrügge protestieren bereits Hakenkreuzschmierer und Plakartabreißer), wird die Genehmigung „wegen Baufälligkeit des Saals“ zurückgezogen. Im November 1968 sodann will das Bundesinnenministerium die NPD verbieten und betont deren Verfassungswidrigkkeit.
Nur sechs Tage zuvor hat im Spiegelsaal des Bergedorfer Rathauses der Bezirksgeschäftsführer der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG) bei einer Feierstunde deutliche Worte gefunden, die eine andere Sprache sprechen: Nicht „die Langmähnigen, Gammelnden oder Protest-Profis“ seien die Jugend, sondern „leistungsorientierte und vorwärtsstrebende Jungen und Mädchen sind unsere Zukunft“.
In Neuengamme bekommt die APO unterdessen Nachbarn: Ein Teil der alten Schule wird im November 1968 Sitz der Verkehrsstaffel der Bergedorfer Polizei. Doch das Miteinander hier funktioniert gut – auch wenn beide Seiten bei APO-Aktionen immer mal wieder aufeinandertreffen. Die Stimmung kippt dann aber doch zum Jahresende: Mitte November werden an der Ernst-Mantius-Straße Polizeiwagen in Brand gesteckt. Sofort wird die APO verdächtigt und ihr Mitglied Walter Simon festgenommen. Er kommt zwar kurz darauf wieder frei, der Verdacht ließ sich nicht erhärten. Aber von jetzt an sind die Fronten verhärtet.
Neuer Polizeipräsident ist ein Bergedorfer
Und vielleicht ist es ein Zufall, dass gerade erst am 30. Oktober Hamburgs neuer Polizeipräsident begrüßt worden ist: Günter Redding, der ehemalige Leiter des Landesamtes für Verfassungsschutz, lebt mit Frau und drei Kindern an der Chrysanderstraße in Bergedorf. Über ihn ist zu lesen: „Er vertritt die Auffassung, daß der Bürger Vertrauen in die Sicherheitsorgane haben muß.“
Doch das Vertrauen ist nicht allzu groß. Gekämpft wird für eine demokratische Teilhabe, für die Rede- und Pressefreiheit. Das Jahr 1968 ist zur Chiffre für die Proteste gegen das Establishment geworden und die Forderung, sich endlich mit den Altlasten des NS-Regimes auseinandersetzen (Nicht zu vergessen: Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger, der beim CDU-Parteitag von einer jungen Frau geohrfeigt wird, war seit 1933 NSDAP-Mitglied).
Es gibt ausreichend Anlass zur Kritik, schließlich gilt noch 1968 eine verheiratete Frau nicht als geschäftsfähig, ist Vergewaltigung in der Ehe kein Straftatbestand (bis 1997). Dafür gilt der Paragraf 175, der Homosexualität kriminalisiert. Gekämpft wird zudem für Rede- und Pressefreiheit und eine demokratische Teilhabe.
Progressive Musik der Stones und Beatles
Von der gesellschaftlichen Um- und Aufbruchssituation bleibt auch die Literatur nicht unberührt. Autoren wie Hans Magnus Enzensberger, Peter Weiss oder Martin Walser wollen ihr Schreiben mit politischer Aktion verbinden. Vom Schreibtisch soll ein direkter Weg auf die Straße führen – und zurück. So auch im Musikgeschäft: Ihren Song „Sympathy for the Devil“ widmen die Rolling Stones dem ermordeten Robert Kennedy, während die Band Steppenwolf ihre Biker-Hymne „Born To Be Wild“ veröffentlicht. Die Beatles bringen 1968 zwei neue LPs auf einmal heraus, zu den neuen Titeln zählen „Sexie Sandie“, „Helter Skelter“ und „Back in the U.S.S.R“.
Weltweit beeindrucken die 32 Nationen im afrikanischen Sportrat, die gegen die Teilnahme von Südafrika an den Olympischen Spielen in Mexiko City protestieren – ein deutliches Zeichen gegen die Apartheitspolitik. Unterdessen wird aus Kapstadt eine Sensation gemeldet: „Ein Weißer erhielt das Herz eines Farbigen“, schreibt die Bergedorfer Zeitung am 3. Januar 1968 nach der dritten Herzverpflanzung in der Geschichte der Menschheit. Nach der fünfstündigen OP steht die Mehrheit der Deutschen indes dieser Medizintechnik noch skeptisch gegenüber, doch deutlich heißt es: „Unter der Haut gibt es keine Rassenfrage“.
Für gesellschaftliche Aufregung sorgt auch am 20. Oktober 1968 der griechische Reeder Aristoteles Onassis, der die 23 Jahre jüngere Jackie Kennedy heiratet, die Witwe des 1963 ermordeten amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy. Und nicht zuletzt Ende Dezember beglückwünscht alle Welt den US-Präsidenten Johnson und die drei Astronauten der Apollo 8 zum erfolgreichen Ende des historischen Flugs, der die Crew zunächst zwar noch nicht auf den Mond geführt hatte, aber immerhin schon um den Erdtrabanten herum.
Der Blick allein auf Deutschland bringt ebenso reichlich Schlagzeilen – allein am 2. April 1968, als in Frankfurt zwei Kaufhäuser in Brand gelegt werden. Unter den Tätern sind Andreas Baader und Gudrun Ensslin, die zu jeweils drei Jahren Zuchthaus verurteilt werden. Ihre Anschläge sind die Geburtsstunde der Roten Armee Fraktion (RAF).
Verwirrende Einführung der Mehrwertsteuer
Für „Wirrwarr und Ratlosigkeit“ vor allem unter Kaufleuten sorgt zudem die neue Mehrwertsteuer, die die bisherige Umsatzsteuer ablöst: Textilien werden günstiger angeboten, und auch die Schuhfabrikanten versprechen stabile Preise, während indes viele Gastwirte und Friseure zehn Prozent aufschlagen. Verbraucherverbände und Handelskammern beklagen „Preistreiberei“.
Auch der Polizei werden nunmehr feste Preise zugeschrieben: Das Bundesverkehrsministerium bereitet einen Katalog vor über die Höhe des Verwarngeldes für Verkehrssünder. Zeitgleich fordert der Deutsche Touring Automobil Club die Abschaffung aller Blut-Alkoholuntersuchungen: Nach neuesten medizinischen Erkenntnissen bestehe „kein Zusammenhang zur Fahrtauglichkeit“.
Im Mai startet nach sechs Jahren der Contergan-Prozess aufgrund von 3000 Anzeigen zu den schädlichen Nebenwirkungen des Schlafmittels. Die „größte Katastrophe in der Geschichte der Pharmazie“ wird einen langjährigen Gutachterstreit auslösen. Nicht zuletzt gibt es in ganz Deutschland turbulente Demonstrationen gegen die erhöhten Straßenbahn-Tarife. In Freiburg stürmen deshalb sogar Tausend Demonstranten den Gefängnishof, schreitet die Polizei mit Wasserwerfern ein.
Gastronomie im neuen Fernsehturm
Unterdessen wollen sich die Hamburger mit großen Bauvorhaben schmücken: 1,9 Millionen Mark bewilligt die Bürgerschaft für den Bau der Kongresshallen am Dammtorbahnhof. Gleich 50 Millionen Mark kostete der 204 Meter hohe Fernsehturm: Im April soll der Betrieb der Gaststätte im 25.000 Tonnen schweren Telemichel beginnen.
„Eine zweite Universität im Raum Harburg“ fordert die CDU in der Bürgerschaft, weil die Räume für Hamburgs 16.500 Studenten aus allen Nähten platzen. Die bleiben umtriebig und schaffen es im zweiten Anlauf, das Denkmal von Hermann von Wissmann zu stürzen, der zuletzt Gouverneur von „Deutsch-Ostafrika“ war. Diesmal lässt die Universitätsleitung die Statue in der Bergedorfer Sternwarte einlagern.
Politische Bemühungen verfolgt auch Hamburgs SPD, die ein Verbot der NPD durchsetzen will – „für das freie Leben in unserem Lande und für unser Ansehen in der Welt“. Allein auf Brüssel schauen derweil die Landwirte aus Schleswig-Holstein: Mit einer „Kartoffelschlacht“ sowie Demonstrationsfahrten mit Treckern und Mähdreschern protestieren gut 6000 Landwirte gegen die „ungerechte Agrarpolitik“ und fordern, dass in Brüssel die Getreidepreise erhöht werden, zugleich der Milcherzeugerpreis nicht gesenkt.
Für Kopfschütteln sorgt ein Gerichtsurteil. Denn ein Rahlstedter Lehrer wird wegen Unzucht mit einem Kind (13) zu neun Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt, nachdem er „der stillen Virginia“ in seiner Wohnung eine Mathe-Nachhilfestunde gegeben hatte. Der Vorsitzende der Jugendschutzkammer erklärt indes, der 51-jährige Otto S. könne „durch das modisch kurze Miniröckchen des Mädchens verführt worden sein“.
Das neue Repa-Kaufhaus am Bergedorfer Markt
Die meisten Schlagzeilen interessieren die Bergedorfer natürlich, wenn es um die Neuigkeiten ihrer Heimat geht: Mit der Einweihung der Gaststätte „Zum Stübchen“ freuen sich die Bewohner im Lohbrügger Neubaugebiet nun über ein komplettes Ladenzentrum am Rappoltweg. Wenige Tage später stürmen im Oktober Tausende das neue Kepa-Kaufhaus am Bergedorfer Markt, das in Beisein des Bergedorfer Blasorchesters eröffnet wird. Zuvor ist hier das langjährige Verlagsgebäude der Bergedorfer Zeitung abgerissen worden. Wenige Meter weiter wird 1968 der erste Auftakt für das Sachsentor als Fußgängerstraße gefeiert: Bergedorfs erste Einkaufsstraße zieht sich von Penndorf bis zum Iduna-Haus Hinterm Graben, wo nun Gehwegplatten verlegt werden.
Schon zum Jahresbeginn gibt es im Bergedorfer Rathaus eine besondere Feierstunde: 100 Jahre Hamburg-Bergedorf. Die Übernahme Bergedorfs in die Alleinverwaltung Hamburgs sei der „hoffentlich sinnvolle Beginn einer gedeihlichen Entwicklung gewesen“, sagt Bürgermeister Herbert Kurt Weichmann (SPD) und betont den „eigenständigen landschaftlichen und städtebaulichen Charakter“ Bergedorfs.
Zur Entwicklung der Vier- und Marschlande veröffentlicht Bergedorfs SPD 25 Leitsätze und will – mit Zeitschriften und Schallplatten – um mehr Frauen werben: Zu der aktiven 114 männlichen Parteimitgliedern kommen bloß 34 Frauen in den zehn Ortsdistrikten.
Immerhin aber 15.000 Bergedorfer DGB-Mitglieder feiern das 20-jährige Bestehen ihres Ortskartells unter anderem mit den Worten, dass „auch berechtigter Unmut über manche Entscheidungen der Großen Koalition die Gewerkschaftler nicht zu falschen Entscheidungen verleihen möchten“.
Mehr Langzüge am S-Bahnhof gefordert
Unterdessen kommt es immer wieder zu falschen Entscheidungen bei der Bergedorfer Verkehrspolitik: Jeden Donnerstag gibt es auf der Lohbrügger Seite morgens eine „Jagd auf die Plaketten“, denn nur 200 Parkplätze stehen den Pendlern zur Verfügung, die eine Wochen- oder Monatskarte haben und mit der S-Bahn nach Hamburg zur Arbeit fahren. Und da ist es eng: Im November fordern FDP und CDU in der Bergedorfer Bezirksversammlung, dass der Hamburger Verkehrsbund mehr Langzüge statt bloß Halbzüge einsetzt, damit man nicht „wie Heringe durch die Gegend gekarrt“ werde. Immerhin aber wird der Bergedorfer Bahnhof, der schon 1937 in Betrieb gegangen war, modernisiert und bekommt im Dezember nicht nur automatische Anzeiger, sondern auch den lang ersehnten Durchbruch zur Lohbrügger Seite.
Auf eine Erleichterung können sich die Autofahrer freuen, denn statt 1150 sollen es bald 5000 Parkplätze in Bergedorf geben: Fünf neue Parkhäuser sind laut Baudirektor Heinz Hagelsieper geplant, unter anderem 960 Plätze auf dem früheren HEW-Gelände am Vinhagenweg. Dabei bleibt das Autofahren gefährlich: Allein in sechs Monaten gab es bei 381 Unfällen in Bergedorf fünf Verkehrstote und 200 Verletzte.
Weit amüsanter sind 1968 die gesellschaftlichen Themen, wenn etwa das Prinzenpaar der Niederlande nach Friedrichsruh reist, um mit den von Bismarcks im Sachsenwald auf Hochwildjagd zu gehen. Vergnügen erhofft sich auch der gemeinnützige „Verein zur Förderung der Bade- und Freizeitanlage“ und legt Pläne vor für den Bau eines Schwimmbeckens im Grünen Zentrum. In der Nähe plant die „Aktion Kinderparadies“ ein „Parktantenhaus“ für 25.000 Mark, um den Spielplatz am Beensroaredder unter Aufsicht zu stellen. Auch neu: Der frisch gegründete „Fachverband Norddeutscher Hundepfleger“ möchte am Reetwerder eine Fachschule für Tierpfleger eröffnen.
Während die Erlöserkirche in Lohbrügge ernsthaft zu einem Gottesdienst mit dem Titel „Hippies contra Christen“ einlädt, hält manch ein bz-Leser es eher für einen Aprilscherz, dass Bezirksamtsleiter Wilhelm Lindemann im frisch aufgeforsteten Bergedorfer Gehölz ein Wildgatter für Rehe und Wildschweine einrichten möchte, zudem nahe der Luisenschule einen „Indianerspielplatz“. Bergedorfs Bürgerverein fordert, das Gehölz als Naturschutzgebiet auszuweisen. Der Waldspielplatz wird nun in die Sander Tannen nach Lohbrügge verlegt.
Das Allgemeine Krankenhaus Bergedorf braucht ein Schwesternwohnheim
Sorge bereitet den Bergedorfern indes ihr altes Krankenhaus auf dem Gojenberg: Die Bezirksversammlung appelliert an den Hamburger Senat, Haushaltsmittel für den Bau eines Schwesternwohnheims bereitzustellen. Zudem seien im AK Bergedorf die Betten von vielen Menschen blockiert, die eigentlich in ein Pflegeheim gehörten.
Andernorts wird schon kräftig gebaut, an der Reinbeker Bahnsenallee etwa wird ein 800 Quadratmeter großes Baugrundstückstück für 40.000 Mark angeboten, während ein Wohnhaus am Brookdeich mit 4000 Quadratmetern Gartenland für 85.000 Mark frei lieferbar ist. Unterdessen verklagt die Gemeinde Schönningstedt den Innenminister von Schleswig-Holstein „wegen Untätigkeit“: Wann endlich darf der 48 Hektar große Krabbenkamp endlich bebaut werden?
Doch es gibt schon jede Menge Richtfeste: Bergedorf sei jetzt „vollgebaut“, heißt es etwa auf der letzten Großbaustelle in Bergedorf-West, wo ein Richtkranz für 1901 Wohnungen gehisst wird. Zugleich feiert Lohbrügge-Nord den Bau von 48 Eigenheimen und 32 Altenwohnungen, entsteht an der Leuschnerstraße der „erste Minigolfplatz für Lohbrügge“. Auch ein bisschen Streit muss sein: Die Neue Heimat „wollte billig kaufen“, weil doch der Röpraredder vierspurig verbreitert werden soll: Für den benötigen Grund wurden 30 Mark den Quadratmeter geboten, wo doch laut Gutachtern der Grundstückswert schon bei 60 Mark liegt.
Während der Lohbrügger Markt gerade umgebaut und für den wegen der neuen Straßen leicht verlegten Wochenmarkt asphaltiert wird, wachsen erste Überlegungen zum Bau der neuen Bergedorfer Feuerwache, nachdem es an der Chrysanderstraße zu eng wird: Die neue Wache könne „auf dem freien Gelände am Schleusengraben zwischen Bergedorfer Straße und Stuhlrohrstraße errichtet werden“.
Heidi Kabel wünscht sich einen Bergedorfer Theatersaal
Auch der Bau der lange geplanten Fußgängerbrücke über die Bergedorfer Straße/B5 wird 1968 gefordert – sie soll vom Bahnhof bis zum neuen Postamt an der B5 führen. Gern eine weitere Baustelle würde die beliebte Ohnsorg-Schauspielerin Heidi Kabel sehen und sagt bei ihrem Besuch im Textilhaus Penndorf, das gerade eine Aufstockung für ein Café (mit 300 Sitzplätzen) plant: „Bergedorf braucht einen Theatersaal.“ Der war eigentlich am Lichtwarkhaus geplant, aber nach der Flutkatastrophe von 1962 aus Kostengründen eingespart worden.
Andere Schauspieler beenden einen Konkurrenzstreit und wollen ein „ausgegrabenes Hackebeilchen wieder eingegraben“: Die Hans-Sachs- und die neu gegründete Lohbrügger Bürgerbühne wollen künftig ihre Aufführungstermine absprechen und „ausgewogene Kontrastprogramme“ bieten.
VHS-Kursus „Was ist ein Computer?“
Trotz zahlreicher Amüsements sitzt das Geld längst nicht überall sehr locker, selbst nicht in der Gemeinde Aumühle, die über die neuen Tarife informiert: 40 Pfennige pro Kilowattstunde Licht und 30 Pfennige für Kraft – berechnet nach der Anzahl der bewohnten Räume. Dabei wird inzwischen viel Strom verbraucht, zumindest bei den modernen Menschen, die die neueste Technik nutzen wollen: Bergedorfs VHS bietet bereits eine Einführung in die maschinelle Datenverarbeitung an unter dem Titel „Was ist ein Computer?“ Unterdessen wird Bergedorf bekannt durch die Frage „Wird der Computer zum Hausarzt?“. Denn in unserem Bille-Städtchen kann die deutschlandweit erste Datenverarbeitungs-Anlage für Computer-Diagnostik in Betrieb genommen werden.
Was heutzutage ebenso kurios erscheint, sorgt 1968 für großen Stolz, etwa an der Alten Holstenstraße: Hier verkauft die Firma W. Delventhal seit 75 Jahren Naturdärme an die Fleischwaren-Industrie. Monatlich werden rund drei Millionen Meter Darm verkauft, sie könnten die Strecke von Bergedorf bis nach Bagdad verbinden. Die Entfernung würde der Volkswagen 1300 wohl nicht schaffen, den die Bergedorfer Zeitung beim Weihnachts-Preisausschreiben stiftet, im Wert von 5187 Mark. Gewonnen hat ihn Luise Ihlefeld, die im Bergedorfer Bahnhofskiosk Tabakwaren verkauft – und den Käfer an Ehemann und Sohn weitergibt: Sie selbst hat keinen Führerschein.
Weiteres Glück bescheren die Hauni-Werke und bauen für die Fernsehlotterie „Ein Platz an der Sonne“ die größte Lostrommel der Welt: Sie ist zehn Meter lang bei einem Durchmesser von 1,5 Metern und kann die Lose der gut 45 Millionen Teilnehmer verarbeiten.
„Menschenunwürdige Wohnung“ des Schulhausmeisters
Um Steuergelder sorgen sich unterdessen Bergedorfs Hansaschüler: Nachdem die Schülerzeitung „Wecker“ die „menschenunwürdige Wohnung unseres Hausmeisters“, das „mittelalterliche-Aula-Gestühl“ und die Investition von 30.000 Mark in eine Lautsprecheranlage der Hansaschule kritisiert hatte, verteidigt sich der Oberschulrat: Von dem Geld seien immerhin 75 Lautsprecher mit 53 Reglern gekauft worden, eine Vestärkerzentrale für das Pausensignal sowie ein „Schulfunk einschließlich Stromversorgung“.
Um Geld geht es auch beim Besuch des Hamburger Wirtschaftssenators (SPD), der im Bergedorfer Rathaus fordert, dass Spitzenverdiener mit einem Jahreseinkommen von über 200.000 Mark künftig eine höhere Einkommenssteuer bezahlen sollten.
Manch ein Spitzenverdiener wird auch im Bergedorfer Schloss erwartet: Aus Moskau, Paris, London und Prag kommen die Gäste des 29. Bergedorfer Gesprächskreises und unterhalten sich mit Kurt A. Körber über das Thema „Fördern Bündnissysteme die Sicherheit Europas?“
Die „freie Liebe“ auf der Leinwand
Zuletzt darf keinesfalls über das Jahr 1968 geschrieben werden, ohne die „freie Liebe“ zu erwähnen: Das Kino Kurbel in Bergdorf zeigt im Januar den Aufklärungsstreifen „Helga“, bei dem Wissenschaftler das Werden eines Kindes von der Zeugung bis zur Geburt erläutern – „unter Vermeidung jeglicher Anzüglichkeit in der präzisen Darstellung der körperlichen Funktionen von Mann und Frau“. Wenig später bewirbt das Kino den Film „Die Gespielinnen“, bei dem Claudia Cardinale ihre weibliche Verführungskunst beweist. Zudem kommt der zweite Teil des Oswalt-Kolle-Farbfilms „Das Wunder der Liebe“ mit dem Untertitel „Sexuelle Partnerschaft“ auf die Leinwand.
Unterdessen kündigt der Kultusminister von Schleswig-Holstein „Hilfe für die Lehrer“ an: Durch einen Erlass zur Sexualerziehung mögen sie Schülern ein „sachlich begründetes Wissen“ vermitteln. Das Thema ist ebenso Gesprächsstoff in Bergedorf, wo die Pädagogen zugleich das Für und Wider zur Einführung einer Gesamtschule erwägen.
Bund prüft „unzüchtige Schriften“
Bei aller „freien Liebe“ sei aufgepasst beim „Umgang mit dem anderen Geschlecht“. Das so betitelte Aufklärungs-Brevier wird 1968 von der Bonner „Pornographie-Abwehrstelle“ kritisiert: Die Schrift sei „jugendgefährdend, weil sie zur Unzucht verführt, den vorehelichen Geschlechtsverkehr empfiehlt, eine häufige Selbstbefriedigung propagiert und die Homosexualität bagatellisiert“, so die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften.
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Wenigstens ist die Hamburger Ärztekammer zufrieden mit der Einführung der Pille, denn „die Sexwelle hat auch ihre guten Seiten: Sie begräbt das Tabu über sexuelle Fragen“ und begünstige die Familienplanung, damit künftige Eltern ihre besten wirtschaftlichen Verhältnisse abwarten können. Zugleich jedoch, so eine Mahnung im Jahr 1968, habe durch die „Gruppensex-Moral“ die Zahl der Geschlechtskrankheiten zugenommen.